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An einem Morgen im November

30.03.2020 09:00
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Es war ein ganz normaler Novembermorgen im ostbrandenburgischen Nirgendwo, in dem ich gut ein Jahr zuvor als Berliner Großstadtflüchtige „Asyl“ gefunden hatte. Wie an jedem Tag, wurde das Morgenprotokoll von mir abgespult.
Ich weckte nach dem Aufstehen meine Hunde und da die Beiden nicht mehr die Jüngsten waren, bedurften sie seit einiger Zeit der mehrfachen Aufforderung zum morgendlichen Auslüften im Garten. Auf die eigene Morgentoilette folgte das Frühstück in Form eines Kaffees, natürlich aus einem mit putzigen Sinnsprüchen bedruckten großen Behältnis, sowie 2 Hundekuchen für das aus dem Garten heimgekehrte Seniorenpaar.
Anschließend verabschiede ich mich von Ihnen mit den Worten: „Ihr habt´s gut, ihr könnt jetzt wieder faul herumliegen und ich darf für euch die Beute jagen gehen“. Da Vierbeiner die Ironie dieses neidvollen Vorwurfes, wie das meiste andere menschliche Geschwätz, nicht verstanden bzw. intelligenter Weise ignorieren, trotteten Sie von Dannen und ich verliess das kleine Bauernhaus in dem wir wohnten.
Die „Beute“ wartete übrigens auf mich in Form eines nicht weiter nennenswerten Gehaltes, erwirtschaftet als Buchhalterin und „Mädchen für Alles“ in dem schmuddeligen Büro eines arabischen Gebrauchtwagenhändlers (schon das ein veritabler Grund um sich umzubringen) in dem 60 Kilometer entfernt lauernden Moloch namens Berlin.

Es war an diesem Morgen nur mäßig kalt und nieselte leicht, als ich in meinen Wagen stieg. Den täglichen Fahrtweg nahm ich kaum noch bewusst wahr, freute mich aber darüber, dass ich in dem zu durchquerenden märkischen Wald an diesem Morgen weder Radarfallen, Frost oder herumlaufenden Wildtieren begegnet war, noch nervige Land-Jungmänner, die in Ihren Kampfwagen (vorwiegend aus der Produktion des Volkswagenkonzerns) hinter meinem Fahrzeugheck drängelten. Wie stressfrei kann das tägliche Pendeln zum Arbeitsplatz doch sein!

Eine halbe Stunde nach Fahrtantritt erreichte ich den Berliner Autobahnring. Als ich auf ihn einbiegen wollte bemerkte ich bei dem Versuch den Blinkhebel betätigen zu wollen, dass mein linker Arm nicht mehr meinen Befehlen folgte und stattdessen leblos zwischen Fahrertür und –sitz dienstunwillig herunterbaumelte. Nach dem auch der anschließende Versuch meinen linken Fuß zu bewegen ohne Rückmeldung blieb, wurde mir schnell klar, was gerade passierte. Doch dies erschreckte mich nicht und statt in Todesangst zu verfallen, dachte ich in einer Mischung aus Fatalismus und Galgenhumor nur: „Es ist also soweit“.

Statt auf die Autobahn abzubiegen, rollte ich mit dem Wagen gerade aus weiter. Da kein brauchbarer Seitenstreifen erkennbar war, hoffte ich -trotz der dämmernden Erkenntnis meines wohl baldigen Ablebens- noch bis zu einer nahe gelegenen Tankstelle zu gelangen, um nicht die morgendlichen Mitpendler mit einem mitten auf der Straße stehenden Autos am angestrebten Broterwerb zu hindern. Da mein Wagen über eine Getriebeautomatik verfügte, spielte die nicht mehr zur Verfügung stehende linke Körperhälfte beim Fahren und Halten eine eher untergeordnete Rolle und so gelang mir das Weiterfahren zur einer nahe gelegenen Tankstelle, bevor der gänzliche Kontrollverlust über Körper und damit Fahrzeug eintrat.

