Um LESARION optimal zu gestalten und fortlaufend zu verbessern verwenden wir zur Auswertung Cookies. Mehr Informationen über Cookies findest du in unseren Datenschutzbestimmungen. Wenn du LESARION nutzst erklärst du dich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.




Forum » Allgemeines » Thread

Essay

25.10.2021 13:05
HiddenNickname
2

Hey, ich bin lesbisch. Und wir müssen reden!

Neben sexuellen, körperlichen und verbalen Angriffen erleben wir auch eine Form von Gewalt, die nicht gesetzlich geahndet wird – das Unsichtbarmachen von Lesben*.

Von Élisabeth Chevillet

Wir müssen darüber reden, was es bedeutet, lesbisch zu sein. Spoiler-Alarm: Es bedeutet, Mut zu haben. "Jeder lesbische Kuss ist eine Revolution", sagt Alice Coffin, und dem kann ich mich nur anschließen. Aber bevor wir dieses Gespräch beginnen, solltet ihr wissen, wo ich stehe. Ich bin eine Frau, ich bin lesbisch und ich bin Feministin. Wenn ich "ich" sage, meine ich mich. Wenn ich "wir" sage, meine ich Lesben*. Ich schreibe absichtlich Lesben* mit einem Sternchen, um alle sich mit dem Begriff identifizierenden Personen jeglicher Genderidentitäten einzubeziehen.

Erste lesbische Liebe

Es waren die späten 90er-Jahre. Auf der Geburtstagsfeier meines Freundes merkte ich, dass ich seine Schwester lieber mochte. Ich war zwölf Jahre alt. Ich hatte bisher weder eine echte Lesbe gesehen noch das Wort jemals benutzt. Auf dem Schulhof beleidigten sich die Kinder mit "Kampflesbe" – und glaubt mir, niemand wollte so eine sein.

Kein Popstar, keine Schauspielerin, keine Sportlerin, die ich kannte, hatte sich geoutet. Es gab keine Lesbe in der Familie und auch keine sozialen Medien… Es gab für mich keine Vorbilder. Ich fühlte mich zu Mädchen hingezogen, bevor ich überhaupt wusste, dass es möglich war. Mit 13 nahm ich heimlich einen Film auf, der im französischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Die Geschichte eines lesbisches Pärchens mit Kind, "Tous les papas ne font pas pipi debout" (Nicht alle Väter pinkeln im Stehen) stellte mein Leben auf den Kopf. Mir fehlte damals das Wissen, um den problematischen Titel zu bemerken.
Ein Jahr später outete sich die französische Tennisspielerin und ehemalige Weltranglistenerste Amélie Mauresmo. Andere Teenager um mich herum reagierten mit Beleidigungen und verletzenden Worten.

Zu Hause hörte ich homophobe Witze über schwule Männer. Lesben schienen nicht zu existieren.

In dem Sommer, in dem ich 14 wurde, lernte ich die ältere Schwester meiner Freundin Louana kennen. Sie hatte ein Teddy-Tattoo am Hals, schöne graue Augen, eine raue Stimme und, noch interessanter, eine Freundin. Ich war fasziniert. Kurz darauf hatte ich selber meine erste Freundin, aber erzählte es niemandem. Irgendwann outete sie uns bei ihrer Schwester, die daraufhin den Kontakt zu ihr abbrach. Ich beendete die Beziehung ein paar Wochen später.

Während meiner Oberstufen-Zeit hörte ich auf, Beziehungen mit Jungs zu führen. "Buffy" war mein einziger Zugang zu einer lesbischen Lebenswelt, obwohl ich Vampire und übernatürliche Dinge hasste. Jeden Samstagabend traf ich mich mit meinen Brüdern zu einem Serienmarathon im Wohnzimmer und betete heimlich, dass Willow und Tara auftauchten. Ich sehnte mich nach einem Kuss, einem Blickkontakt, einer Liebesgeste zwischen den beiden. Mein Herz blieb jedes Mal stehen. Es waren einsame Jahre – bis ich Rokia kennenlernte. Ich war 16.

Rokia und ich verliebten uns. In der Schule waren wir mit unseren Freund*innen Samir und Lola eine tolle Clique. Unsere Vorliebe für Provokationen und unsere sprudelnde Energie trieben die Lehrer*innen in den Wahnsinn. In unserer Lieblingskneipe verbrachten wir unzählige Stunden damit, zu rauchen, Kaffee zu trinken und zu kickern. An den Wochenenden trafen sich Rokia und ich bei ihrer oder meiner Mutter. Ihre Haut brachte mich an unbekannte Orte.

An dem Tag, als Rokias Mutter von uns erfuhr, rief sie mich auf meinem Handy an. Es war an einem Sonntagmorgen, direkt nach meinem Fußballspiel. Ich erinnere mich an ihre Worte, als wäre es gestern gewesen. Ich rede besser nie wieder mit ihrer Tochter, sagte sie, sonst würde ihr großer Bruder mich verprügeln. Erschrocken und wütend beendete ich sofort die Beziehung. Rokia erzählte Samir und Lola von uns – ich stritt alles ab. Damals wusste ich nichts von internalisierter Lesbophobie.

