von Gelireth
1
âMusst du dauernd mit dem Ding in der Gegend rumwedeln?â Nadine verdeckt mit ihrer Hand die Linse meiner Kamera und zieht eine genervte Schnute. âDu hast doch schon zehntausend Fotos von dem Spiel gemacht. FĂŒr die SchĂŒlerzeitung brauchst du doch nur eins.â Sie nimmt die Hand weg und fĂ€chelt sich mit einer Boulevard-Zeitschrift in der anderen Luft zu. Ich zucke mit den Schultern und halte mithilfe des Zooms meiner Nikon Ausschau nach einem weiteren interessanten Motiv.
Es ist ein sehr heiĂer Juninachmittag und viele SchĂŒler der Oberstufe haben sich rund um den Bolzplatz und auf der TribĂŒne versammelt, um unsere FuĂballmannschaft bei diesem wichtigen Spiel zu unterstĂŒtzen.
Rechts neben mir sitzt Emma, die die aktuellen Geschehnisse auf dem Feld fleiĂig auf einen Block kritzelt, die kastanienbraunen Haare wie immer zu einem FischgrĂ€tenzopf gebunden. Auch sie arbeitet bei der SchĂŒlerzeitung und hat sich diesen Artikel schnell unter den Nagel gerissen â sie selbst spielt im Verein und wĂ€re sowieso heute hier gewesen. Nadine hatte sich wohl eher auf den Anblick schwitzender Sportler in der Sonne gefreut, doch bereits nach wenigen Minuten hatte sie das Interesse wieder verloren. Die Zeitschrift hatte sie lĂ€ngst ausgelesen und seit einer geschlagenen halben Stunde motzt sie nur noch ĂŒber die Hitze und die unbequemen TribĂŒnenbĂ€nke.
âWann gehen wir endlich?âfragt sie und wirft ihr langes blondes Haar nach hinten.
âEs ist bald vorbei.â tröstet Emma. âAber ich muss bis zum Schluss bleiben.â
Ich kriege den Ball vor die Linse, doch er ist wieder verschwunden, bevor ich abdrĂŒcken kann. Ich lasse die Kamera sinken und seufze. âEhrlich Emma, ich kann dem auch nichts abgewinnen.â
Emma stöhnt laut auf. âNicht du auch noch, Nele. Euer Gemeckere versaut einem den ganzen SpaĂ.â
âSpaĂ?â fragt Nadine mit hochgezogener Augenbraue hinter der Sonnenbrille.
âTut mir Leid, Emma.â sage ich schnell, um die Stimmung nicht weiter sinken zu lassen und deute an Nadine gewandt auf den Kiosk am anderen unteren Ende der TribĂŒne. âLass uns doch mal ein Eis oder was Kaltes zu trinken holen.â Nadine zuckt mit den Schultern und steht auf. âVon mir aus.â sagt sie und wir schlĂ€ngeln uns vorsichtig durch die vollbelegten Reihen. âBringt mir `ne Cola mit!â ruft Emma uns hinterher. Ich winke ihr zu und grinse.
Am Kiosk ist einiges los und wir mĂŒssen eine Weile warten. Wenigstens spenden einige BĂ€ume ein wenig Schatten.
âWas macht denn die âFreak Show` hier?â meint Nadine und deutet mit einer Kopfbewegung zu einer hochgewachsenen Kastanie. An deren FuĂ sitzen drei Gestalten, die trotz der Hitze recht dunkel gekleidet sind.
Sven ist etwas dicklicher, hat schwarzgefÀrbte Haare mit hellem Ansatz, trÀgt einen schwarzen Pulli und dunkle Shorts. Er sitzt an den Baum gelehnt und scheint das Spiel mit Spannung zu verfolgen.
Neben ihm im Schneidersitz sitzt Eileen, ein schlankes MĂ€dchen mit brĂŒnettem kurzen Irokesenschnitt und an den Seiten kurzgeschorenem Kopf, in ein Buch vertieft. Sie trĂ€gt ein khakifarbenes Tanktop und schwarze Shorts. Im Ohr baumelt ein schwarzer Ring.
Das Trio komplett macht Max Treskenberger, kurz Tresker genannt. Er liegt in langen Cargohosen und einem Metallica-Shirt auf dem Bauch im Gras, die hĂŒftlangen blonden Dreads im Nacken mit einem breiten Band zusammengebunden und dreht sich eine Zigarette.
Nadine ist nicht die einzige, die die drei so abwertend bezeichnet. Sie sind eine geschlossene Gruppe, bleiben stets unter sich. Sie halten sich immer im Hintergrund und wir sind so an sie gewöhnt, dass wir sie in der Schule meist nur als Schatten wahrnehmen, wie zugehörig zum Inventar, aber nicht sonderlich wichtig. Kaum jemand weiĂ etwas ĂŒber sie, aber zugegeben: es hat sich bisher auch niemand die MĂŒhe gemacht.
