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Am Esstisch

von jucami


Hilde streicht behutsam das Tischtuch glatt, welches sie gerade aus der Schublade geholt und auf den sorgfältig gereinigten Tisch ausgelegt hat. Der Tisch ist weiß, einen Meter zwanzig lang und achtzig Zentimeter breit. Durch die weiße Farbe sieht man sofort jeden Tee- oder Kaffeefleck, der sich immer wieder niederläßt, wenn sich Hilde morgens eine Tasse Tee eingießt oder am späten Nachmittag ihren Kaffee trinkt, um ein süßes Brötchen zu genießen.
Sie hat sich den Tisch vor einem halben Jahr gekauft, nachdem sie sich die neue Wohnung besorgt hat und eingezogen ist. Sie hat sich sofort in den Tisch und die dazugehörige Sitzbank verliebt. Der Tisch ist ausziehbar und so würden ihre Kinder Platz haben, um mit ihr zu Essen oder zu Feiern und auch der eine oder andere Freund würde sich durch die Bank dazusetzen lassen, dachte sie, als sie den Tisch gesehen hat. „Du solltest nicht zu weit wegziehen. Sonst wirst du deine Kinder verlieren“, erinnert sie sich an den Satz, den ihr Ex-Mann zu ihr sagte, als sie darüber nachdachte, sich in einer neuen Stadt ein völlig neues Leben aufzubauen. Nein, ihre Kinder wollte sie nicht verlieren. Sie wollte immer Platz für ihre Kinder haben, wenigstens am Esstisch Platz haben für ihre Kinder, um ihnen zuzuhören, sie zu ermutigen, zu trösten und teilzuhaben an ihrem Leben. Sie freute sich über den Kauf. Der Tisch hatte etwas großmütterliches in seiner Form, er erinnerte sie an ihre Besuche bei den Großeltern und sie sah sich bereits mit ihrer Enkeltochter bei Tisch sitzen und buntes Papier bemalen, Kekse ausstechen und Äpfel mundgerecht schneiden. Sie hörte aber auch schon das Lachen einer fröhlichen Runde, Weingläser gesellig anstoßen und philosophische Trinksprüche. Nach der Abgeschiedenheit in ihrem Eheleben freute sie sich darauf, neue Leute kennenzulernen und Freunde zu finden, mit denen man sich über die täglichen Bedürfnisse hinaus unterhalten konnte.
Hildes Ex-Mann Heinz half ihr beim Umzug und beim Aufbau der Möbel. Auch den Tisch hat er ihr noch zusammengeschraubt. Dabei hat sie ihn zum ersten Mal so richtig fahrig und nervös erlebt. Wenn es um praktische Dinge ging, hatte Heinz das große Sagen. Er wusste zumeist genau, was zu tun und wie etwas zusammenzusetzen ist. Beim Aufbau des Tisches war er allerdings sehr unruhig. Sie saßen oder hockten beide am Boden, um die Tischbeine zu montieren und er erinnerte sich wohl an jenen Abend, als sie die Zeit am Küchenboden mit einem Gläschen Sekt, einer gemütlichen Decke, etwas Obst und richtiger Kuschelmusik verbracht hatten. Es war vor mehr als drei Jahren. Sie feierten erstmals alleine Silvester und es war die romantischste und erregendste Nacht, die sie in ihren knapp zwanzig Ehejahren gemeinsam verbracht hatten. Die letzte Silvesternacht hatten sie ebenfalls alleine gemeinsam verbracht. Hilde hatte die Idee, Dinge auf einen Zettel zu schreiben, die man im neuen Jahr nicht mehr haben möchte, und diese Zettel dann zu verbrennen. Und Heinz schrieb auf seinen Zettel, er möchte im nächsten Jahr keine unerfüllten Hoffnungen mehr. Und da fand Hilde den Mut ihm zu sagen, dass sie ihn verlassen wird. Sie wußte es bereits seit einem Jahr, dass sie nicht mehr fähig ist, ihn zu lieben, dass sie sich inständig nach Freiheit und neuen Lebensraum sehnte, dass ihr der Alltag eine zu große Belastung geworden ist. Doch als sie um das Feuer herumstanden und ihre Enttäuschungen verbrannten, da konnte sie es ihm endlich sagen.
