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Die Läuferin

von Anticipo23


Sie kommt. Sie fühlt das Vibrieren des Bodens, weiß, das sind die Schritte der anderen. In Schrittstellung steht sie, den Oberkörper nach vorn gebeugt, den Blick nach unten gerichtet. Die Augen fixieren die Aschebahn unter sich, aber sie sieht nicht, was sie sieht, ihr Kopf ist wie in Watte gepackt, nichts dringt mehr durch zu ihr. Sie nimmt die Menschen um sich herum nicht wahr, das Johlen, die Rufe, die Schreie. Sie ist blind gegen das Außen, ist ganz bei sich. In ihren Ohren rauscht es, ihr Blut fließt mit hohem Tempo durch ihren Körper. Ihr Herzschlag ist hämmernd, mehr fühl-, als hörbar für sie, das Adrenalin schießt mit dem Blut durch ihren Körper, schneller, mehr, es pocht so rasend, in anderen Situationen wäre ihr längst übel, aber dies, diese Situation ist eine künstlich erzeugte Wiederholung längst vergangener Menschheitsentwicklung. die Kunstform des Überlebens, des Fluchtreflexes. Alles ist angespannt in ihr, jeder Muskel weiß, dass er gleich gebraucht wird. Auf den Punkt. Explosion. Im Training immer und immer und noch einmal bis zur Erschöpfung automatisiert. Jeder kleinste Bewegungsablauf, zerpflückt in Trainingseinheiten, in Analysen, in Fehlerkorrektur in wieder Üben. Muskelkater, Ermüdung, neues Training. Rastlos, ehrgeizig, stolz. Sie weiß, wie sich das Holz anfühlen wird. Sie hat es blind studiert: Ein runder Hohlstab aus feinstem und dünnstem Birkenholz, hell, ca. fünf cm Durchmesser, glatt und glänzend lackiert, die Enden offen, an beiden Seiten je zwei rauhe Klebestreifen Isolierband aufgebracht. Tausend Mal in der Hand gewogen, tausend mal die Länge des Stabes mit der gespreizten Hand abgemessen, damit das Hirn die Länge lernt. Auch blind. Mit verbundenen Augen geübt, den Stab so zu fassen, dass die Klebestreifen am Handballen fühlbar sind. Dann stimmt es. Es gibt nur eine Chance. Nur einmal, ein einziges Mal zugreifen. Gelingt es nicht, ist wertvolle Zeit vertan. Der Supergau: der Stab fällt. Auch das passiert. Im Training mit schimpfendem Lachen belohnt, im Wettkampf für alle die Katastrophe. Die Geräusche um sie werden wieder deutlicher, Konzentration zieht in die Wirbelsäule von unten nach oben, als würde jemand mit dem Finger die einzelnen Wirbel abzählen, dabei als Feenhand den Rücken richten. Die Schulterblätter spannen sich, ziehen sich zusammen, der Nacken kribbelt. Noch immer lauscht sie wie ein guter Indianer dem Vibrieren des Bodens hinter ihr. Auch das geübt: Die Methode etwas unorthodox und nicht verletzungsarm. Mit verbundenen Augen am Mal stehen und warten, den Körper in Anspannung bringen, warten, lauschen. Erkennen lernen, wann die richtigen Schritte sich nähern, wissen, das ist sie, wissen, wieviel Abstand die andere noch hat, erst viel später kommt ihr schrei „Los“ . Dann ohne zu Sehen starten, im vollen Sprint, im Vertrauen auf die andere, auf sich: Trau dich! und Los! Stürze bleiben nicht aus, sich verpassen auch nicht. Egal. Geübt mit und ohne Stab, bis alle Elemente eins sind. Heute ist der perfekte Tag: Sie ist topfit, wie alle anderen, es geht um alles. Sie ist an die 4. Stelle gesetzt, die andere an 3. So machen sie es immer, wenn es um das Alles, die Meisterschaft geht. Sie ist verdammt schnell, kann als Schlußläuferin ihren Gegnerinnen die Meter abnehmen, kann auf die letzten fünfundzwanzig Meter immer alles rausreißen. Jetzt! Sie kommt, da ist das Vibrieren, sie spürt die andere, noch vier Schritte, dann wird sie schreien, ihre Hand geht geöffnet nach hinten, reckt sich dem Holzstab entgegen. Das „Los“, sie explodiert, nie war sie für etwas anderes geboren heute, startet, die andere hat Kraft genug, ihren Start mitzuhalten, sie spürt deren Atem, sie übergibt ihr mit dem Stab ihre eigene Energie, ihr Wollen zum Sieg, ihre Hoffnung. Alles perfekt, das Holz liegt wie dort gewachsen in ihrer Hand. Die Geräusche sind ausgeblendet, es existiert nur noch Laufen. Körper, Geist, Seele sind eins. Das Adrenalin, nun sinnvoll in ihrem Körper, jagt das Herz, läßt sie über die Bahn fegen. Sie hört den Widerhall ihrer Schritte auf der Bahn. Chchch, chchch, chchch. Weiter! Die Zielgerade. Bleib locker, die Gegnerin der anderen Mannschaft im Nacken. Nein ich! Ich! Chchch, chchch, chchch. Flow. Sie läuft und jeder Meter ist ein Sieg. Für die Sache, für sich, fürs Leben: Warten, sich trauen, anderen trauen, losstarten, sich verpassen, Stürzen, Aufstehen, Weiterüben und: Siegen!
Ziellienie! Erstaunen, wie schon im Ziel? Ein Sieg?? Sie blickt sich verwirrt um. Die anderen deuten ihr den Daumen nach oben. Ein für sie typisches scheues Lächeln verbreitert ihre Lippen. Ihr Herz pumpt, Schweiß rinnt am Hals in die Nackenfalte, das Decolletee feucht, sie bückt sich, um die Spikes zu öffnen, die Schnürung, die sie stets ritualhaft vornimmt, die langen Bänder doppelt um die Fußsohle gebunden, nervt nun. Während sie sich bückt, die Bänder öffnet, will der Verstand den Sieg begreifen, das Adrenalin will gefühlt werden. Es macht sich groß in ihr, als sie sich aufrichtet, ein unverschämtes Siegerinnenlächeln auf den Lippen, noch immer tonlos.
Gekreische kommt näher, ihre Mitstreiterinnen laufen auf sie zu, die Arme jubelnd oben. Sie reißen sie einfach zu Boden. Und da passiert es: Die dritte Läuferin, ihre engste Sportkameradin kommt zuerst auf ihr zu Liegen, Sommersonnenfrischgemähtesheud uft ist an ihr, eine Strähne ihrer flachsblonden, jetzt klebrigen Schwedenhaare streift über ihren Hals, der Atem beider pocht, wieso riecht sie so gut, hat so schöne blaue Augen heute, ist ihre gebräunte Haut so fühlig? Die 1. und 2. Läuferin werfen sich in Fußballermanier auch quer über sie, dieser Geruch macht sie allselig. Sie lenkt sich selbst mit Johlen ab, die Sinne kehren dennoch gleich zu den Mädchen zurück. Haut an Haut, die Trikots und Hotpants lassen viele freie Stellen, so weich und schön, Salzperlen, noch immer stoßhaftes Luftholen, h h h h, alle Sinne weit offen. Fastscham, was ist mit ihr, egal, so schön. Flash durch ihren Körper, es breitet sich in ihrem Schoß langsam aus, so schön schwindelig, die Beine werden etwas taub dabei, dann eine kleine Explosion ganz tief in ihr, eine Beinahohnmacht, ohne Macht also, na gut, dann sich dem ausliefern! So schön. Ein kleiner Tod. Die Mädchen sammeln sich kichernd wieder, werden vom Trainer ermahnt. Siegerehrung. Sie kommt als letzte hoch, kumpelhaft reichen ihr die andern die Hand beim Aufstehen. Torkelig sammelt sie die Spikes, Sweater, sportliche Utensilien dieses Tages. Andere kommen zum Gratulieren, ihr Kopf ist schon lange beim Sieg, ihre Sinne bei der gerade gemachten Erfahrung. Mal eben Losgelaufen.




copyright © by Anticipo23. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.



Kommentare


Genial!
Absolut genial! Der souveräne, poetische Umgang mit der Sprache macht diese Geschichte zum Hochgenuss. Ich verneige mich - das ist wahre Meisterschaft!
Abbeyroad - 19.09.2020 18:35
wundervoll!
atayari - 02.12.2013 23:36
herzschlag
FransiR - 10.01.2013 16:53
Unglaublich!
Superbanshee - 18.12.2012 20:17
sehr gelungen
jarwen - 27.08.2010 13:22

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