Auch ich nicht. Ich nicke ihnen gewöhnlich zu, wenn ich ihnen im Flur begegne, doch ihre Andersartigkeit â und das Selbstbewusstsein, mit dem sie es vertreten, schĂŒchtern mich ein wenig ein. Nicht, dass ich das öffentlich zugeben wĂŒrde.
âNicht so laut.â ermahne ich sie. Dann drĂŒcke ich ihr einen FĂŒnfer in die Hand. âGeh du doch schon mal das Eis und die GetrĂ€nke holen. Ich werde den Blickwinkel nutzen.â Ich hebe die Kamera. Nadine zuckt mit den Schultern und ich verlasse die Schlange.
Das Tor der gegnerischen Mannschaft steht in der NĂ€he. Ich schieĂe ein paar Bilder, als der Ball in die NĂ€he kommt und genieĂe den Schatten. Wieder lasse ich meinen Blick durch den Zoom ĂŒber den Platz und die TribĂŒne gleiten, doch Nadine hat Recht: ich habe schon sehr viel fotografiert und so langsam wird es langweilig.
Ich bleibe bei den dreien unter dem Baum hĂ€ngen. Tresker hat seine Zigarette mittlerweile fertig gedreht und raucht. Sven trommelt nervös auf den aufgestellten Knien herum. Eileen liest noch immer. Vor lauter Konzentration beiĂt in ihre Unterlippe und nickt dann kaum merklich. Offensichtlich stimmt sie dem zu, was dort geschrieben steht. Ich zoome ein wenig an die drei heran und drĂŒcke den Auslöser. Das GerĂ€usch geht in dem Stimmengewirr unter, doch Eileen scheint sich gestört zu fĂŒhlen. Sie sieht auf und direkt in die Linse, als ich â noch etwas nĂ€her an sie heran gezoomt â zum zweiten Mal abdrĂŒcke.
Ich spĂŒre, wie ich rot werde und wende mich schnell ab, um das Tor zu fotografieren, doch es dauert eine Weile, bis ich mich traue, mich wieder umzudrehen. Sie ist wieder in ihr Buch vertieft und ich laufe zurĂŒck zu Nadine, um ihr beim Tragen zu helfen.
2
âNa, eeeeeendlich.â seufzt Emma erleichtert, als die Schulklinge die letzte Stunde beendet und das Wochenende einlĂ€utet. âNicht ganz.â erinnere ich sie, als wir unsere Sachen packen und aus dem Klassenzimmer gehen.
Das GebÀude ist fast leer. Unser Leistungskurs Französisch ist einer von nur zwei Kursen, die die wenigen Oberstufler freitagabends bis um sechs festhalten.
âKannst du das nicht machen?â bettelt Emma. âIch wollte mich gleich noch mit Nadine und Katja wegen dem Referat fĂŒr Dienstag treffen.â
Ich nicke. âIst gut. Gib mir den Artikel. Ich geh ihn kopieren.â Emma kramt die Seite aus ihrem Block, kĂŒsst mich auf die Wange und verlĂ€sst mit vielen anderen Wochenendfreudigen das Gymnasium. Es wird still und als ich die BĂŒcher, die ich nicht bis Montag brauche, in meinem Spind einschlieĂe, hallt das GerĂ€usch unangenehm laut durch den Flur.
Der Kopierraum befindet sich im Keller und mache die gewĂŒnschte Kopie von dem Artikel fĂŒr das Archiv. Es ist kĂŒhl und dunkel hier unten. Die Luft riecht feucht und ein wenig abgestanden. Ich verstaue alles in meinem Rucksack und will die GlastĂŒr öffnen, die zur Treppe nach oben fĂŒhrt.
Sie bewegt sich nicht.
Ich rĂŒttle ein wenig an der Klinke und dem breiten Metallgriffrahmen, doch sie gibt nicht nach. Ich klopfe an die Scheibe und rufe ein paar Mal. Doch es hat keinen Zweck.
Ich bin eingeschlossen.
Ich hole mein Handy heraus, doch der Akku macht nach drei Sekunden schlapp. Mist, denke ich. Ich habe vergessen, ihn zu laden.
Plötzlich höre ich leise Musik. Ich laufe zurĂŒck, am Kopierraum vorbei und weiter den Gang entlang. Im Keller befinden sich noch ein Lagerraum fĂŒr alte SchulbĂŒcher, ein gröĂerer Aufenthaltsraum mit einem GetrĂ€nkeautomaten und Tischkicker fĂŒr die OberstufenschĂŒler, zwei kleinere Zimmer fĂŒr Nachhilfestunden und ein gut isolierter Musikraum.