Jetzt, da sie wieder in vertrauter Zweisamkeit beisammen sitzen, möchte er sie am liebsten auf den Boden legen, sie streicheln, sie besitzen, wie damals in dieser berauschenden Silvesternacht. Aber er kann nicht. Er ist jetzt nur noch der gute Freund. Sie haben sich einvernehmlich getrennt. Er weiß, dass sie ihn nicht mehr liebt. Er versucht sich also auf den Tisch zu konzentrieren und alles richtig zu machen. Hilde ist froh über seine Hilfe. Sie sieht, wie seine Hand leicht zittert, spürt die Aufregung in seiner Atmung. Heinz ist erleichtert, als der Tisch und die dazugehörige Bank fertig zusammengestellt sind. Hilde beschließt, ihren Ex-Mann möglichst nicht mehr zu belästigen. Sie merkt, dass es ihm Anstrengung gekostet hat, sie nicht zu berühren. Aber Heinz ist anständig und Hilde nicht mehr interessiert. Nachdem er sie verlassen hat, wird er sich fragen, warum er ihr überhaupt hilft. Und Hilde schämt sich ein bisschen, weil sie auf seine Hilfe angewiesen zu sein scheint, weil sie nicht weiß, wie sie es alleine schaffen soll. Sie ärgert sich auch über ihre Söhne, die die Trennung der Mutter als Laune des Alters betrachten und keine Bereitschaft zeigen, sie bei ihrem Umzug zu unterstützen.
Es ist nun schon ein halbes Jahr vergangen, dass Heinz ihr diesen Tisch aufgebaut hat. Nur einmal hat sie von dem Auszug Gebrauch machen müssen. Als sie ihre Arbeitskolleginnen zur Wohnungseinweihung eingeladen hat, da hat sie die zusätzliche Tischplatte herausgenommen, sie hat großzügig Kuchen gebacken und Aufstriche und Gebäck vorbereitet. Es konnten nicht alle Gäste kommen wie geplant, doch so hatten die sechs Kolleginnen gemütlich Platz beim Essen und Trinken. Vor kurzem hat sich Hilde auch noch einen Couchtisch für ihre Wohn-Essküche gekauft. Die Kinder kommen selten, wenn überhaupt und so hat Hilde beschlossen, dass auch für einen gemütlichen Couchtisch Platz in ihrer kleinen Wohnung ist. Im Moment steht gerade ein Weinglas auf dem kleinen Tischchen, das sich Hilde selbst zusammengebaut hat. Auch die Handarbeit und ein paar Bücher liegen drauf herum. Hilde ist immer beschäftigt. Gäste hat sie selten und neue Gäste hat sie keine. Hilde hat noch einige Anlaufschwierigkeiten in ihrem neuen Leben als Lesbe. Sie ist einsam und allein. Doch sie will es schaffen. Es hat sie wie ein Blitz getroffen, als ihr durch eine Freundin ihre geheimsten Sehnsüchte offenbar wurden. Noch nie zuvor hatte sie so stark empfunden, so begehrt, so geliebt. Sie kann und will nicht mehr zurück in die Behaglichkeit eines traditionellen Familienlebens. Sie ist sich seit kurzem selbst Mann und Frau. Sie trifft ihre eigenen Entscheidungen. Und eines Tages wird sie auch den Mut finden, nach außen zu gehen und ihre Begehrlichkeiten offen zeigen. Dann wird Hilde auch Zugang haben zu den Menschen, die gerne mit ihr feiern und plaudern wollen. Dann wird sie auch Besuch bekommen und Hildes Träume werden sich erfüllen. Aber jetzt ist der Tisch noch leer und Hilde legt behutsam ein Tischtuch über ihn. Nie hätte sie gedacht, dass der Weg in ein neues Leben so lang und so beschwerlich sein kann. Sie setzt sich auf die Couch und trinkt das Glas leer. Sie schließt die Augen und atmet ein paarmal tief durch. Heute war ein ruhiger Tag. Ein Glück, dass den Kindern nichts passiert ist. Dann steht sie auf und geht zu Bett.




copyright © by jucami. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.



Kommentare


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hoffentlich ist Hildes Tisch eines Tages umrundet von Menschen die sie verstehen und ihr gut tun (:
LRMpsm - 21.06.2020 21:39

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