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Forum » Coming Out » ThreadSich selbst gefunden, dennoch so verloren
18.06.2016 11:34
HiddenNickname
0 Hallo zusammen, vermutlich gibt es solche Beiträge wie Sand am Meer, aber bei dem schlechten Wetter der vergangenen Tage hat die eine oder andere ja eventuell sogar Lust sich an den Strand zu verirren. Obwohl ich mich nächtelang durch Beiträge gelesen habe, ist es doch noch einmal etwas ganz anderes den Mut aufzubringen und selbst zu schreiben. Also... *tief Luft hol* Ich werde in diesem Sommer 25 und stehe plötzlich an einem Punkt in meinem Leben, an dem sich etwas unausweichlich für mich verändert hat: Bisher hatte ich keinen Freund, was in meinem Fall nicht nur bedeutet, dass ich noch nie mit einem Mann intim geworden bin, sondern auch, dass ich weder einen geküsst, noch mit einem gekuschelt und noch nicht einmal Händchen gehalten habe. In der Pubertät, die ich im Grunde übersprungen habe, da es ab meinem 15 Lebensjahr einige Schicksalsschläge in meiner Familie gab, glaubte ich, es läge am jahrelangem Mobbing, dass ich keinem Jungen genug Vertrauen entgegenbringen konnte, um ihm nah sein zu wollen. Die Hänseleien ließen mich zudem glauben, dass ich nicht schön und liebenswürdig genug für eine Beziehung sei und darüber hinaus redete ich mir ein, für die Liebe neben familiären Angelegenheiten sowie der Schule ohnehin keine Zeit zu haben. Mit Beginn des Studiums und bei jeder Vorstellungsrunde wurde mir immer mehr bewusst, dass der Typus "21 Jahre und Single ohne vorzuweisende Beziehungserfahrung" gar nicht so häufig vertreten ist. Es kamen daher nicht selten Fragen wie "Willst du aktuell keinen Freund?"oder "Bist du so anspruchsvoll?" Wollte ich nicht? Aber wenn ja: Warum? Oder war ich vielleicht doch bloß anspruchsvoll? Ich hätte zu diesem Zeitpunkt nicht sagen können, dass ich nur mit einer Beziehung glücklich gewesen wäre, aber ich sehnte mich zunehmend nach jemandem, der mich so liebte wie ich war. Scheiterte es an utopischen Idealvorstellungen meinerseits? Hier merkte ich das erste Mal, dass ich gar nicht benennen konnte, was einen Mann attraktiv für mich machen könnte. Während meine Freundinnen von einer gewissen Körpergröße, dunklen Augen oder trainierten Figur sprachen, nannte ich höchstens Eigenschaften wie Tiefgründigkeit, Humor und Ehrlichkeit. An Männern gab es nichts, was ich auch nur ansatzweise als anziehend empfunden hätte und je mehr meine Freundinnen davon schwärmten, wie toll es war verliebt und mit einem Mann zusammen zu sein, desto mehr hatte ich das Gefühl, dies gar nicht zulassen zu können. Manchmal ekelte mich sogar allein der gedanke, an Intimität mit einem Mann. Zwei Jahre ging das so und ich glaubte letztendlich, meine Sexualität sei nicht sonderlich stark ausgeprägt. Demisexuell würde es vermutlich am ehesten beschreiben. Dann kam die Zeit "Frühjahr/Sommer 2014" und mit ihr nicht bloß die Fußball-WM, sondern auch mein 1. Staatsexamen. Mein Biorhythmus verabschiedete sich mit einem irren Lachen und ich sah ihn nur noch manchmal von Weitem nackt über die Wiese spazieren. Ich stand unter enormen Stress, ging mit den Nerven zu Fuß und konnte nächtelang nicht schlafen. Was für das Lernen einer Katastrophe gleichkam, beschwerte mir ungewohnt viel Zeit, um über mich und mein Leben nachzudenken und einigen tief in mir verschlossenen Gefühlen nachzugehen: Ich verbrachte viele Nächte damit LGBT-Filme zu sehen sowie Kurzgeschichten aus diesem Bereich zu lesen und konnte das erste Mal in meinem Leben verstehen, warum sich andere gerne auch mal romantische Filme anschauen. Ich erinnerte mich plötzlich wieder daran, wie nervös ich früher in der Nähe meiner Lehrerin und wie verlegen ich mit 11 Jahren bei den Umarmungen mit meiner damals beste Freundin gewesen war, dass ich in Museen schon als Mädchen nur die Bilder mit Frauen interessant gefunden habe und es mich momentan stets traurig macht, für eine meiner Freundinnen, die ein wahrer Männermagnet ist, in der Disko als ihre lesbische Freundin ausgegeben zu werden, damit sie die Typen in Ruhe lassen. Nicht, weil ich für sie mehr als nur Freundschaft empfinde, sondern weil ich mir eingestehen muss, dass ich an diesen Abenden wirklich lieber mit einer festen Freundin dagewesen wäre, als mich für Kerle aufzubrezeln, die mich nicht interessieren. Zum ersten Mal seit Jahren gab es da dieses Kribbeln in der Magengegend beim Gedanken auch an körperliche Nähe. Seitdem beschäftige ich mich mit meiner Orientierung, ohne mich auch nur einer Menschenseele anvertraut zu haben. Erst vor ein paar Tagen habe ich mir endlich ein Herz gefasst und meiner wundervollen Zwillingsschwester davon erzählt, die mich lächelnd in den Arm genommen und mir gesagt hat, dass sie diesbezüglich bereits "dieses Gefühl" hatte und sie sich wünscht, dass ich endlich glücklich werde. Dennoch bin ich schrecklich durcheinander, denn so richtig doll verliebt in eine Frau war ich auch noch nie und da ich nicht nur generell ziemlich schüchtern, sondern mit fast 25 Jahren auch noch total unerfahren in allen intimen Belangen bin, kommt für mich ein "Austesten" nicht in Frage. Ich traue mich nicht einmal in das LesBi-Referat hier an der Uni und kenne leider absolut niemanden persönlich näher, der lesbisch, bi, schwul oder queer ist, an den ich mich wenden könnte. Für alle, die bis hierhin durchgehalten haben: Vielen, vielen lieben Dank! Es hat mich unglaublich Überwindung gekostet, mich hier anzumelden und mir meine Gedanken von der Seele zu schreiben. Für Worte jeder Art zu der berüchtigten Frage "Und jetzt?" wäre ich euch überaus dankbar, denn es fühlt sich auf der einen Seite unglaublich wundervoll an, endlich ehrlich zu sich selbst zu sein, aber auf der anderen Seite weiß ich gar nicht, wohin mit mir und meinen Gefühlen. Würde es helfen, mit weiteren Personen offen darüber zu reden, auch wenn ich noch keine "praktischen" Erfahrungen habe? Und was könnte ich vielleicht tun, damit mir meine Schüchternheit nicht im Weg steht? Liebe Grüße und einen nicht zu verregneten Samstag, jhaneth
editiert am 18.06.2016 11:35
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