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Mauer, Sonne und Glasstücke

von SunnyPiet


Mauer, Sonne und Glasstücke

1.

Wahrscheinlich sind die Glasstücke und deren Spielereien mit der Sonne das, was mich davon abgehalten hat aus meiner Welt wieder herauszufinden.
Die Glasstücke lagen zuerst auf dem Boden verstreut, dann hat sie irgendjemand zur Seite gefegt (vielleicht ich), sodass sie jetzt in der Ecke der Mauer einen kleinen Haufen bilden. Die meisten sind klein, sodass ich etwas Schwierigkeiten habe eine einzelne mit Daumen und Zeigefinger aufzuheben. Andere sind etwas größer, fast wie verformte Murmeln. Wie dicke Glasscherben mit runden Kanten, abgeschliffen vom Meer. Nur dass diese, glaube ich, nie das Meer gesehen haben. Keines der Glasstücke ist scharf. Sie können mich nicht verletzen, was auch sehr schade wäre, da ich es liebe mit beiden Händen in den Haufen Glastücke zu greifen, um sie dann durch meine gespreizten Finger rieseln zu lassen. Scheint so, als ob sie mich anlächelten, während die Sonne auf ihnen hin und herspringt.
Ich kann mich an so viele Dinge nicht mehr erinnern, die früher waren. Nicht nur wer die Glasstücke an den Rand gefegt hat, sondern auch wie ich hier hergekommen bin. Darüber habe ich schon so oft nachgedacht, aber ohne wirklich eine Antwort wissen zu wollen. Warum auch? Ich fühle mich hier so wohl. Wo immer ich vorher war, wenn ich denn vorher irgendwo war, kann es nicht so schön gewesen sein. Denn ich vermisse es nicht, und wünsche mir nicht wo anders zu sein. Da wo es keine Glasstücke gibt, die mit der Sonne spielen. Warum sollte es dort schöner gewesen sein, wenn ich von dort weggegangen bin?
Hier sitze ich jetzt auf der kleinen Mauer, die in der Mitte eine Ecke bildet, in der sich die Glasstücke sammeln (Wahrscheinlich von mir selber dahin geschoben. Ich kann mich zwar nicht erinnern, aber wer sonst soll es denn gemacht haben, ich bin hier ja der Einzige).
Wenn ich die Mauer betrachte frage ich mich immer wieder wie alt sie wohl ist. An einigen Stellen sind Teile der roten Backsteine herausgebrochen. Die oberste Kante auf der ich sitze, auf der ich mich mit beiden Händen links und rechts abstütze, hat keinen richtigen Abschluss. Sie ist wohl einmal größer gewesen…höher. Vielleicht zwei Meter hoch? Jetzt ist sie so niedrig, dass ich mich aus dem Stehen darauf setzten kann und meine nackten Zehen eben den Boden berühren. Sodass mein großer Zeh in die Glasstücke eintauchen kann.
Sie kitzeln.
Ich muss lachen.
Von der Mauer kann ich rundherum schauen. Ich habe einen guten Ausblick auf die unendliche Weiten grauen Sands, der sich bis zum Horizont erstreckt. Soweit ich sehen kann.
Dahinter? Was ist dahinter?
Es ist mir egal, ich will es nicht wissen. Es kann unmöglich so schön sein wie hier.

2.

In der Sekunde, als Jay um die Ecke bog, aus der Einfahrt seines Hauses auf die Hauptstraße hinauf, hatte er plötzlich das dringende Gefühl gleich wieder am Straßenrand zu halten. Doch er zwang sich 50 Meter bis zur nächsten Kreuzung zu fahren, weil er nicht wollte, dass Lily das sah. Er wollte nicht, dass sie sehen konnte, wie scheiße es ihm jetzt ging.
Da wo die großen Brombeersträucher die Sicht von Haus auf die Straße versperrten, stand er nun in seinem dreckigen Kombi im Matsch des Straßenrandes und weinte. Er hatte seine Hände fest um das Lenkrad gefasst, legte jetzt seinen Kopf zwischen ihnen ab. Tränen liefen ihn über die Handrücken, was er aber nicht spürte.
Er spürte die Tränen nicht, denn er konnte nur an ihre Worte denken. An die Worte, die ihm seine Frau vor wenigen Minuten direkt ins Gesicht gesagt hatte.
> Ich kann nicht mehr mit dir zusammenleben, Jay, ich kann es nicht mehr ertragen. Ich liebe dich nicht mehr. <
Vor der Arbeit war er direkt nach Hause gefahren, erschöpft von zehn Stunden Bildschirme anstarren. Genervt. Müde. Ohne darüber nachzudenken hatte er die Haustür aufgeschlossen, die Tasche auf den Bodengeworfen, wie jeden Abend, wenn er kaputt das Haus betrat. Sie stand schon im Flur. Sie stand da, leicht an die Wand gelehnt, und alles an ihr schrie Abwehr und Unbehagen. Das sah er sofort. Wie sie ihre Arme vor dem Körper verschränkte, beklemmt auf den Boden sah. Und dann die geröteten Augen. Das hatte er bei ihr noch nie gesehen. Als ob eine fremde Frau vor ihr stand. Als ob sie ein fremdes Wesen gefressen und ersetzt hätte. Seine LIEBE gefressen und ersetzt hätte.
Und dann diese Worte...
Er hätte auf der Stelle sterben wollen.

