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ZEIT BIS MITTERNACHT

31.12.2022 22:36
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"Erfreulich wenige Knallköpfe da draußen zu hören heute.", murmelte sie tonlos vor sich hin, während sie den Ärmelrand ihres Pullovers zum dritten Mal in den letzten fünf Minuten ein Stückchen zurückschob, sodass er den Blick auf das Ziffernblatt der Armbanduhr frei gab - fast schien es ihr, als sträube er sich gegen ihre Unrast, ihre Anspannung, ihre Ungeduld.
In genau dreieinhalb Stunden würde sie sich hinaus in die feuchte, dunkle Kälte zwingen, ein letzes Mal.
Tausendmal hatte sie das in den vergangenen fünf Jahren getan, naja zumindest hunderte Male - anfangs beinahe täglich, und immer war es ihr dabei vorgekommen, als gingen sich diese immer gleichen Schritte ohne ihr Zutun: stets der selbe Weg, winters wie sommers, bei Regen, Mittagshitze oder kurz vor Mitternacht; mit leerem Blick vorbei an den Geschäften, den Wohnblöcken, den Rebstöcken, den Gräbern, den Zäunen und den Kleingartenhäusern dahinter, vorbei an den Joggern, Nordic Walkern, Radlern und Gassigehern - mit und ohne Hund - bis hinauf auf ein kleines Plateau, dessen Charme so spröde ausfiel, dass die dortigen Parkbänke so gut wie immer leer bleben.
Einmal noch. Wenn SIE heute nicht käme, würde sie nie kommen.
Auf den Tag genau heute war es fünf Jahre her, dass sie zum ersten Mal über diesen Ort gesprochen hatten - das heißt, SIE hatte davon gesprochen, ihn in der Silvesternacht aufgesucht zu haben, des freien Blicks auf etwaiges Feuerwerk wegen.
Sie hatte zwar dem Namen nach gewusst, dass es diesen Ort in ihrer Nähe gab, hatte sich aber nicht weiter für ihn interessiert, zumal ihr auch keinerlei Grund in den Sinn hatte kommen wollen, aus dem sie das hätte tun sollen.
Eigentümlich war nur, dass nun, da sie SIE hatte davon sprechen hören, etwas wie infantile Neugier in ihr aufzukeimen begann. Sie erinnerte sich noch gut daran, dass als Kind manche Worte - in Sonderheit Ortsbezeichnungen - seltsamer Weise eine Art phonetischer Magie verströmt hatten, regelrechten traumhaften Magnetismus: Venedig, Montevideo, Serengeti, Havanna, Orinoko... - und dieser steigerte sich, wie von Zauberhand, bei jeder Wiederholung des Wortes, als wäre jede kleinste Bewegung der Lippen und Zunge nicht etwa nur der simple Mechanismus der Laut-Erzeugung, sondern vielmehr die erste Regung in der Choreographie eines alten, machtvollen Beschwörungstanzes, der den gesamten Leib, ja die Seele erfasste und Energien entfesseln konnte, die sich jeder Fasslichkeit entzogen. Und nun schien da, mitten in den Pragmatismus ihres Erwachsenenlebens unversehens eine Lautkombination eingedrungen, die in ihrer bestrickenden Wirkunsweise dem ihr dergestalt Erinnerlichen potenziell um nichts nachstand. Allerdings musste sie sich- nach der ersten Reizüberflutungswelle wieder im adäquaten Egostate angekommen- halb beschämt, halb belustigt, eigestehen, dass es wohl weniger der phonetische Zauber dieser kantigen, harten Drei-Silben-Kombination war, die sie für Sekundebbruchteile rational ausgeknockt hatte, sondern schon eher so Einiges an jenem Wesen, das sie ihr gerade erstmalig - im wahrsten Sinne des Wortes- nahegebracht hatte:
dunkelbraune Augen in denen ein kluges, temperamentvolles, seltsamer Weise manchmal fast bernsteinfarbenes Strahlen lag, das zuweilen regelrecht aufblitze, und doch Ruhe, Besonnenheit und Wärme vermittelte,
dunkle, satte Klangfarben einer Stimme, die Witz und kräftiges Temperament ebenso treffelich fassten wie Empathie und eine - in der Hauptsache von einem bald scheuen, bald breiten Lächeln getragene- Mimik, die - ebenso wie die Gestik- von entwaffnender, ja geradezu seismographischer Kongruenz war.