Die Feindseligkeiten, die ich gegenüber meinen ersten lesbischen Beziehungen erfuhr, teilte ich mit niemandem. Mit 18 würde ich sogar wieder eine Beziehung mit einem Mann eingehen, nur um endlich "normal" zu sein. Mit Männern zu schlafen, um mein Lesbischsein zu verdrängen, schadete meiner psychischen Gesundheit. Ich wünschte, die Jugendliche, die ich war, hätte damals die Therapeutin gekannt, die mir Jahre später sagte: "Warum in aller Welt versuchen Sie, normal zu sein?! Sie passen sich nicht an – und das ist gut so!"

Glücklicherweise traf ich ein Mädchen im Uni-Basketballteam. Sie haute mich komplett vom Hocker. Dalia war der perfekte Grund, sich bei allen zu outen.

Mehr lesbische* Vorbilder, aber noch ein langer Weg vor uns
Seit Ende der 90er-Jahre haben sich die Dinge geändert. Mädchen wachsen mit lesbischen* Vorbildern auf. Es gibt Instagram und TikTok. Die Musikindustrie zählt eine wachsende Zahl lesbischer* Ikonen wie Angèle, Hayley Kiyoko und Kehlani. Auf der ganzen Welt können sportliche Mädchen Megan Rapinoe, Caster Semenya und andere erfolgreiche lesbische* Sportlerinnen in verschiedenen Disziplinen sehen.

Im Fernsehen ebnete "The L Word" den Weg. Viele TV-Shows mit prominenten lesbischen* Charakteren folgten der Kultserie. Netflix arbeitet an LGBTQ+-Inklusion. Hannah Gadsbys "Nanette" wurde nach seiner Veröffentlichung im Jahr 2018 zu einem globalen Stand-up-Hit. Filme wie "Carol", "Sharayet – Eine Liebe in Teheran", "Küss mich – Kyss mig", "Porträt einer jungen Frau in Flammen" oder "Rafiki" stellen lesbische Romanzen und Liebesgeschichten dar. Die Leute haben sogar angefangen, Geschichten zu erzählen, in denen LGBTQ+-Leute tatsächlich mehr können, als queer zu sein. In Deutschland hat "Princess Charming" kürzlich dazu beigetragen, lesbische* Sichtbarkeit in den Mainstream zu bringen.

Die Dinge haben sich geändert, jedoch liegt noch ein langer Weg vor uns, denn Lesbophobie befindet sich überall. 43 Länder weltweit kriminalisieren immer noch lesbischen* Sex. Die Bestrafungen reichen von Geldstrafen bis hin zu lebenslanger Haft und Tod durch Steinigung. "Lesbophobie gibt's doch in Europa nicht mehr", denkt ihr? Falsch. Die aus rechtlicher Sicht aktuellen positiven Entwicklungen reichen nicht aus. Aus Angst vor Angriffen oder Belästigungen vermeiden es immer noch 46 Prozent der Lesben in der Europäischen Union, mit ihrer Partnerin in der Öffentlichkeit Händchen zu halten.

Neben sexuellen, körperlichen und verbalen Angriffen erleben wir eine andere Form von Gewalt, welche nicht gesetzlich geahndet wird – das Unsichtbarmachen von Lesben*.

An der Schnittstelle von Sexismus und Homophobie

Manchmal wirken verschiedene Vorurteile gleichzeitig, um bestimmte Formen der Diskriminierung hervorzurufen. Dieses Phänomen nennt sich Intersektionalität. Lesbophobie selbst steht an der Schnittstelle zweier Arten von Diskriminierung: Sexismus und Homophobie. Ganz zu schweigen von allgegenwärtigen Diskriminierungsformen wie Rassismus, Transphobie, Bodyshaming und Ableismus, die auch Lesben* erleben.
Im Gegensatz zu unseren Hetero-Schwestern brauchen wir keine Männer. Also fordern wir die heteropatriarchale Gesellschaft und ihre Machtstruktur heraus, indem wir einfach wir selbst sind. Das Problem: Cis Männer besetzen Machtpositionen und sind nicht bereit, im Interesse der Gleichberechtigung das Rampenlicht zu teilen. So bleiben wir in der Politik, den Mainstream-Medien, am Arbeitsplatz und im öffentlichen Raum meist unsichtbar. Diese historische Weigerung, uns anzuerkennen, hat eine Bezeichnung: das Unsichtbarmachen von Lesben*.