Ich öffne die TĂŒr des Musikraums und bleibe wie angewurzelt stehen. Mein Blick fĂ€llt als erstes auf Eileen, die ihre Finger ĂŒber die Tasten des riesigen schwarzen FlĂŒgels mitten im Raum gleiten lĂ€sst. Tresker ist völlig versunken in sein Bassspiel und Sven lĂ€sst seine Sticks mit geschlossenen Augen ĂŒber das Schlagzeug fliegen.
Sie klingen gut â unausgegoren vielleicht, aber mir gefĂ€llt die Harmonie und Eileens Melodie. Es klingt rockig und vertrĂ€umt mit viel Kraft â ein wenig wie Evanescence.
Ich stehe ein paar Minuten unschlĂŒssig in der TĂŒr und höre ihnen zu. Plötzlich hört das Klavierspiel auf.
Eileen hat mich bemerkt. Auch Sven und Tresker unterbrechen ihr Spiel abrupt.
âTut mir Leidâ sage ich schnell, âaber wir sind eingeschlossen. Habt ihr einen SchlĂŒssel?â Sven sieht auf die Uhr und stöĂt einen Fluch aus. Tresker schĂŒttelt den Kopf. âNee, leider nicht.â sagt er, legt den Bass vorsichtig bei Seite und steht auf, um in seiner Hosentasche nach seinem Handy zu fischen. âKein Netz.â stellt er fest. âIst noch irgendwo ein Fenster offen?â fragt er an mich gewandt.
âIch weiĂ nicht.â gebe ich zu. Eileen steht ebenfalls mit dem Handy in der Hand auf. âWir sollten besser nachsehen. Ich habe auch keinen Empfang.â
Wir machen uns auf den Weg, doch der Lagerraum ist abgeschlossen und die Kellerfenster in den SchulungsrĂ€umen sind vergittert. Eileen steigt im Aufenthaltsraum auf einen Stuhl, öffnet das schmale Fenster und lugt nach oben. âKeine Chance.â stellt sie fest. âDas Gitter ist festgeschweiĂt.â Sie hebt ihr Handy nach oben und schĂŒttelt dann den Kopf.
âLass mich mal. Ich hab so ein altes Netz, das geht vielleicht.â Sven tauscht mit Eileen und stöĂt einen triumphierenden Schrei aus. âWen sollen wir anrufen?â fragt er. âKeine Ahnung.â sagt Tresker. Nach und nach sehen sie alle zu mir.
Ich hebe die HĂ€nde in einer entschuldigenden Geste. âIch weiĂ es auch nicht.â
âIst eigentlich egal.â meint Eileen schlieĂlich mit den HĂ€nden in den Hosentaschen. âRuf jemanden an, der in der Lage ist, den Hausmeister zu verstĂ€ndigen.â
Sven nickt und quetscht sich in den Fensterrahmen. AuĂer seinem dumpfen, unverstĂ€ndlichen Gemurmel herrscht einen Moment unangenehmes Schweigen.
âEure Musik klingt super.â sage ich nach eine Weile. Eileen hebt eine Augenbraue. âSuper?â Ich werde ein wenig rot, als ich merke, wie lasch das klingt. âNajaâ, sage ich schnell, âihr harmoniert gut miteinander. Kein Instrument dominiert das andere. Die Melodie klingt stimmig und einprĂ€gsam. Und doch wird man mit dem einen oder anderen Ton ĂŒberrascht.â Eileens Ausdruck verliert an SchĂ€rfe und auch Tresker hört jetzt aufmerksam zu. âAberâ, fahre ich fort. âich finde, es fehlt die E-Gitarre. Sie wĂŒrde das Ganze noch abrunden.â Tresker nickt. âJoah, der Malte fehlt schon. DrĂŒsenfieber. MĂŒsste aber ab nĂ€chster Woche wieder da sein.â Ich blinzle ĂŒberrascht. âMalte? Malte Ottmann?â âGenau der.â bestĂ€tigt Tresker.
Malte ist ein unauffĂ€lliger, netter Nerd mit Hornbrille, der zwei Klassen ĂŒbersprungen hat und GerĂŒchten nach schon ein Stipendium fĂŒr eine Hochschule in der Schweiz in der Tasche hat.