Seit Kindheitstagen war mir eine gewisse Todessehnsucht nicht fremd, doch ich hatte die Irrungen und Wirrungen des Erwachsenwerdens überstanden und war auch später nicht zerbrochen. Im Gegenteil, ich zog aus meinem gefühlten Anderssein meine Stärke. Als Getriebene lebte ich nur für die Zukunft ein Dasein im Zeitraffertempo. Auf der ewigen Suche nach einem imaginären Glück, viel gewagt, viel gewonnen und -da alles im Leben seinen Preis hat- auch viel verloren.
Das vielleicht etwas ausgelutscht klingende Sinnbild von einer Kerze, die von beiden Seiten brannte, beschreibt die rastlosen Jahre wohl am besten. Diese Kerze bzw. meine Lebensenergie schien nun aufgebraucht zu sein, denn ich war müde geworden und die Aussicht, endlich Ruhe zu finden, ohne Sehnsucht, Enttäuschung und Schmerz, wurde in den zurückliegenden Monaten immer verlockender für mich.

Beim Fahren hatte ich mir des Öfteren gedanklich schon einen netten Alleebaum ausgesucht, an dem ich als begeisterte Autofahrerin vorzeitig –aber „stilvoll-klassisch“- mein Dasein beenden konnte. Ein weißes Kreuz am Wegesrand, wie es für die schon genannten Land-Jungmänner von Ihren Hinterbliebenen aufgestellt wurde, nachdem sie die den Preis für ihre Tollkühnheit so oft mit dem frühen Ende auf der Straße bezahlt hatten, würde für mich wohl nicht aufgestellt werden, aber das wäre auch egal gewesen.
Da die Sache aber nicht ohne das Restrisiko des schwer verletzten Überlebens war, lebte ich bis dato noch immer, von der tief empfundenen Verantwortung gegenüber den beiden Senioren ganz zu schweigen. Außerdem tat mir der Baum leid, denn der starb bei so einem Zusammenstoß unverschuldet meist als zweiter, nur eben etwas langsamer.
Doch nun, wo ich das Gefühl hatte, dass es wohl in Kürze soweit sein würde, überkam mich ein schwacher aber instinktiver Überlebenswille.

Ich rollte auf den Parkplatz der Tankstelle und kramte mit der nicht gelähmten Hand mein Mobiltelefon aus meiner Handtasche hervor -wie nützlich, dass diese von mir im Grunde gehassten Dinger erfunden worden sind!
Ich tippte die Notrufnummer ein, doch als die Verbindung zustande gekommen war, bemerkte ich, dass meine Zunge es meinen linken Gliedmaßen gleich tat und ebenfalls gelähmt war. Etwas, was es doch wesentlich erschwerte mein Anliegen der Person am anderen Ende verständlich zu machen.
Nachdem ich meinen Zustand und meinen Standort in das Telefon geröchelt hatte, wartete ich auf das Eintreffen des Rettungswagens. Da noch immer bei Bewusstsein, nutzte ich die Zeit und rief Christine, die Frau des arabischen Autohändlers, an. Brabbelnd versuchte ich Ihr verständlich zu machen, was passiert war, dass ich wohl –heute- nicht mehr ins Büro kommen werde und dass sie sich mit meiner Nachbarin auf dem Dorf in Verbindung setzen soll, damit diese sich um meine Hunde kümmert.

Kurz darauf traf der Notarztwagen ein. Die Sanitäter zogen mich aus dem Wagen und damit aus der Urinpfütze, die ich auf dem Fahrersitz unfein hinterlassen hatte. In den Rettungswagen verfrachtet, bat ich einen der Sanitäter noch, dass er meinen Wagenschlüssel an der Tankstellenkasse abgeben soll, meine Kollegen wüssten Bescheid, worauf hin er sich sichtlich erstaunt an seine Kollegen wandte und sagte: „Stellt Euch vor, die Dame hat bis eben noch ihr Leben gemanagd.“

Nach diesen Worten begann ich mein Bewusstsein zu verlieren und mein letzter Gedanke war:

„Was für ein schöner Tod, er tut überhaupt nicht weh!“


editiert am 31.03.2020 07:03 melden

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