Und wenn wir uns doch zeigen, wenn wir gegen das Unsichtbarmachen von Lesben* kämpfen, zieht es harte Konsequenzen nach sich. Die Veröffentlichung von Alice Coffins "Le Génie lesbien" (Lesbisches Genie) im Jahr 2020 verursachte eine große Welle der Empörung. Weiße männliche cis Journalisten behaupteten, ohne das Buch je gelesen zu haben, es sei gegen Männer gerichtet. Das Katholische Institut von Paris stellte die Zusammenarbeit mit der Autorin ein. Alice Coffin erlebte daraufhin Cybermobbing. Und es schien nicht aufzuhören: Im Juni 2020 wurde sie während einer Konferenz öffentlich belästigt.

Lasst uns sichtbar werden?

Da wir nicht in ihre Welt passen, erniedrigen uns cis-heteronormative Gesellschaften aufgrund unserer Identität. Das englische Wort "dyke" war eine Beleidigung, bevor wir das Wort zurückeroberten. Lesben* sind hinter einem imaginären Vorhang verborgen – und es erfordert Mut, herauszukommen. Der Ausgangspunkt unseres Liebeslebens ist ein beschämender, geheimer Ort. An diesem gefangen zu sein, ist sehr bedrückend. Aber die gute Nachricht lautet: Cis-Heteronormativität ist eine menschliche Fiktion. Als solche können wir sie dekonstruieren.

Sich weigern, jemanden zu sehen, bedeutet, dessen Existenz zu leugnen. Da queere Kinder Vorbilder brauchen, um sich selbst zu finden, ist das Unsichtbarmachen von Lesben* ein Thema der öffentlichen Gesundheit. Wir Lesben* sollten uns nicht outen müssen. Wir müssen nichts gestehen – wir sind nicht schuldig. Es ist dringend erforderlich, die nächsten Generationen von dieser Last zu befreien. Gehen wir also voran: Lasst uns uns zeigen.
Wie das Unsichtbarmachen kann auch Schweigen unglaublich gewalttätig sein. Die Abschaffung der giftigen Cis-Heteronormativität bedeutet, unsere sexuelle Identität in Worte zu fassen. Also auf geht's. Lasst uns die Scheuklappen abnehmen und stolz darauf sein, uns Lesben* zu nennen. Alice Coffins "Le Génie lesbien" (Lesbisches Genie) ist eine Meisterleistung: Unterstützt von der öffentlichen Empörung schaffte sie es, Lesben* in die Öffentlichkeit zu rücken. LESBE. Die französische Autorin betont, dass wir das L-Wort schreiben, sagen und wiederholen sollten, bis es kein Tabu mehr ist. Indem sie uns beim Namen nennt, bricht sie das Schweigen. Sie erkennt unsere Existenzen an – und zwingt die ganze Welt dazu.

So let's be out, loud and proud? Das sagt zumindest mein Herz. Aber die Wahrheit ist viel komplexer als ein einprägsamer Slogan. Wenn Sichtbarkeit Sicherheit bringen und den Abbau von Cis-Heteronormativität einleiten kann, kann sie auch gefährlich sein. Wir sollten uns zeigen und benennen, sofern es nicht unser Leben, unsere geistige Gesundheit oder körperliche Unversehrtheit gefährdet – sofern wir uns stark genug fühlen, um Lesbophobie zu begegnen. Sich outen ist eine persönliche Entscheidung. Und es ist okay, es nicht zu tun.

Lesbophobie bekämpfen – informiert euch!

Kinder sind wie Schwämme. Sie nehmen unsere Werte auf, handeln durch Nachahmung und glauben, was sie hören. Daher liegt es in unserer Verantwortung, mit gutem Beispiel voran zu gehen. Und es ist allerhöchste Zeit: Wir müssen Räume schaffen, in denen sich unsere Kinder sicher fühlen – zu Hause, in der Schule, auf der Straße. Wir müssen uns von sexistischen und homophoben Mustern befreien. Wir müssen eine inklusive Sprache verwenden. Wir müssen fürsorglich miteinander umgehen. Und falls euer Kind queer ist, hört auf, euch zu fragen, wer Schuld hat. Hört auf, nach Gründen zu suchen. Umarmt es einfach und sagt "Ich habe dich lieb".

Zur Autorin

Élisabeth Chevillet (sie/ihr) ist eine französische Texterin und Übersetzerin mit Sitz in Augsburg. Sie studierte Philosophie in Lyon und lebte in Montreal, bevor sie sich 2009 für Deutschland als Wahlheimat entschied. Als Feministin und Lesbe engagiert sie sich für verschiedene Projekte innerhalb der LGBTQ+-Community. Zusammen mit Journalist*innen, Aktivist*innen und verschiedenen NGOs beteiligt sie sich am europäischen Projekt "Writing for diversity – LGBTQ issues in cross-border journalism". Im Jahr 2021 hat sie L*-AUX – ein sicherer Raum für Lesben* und queere Frauen in Augsburg – mitgegründet.

editiert am 25.10.2021 13:08 melden

0


25.10.2021 18:43
25.10.2021 14:53
HiddenNickname
0

0









>>> Laufband-Message ab nur 5,95 € für 3 Tage! <<<