Nach 20 Minuten waren seine Tränen getrocknet. Zumindest die auf seinen Wangen. Die Tränen, die man nicht sah, würden wohl auch niemals trocknen. Nach 30 Minuten erhob er das erste Mal wieder seinen Kopf vom Lenkrad und schaute aus dem staubigen Seitenfenster. Die Stelle seiner Stirn, die auf warmen Leder gelegen hatte, schmerzte leicht, genau wie seine Hände, die sich immer noch krampfhaft um das Lenkrad schlossen. Jays Blick, hätte ein Außenstehender meinen können, fixierte die mit Dornen bewachsenen Ranken der Büsche am Straßenrand. Jedoch war sein Blick ganz leer. Er schaute nichts an, er schaut durch alles hindurch und versuchte klar zu denken. Das gelang ihm nicht. Sein Kopf war voller schmerzhaftem Rauschen.
Nach 45 Minuten saß er immer noch da. Starrte ins Nichts. Sah nichts, war blockiert, seine Muskeln steinhart. Er kam einfach nicht weiter, schwebte in einer Art Wolke. Aber nicht auf die weiche schöne Art, sondern wie gefangen und zusammengedrängt.
Blockiert, steinhart. Steinhart, blockiert. Und immer noch dieses schmerzhafte Rauschen.

Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon da gesessen hatte, die Sonne war sichtlich gewandert, die Schatten hatten sich verändert. Sein Auto mit ihm auf dem Fahrersitz stand unberührt da, hilflos wie schon die vergangene dreiviertel Stunde. Jay musste irgendetwas machen, das war ihm absolut klar. Aber was? Er versuchte den Motor zu starten, den Schlüssel umzudrehen, hier aus dieser Wolke wieder heraus zu gelangen, die Welt sich wieder drehen zu lassen, dieses Rauschen aus dem Kopf zu bekommen.
Leicht taub waren seine Hände und sie zitterten. Nach dem vierten Versuch, nachdem ihm zweimal der Schlüssel aus den Fingern auf den Schoß und zweimal zwischen den Füßen auf den Boden gefallen war, bekam er ihn richtig zu fassen. Der Motor begann zu wimmern, etwas schwach und traurig, als ob er Jays Gefühle teilte.
Sein Auto fuhr endlos langsam, wie durch Schlamm. Jays erster Gedanke war, es müsste irgendwie kaputt sein, so schneckenartig wie sich die Umgebung an ihm vorbei drückte. Doch als er auf den Tacho schaute konnte er es gar nicht glauben, er fuhr 70. Er sah Bäume, am Straßenrand, die sich fast nicht bewegten, doch raste er fast schon. Das alles hätte ihm eigentlich Angst machen sollen, dachte er zumindest, aber er war so gelähmt, das es ihm vollkommen egal war. Wenn ihm jetzt ein LKW auf seiner Spur entgegengekommen wäre, stellte er sich in seinem trägen Hirn vor, wäre er nicht ausgewichen. Er hätte das Unausweichliche geschehen lassen. Sogar begrüßt.
Klares Denken war jetzt in diesem Moment in seinem Kopf nicht möglich. Das Fahren, das Schalten, es geschah ganz automatisch.
Nur sein Ziel hatte er klar vor Augen, es leuchtete in seinem Kopf, so dass alles andere, alles Vernünftige geblendet wurde. Dieses Ziel sollte er schneller erreichen, als es im klar war, nur einige Sekunden später, denn er fuhr mit fast 110 km/h auf eine Kurve zu. In für ihn stark verlangsamter Zeit, konnte Jay jetzt wieder alles scharf sehen. So kurz vor dem Ziel. Er sah die scharfe Kurve, und natürlich auch das Gebäude, das am Straßenrand ruhend, auf ihn zukam. Ihn fast anlächelte. Für einen kurzen Moment schien Mino eine Art Erleichterung zu fühlen, sogar so etwas wie Freude. Das Gebäude war ein älterer Bungalow mit roten Klinkern. Zur Straße hin wurde die Fassade durch eine große Fensterfront dominiert (wahrscheinlich das Schaufenster eines ehemaligen Ladens, dachte er sich). Das Glas des Schaufensters wirkte sehr altmodisch durch seine Verzierungen am Rand aus buntem Glas, rot, grün, blau. Die Sonne berührte mit ihren Strahlen die Klinker und ließ sie in einem Rubinrot erschienen. Noch mehr ließ sie das bunte Glas erleuchten. Es war das Schönste, und auch das Letzte, was Jay in dieser Welt je gesehen hatte.

3.

Wo immer ich vorher war, wenn ich denn vorher irgendwo war, kann es nicht so schön gewesen sein. Denn ich vermisse es nicht, und wünsche mir nicht wo anders zu sein. Da wo es keine Glasstücke gibt, die mit der Sonne spielen. Warum sollte es dort schöner gewesen sein, wenn ich von dort weggegangen bin?




copyright © by SunnyPiet. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.





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