Entwaffnend traf es auf den Punkt. So war es geblieben; monate- und jahrelang.
Und deshalb war sie jetzt nervös.
Vielleicht war ihre Hoffnung auf ein Wiedersehen an diesem Punkt genau so unbegründet wie maligne, schien sie doch, klar und deutlich eher einem unsinnigen Kitsch-Drehbuch Hollywoods (BBBB-Movie, wohlgemerkt) oder einem dieser Schmonzettenromane oder Dailysoaplesbenhandlungssträng e über 120 Folgen zu entstammen als der Realität. Wie wahrscheinlich war das schon? Und nur weil eine Frau mit den Wimpern klimert, den Kopf auf eindeutige Weise kokett zur Seite neigt und mit leicht laszivem Tonfall Sätze sagt wie:"Na, wer weiß, was in fünf Jahren ist...", bedeutete das in eben dieser REALITÄT - wenn auch, wie sie fand höchst bedauerlicher Weise - im Unterschied zur Lersbensoapopera eben noch lange nicht, dass... tja... Aber wenn doch? "Schwachsinn! Unsinn zum Quadrat!Ich mein', das glaubst du dir doch wohl selber nicht - jedenfalls nicht mit fast 40 und komplett nüchtern...und überhaupt!". unterbrach sie sich halblaut selbst in ihrer Grübelei.
Trotzdem würde sie gehen. Um sich selbst (ein für allemal) davon zu überzeugen, dass sie spann - sponn? spinnte?? Spätestens da hätte ihr langsam dämmern können, dass es mit ganz cool und totalst abgeklärt dorthin wandern und völlig ungerührt entgegennehmen, was es dort eben (NICHT) spielen würde, so als Abschlussritual jahrelangen emotionalen Irrlichterns, wohl nur auf dem Papier gut aussah: denn auch wenn ihre Gefühle IHR gegenüber mittlerweile dezent abgekühlt und ambivalenzdurchwirkt waren, musste SIE heute einfach nur auch dort herumstehen und der Impact wäre wieder genau eines: entwaffnend, und zwar ganzlich, schonungslos und mit sofortiger Wirkung, stand - äußerst realistischer Weise - zu befürchten.
Dabei: was hatte SIE schon? Außer dunklen Augen, einer dunklen Stimme und einer ebenso dunklen Wallemähne? Nun ja, früher einmal, war's in IHREN Augen zu sehen gewesen, wenn der Schalk ihr im Nacken saß; SIE war irgendwie anders gewesen - so eine seltsame Mixtur aus verstockt und wild, unbeholfen und schlagfertig, schüchtern und direkt... schwer zu beschreiben und noch eindrücklicher daher das in seiner ganzen Widersprüchlichkeit zu erleben. Es konnte gut sein, dass darin das Faszinosum lag: fünfzig Prozent dieses Wesens waren so circa das Gegenteil von Allem, was sie persönlich anzog an einer Frau und standen- und hier lag das Paradoxon - in krassestem Gegensatz zu den anderen fünfzig Prozent an Persönlichkeitsstruktur, Charakterfacetten oder... ähm Farce? (das war eben die Frage!), die SIE ihr damals vermeintlich von sich gezeigt hatte.
Eben diese grundlegende Widersprüchlichkeit war es wohl, die sie seit besagten fünf Jahren daran gehindert hatte, ihre damalige Begegnung abzuurteilen als nicht weiter schicksalshafte Seltsamkeit und (wenn auch nach einer gewissen Zeit des verwunderten Kopfschüttelns), mehr oder weniger anstandslos, abzuschreiben und dem Vergessen anheimfallen zu lassen.
Ein neuerlicher, fast hastiger, Blick auf die Uhr: in einer Stunde war es so weit - dann hieß es: aufstehen und tatsächlich losgehen in die Nacht. Nein, sie würde die Minuten NICHT zählen...


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