Tresker lacht ĂŒber meine verdutzte Miene. âJa, man siehtâs dem Kleinen gar nicht an. Aber er rockt so richtig ab.â
âLeute!â Sven steigt vom Stuhl. âSchlechte Nachrichten. Der Hausmeister wohnt in Richtersgarten und wenn er eben erst losgefahren ist, dauert es noch ne Weile, bis man ihn erreicht.â Eileen stöhnt auf. âGanz zu schweigen vom RĂŒckweg. Auf der Strecke ist doch dauernd Stau, vor allem an den Wochenenden.â
âEs könnte schlimmer sein.â tröste ich. âImmerhin könntet ihr hier weiterspielen.â Tresker zuckt mit den Schultern. âIst ne gute Idee.â gibt er zu und wir wenden uns zum Gehen. Auf dem Weg zum Musikraum finde ich mich neben Eileen wieder. âSpielt ihr schon lange?â Eileen zieht die Hand aus der Hosentasche und macht eine wage Geste. âNaja, zusammengefunden in dieser Kombi haben wir uns so vor ungefĂ€hr drei Jahren. Unsere SĂ€ngerin Madeleine ist immer nur am Wochenende da. Und wir versuchen eben unter der Woche so oft wie möglich den Raum zum Ăben zu bekommen.â
âUnd ihr schreibt eure eigenen Songs?â
Sven hebt die schwere TĂŒr fĂŒr uns auf. âMittlerweile ja. Angefangen haben wir mit Coversongs â Evanescence, HIM, Within Temptation â die Sparte.â sagt er.
Sie spielen noch einmal den Song von vorhin und noch einen zweiten. Ich sitze in einem Sessel, höre zu und beobachte die drei beim Spielen. Tresker zwinkert mir zu und lĂ€chle zurĂŒck. Ich kann ihn gut leiden. Sven ist schwerer einzuschĂ€tzen. Am interessantesten finde ich jedoch Eileen. Ihre Miene ist ernst und undurchdringlich. Sie konzentriert sich auf die Tastatur und fokussiert immer die Taste, die sie als nĂ€chstes drĂŒcken wird. Ich merke, dass ich sie anstarre und wende mich schnell ab. Ihre Coolness beeindruckt mich. Ich frage mich, was darunter liegt. Ob sie schon immer so war, ob sie sich tatsĂ€chlich mit ihrem toughen Auftreten wohlfĂŒhlt oder auch gelegentlich so unsicher sein kann wie ich.
Nach einer Weile legt Tresker den Bass wieder weg. âIch kann nicht mehr, Leute.â sagt er. âIch brauch mal ne Pause.â Er holt seine TĂŒte mit Tabak aus der Tasche und fingert eine fertig gedrehte Zigarette heraus. Er steckt sie sich in den Mund und hebt ein Feuerzeug ran. Eileen rĂ€uspert sich und sieht mich an. Tresker hĂ€lt inne. âDu verpetzt mich doch nicht, oder?â fragt er mit einem Grinsen. In der Schule herrscht absolutes Rauchverbot. Ich grinse zurĂŒck und schĂŒttle den Kopf. âAber vielleicht gehst du besser in den Aufenthaltsraum. Da kann man das Fenster aufmachen.â
âGuter Punkt.â Er formt mit seiner Hand eine Pistole und schieĂt mich spaĂeshalber ab. Wir gehen alle zum Aufenthaltsraum. âDu glaubst, ich wĂŒrde euch ankreiden?â frage ich Eileen unsicher. Sie zuckt mit den Schultern. âDu bist schwer einzuschĂ€tzen ââ meint sie. âPrinzessin.â fĂŒgt sie dann noch hinzu und ihr Mundwinkel zuckt. Im ersten Moment bin ich perplex, doch entschlieĂe ich mich zu einer Retourkutsche. âDas musst du gerade sagen â Freak!â FĂŒr den Bruchteil einer Sekunde starren wir uns an, dann grinsen wir und Tresker gluckst. Wir machen es uns bei offenem Fenster auf den alten, miefigen Sofas bequem. âWas hattest du hier eigentlich noch so spĂ€t zu suchen?â will Tresker nach einem Zug wissen.
âIch habe einen Artikel fĂŒr die SchĂŒlerzeitung kopiert â fĂŒr die Akten. Den ĂŒber das FuĂballspiel vor ein paar Tagen.â
âWar spannend, oder?â sagt Sven. Ich hebe die Schultern. âIch stehe nicht so auf FuĂball. Die Fotos habe ich nur Emma zuliebe gemacht. Sie spielt selber im Verein und hat den Artikel freiwillig ĂŒbernommen.â
âWorauf stehst du dann?â fragt Eileen. Sie hat etwas Lauerndes in der Stimme. âMich fotografieren?â
Ich werde knallrot und stottere. âIch habe alles Mögliche fotografiert. Das war Zufall.â behaupte ich. Ich sehe an ihrer spöttischen Miene, dass sie mir nicht glaubt.
âLass sie in Ruhe, Eileen.â sagt Tresker ruhig und fĂ€hrt an mich gewandt fort: âSie versucht nur, dich zu verunsichern, um aus dir schlau zu werden.â
âHalt die Klappe, Tresker.â schnappt Eileen scharf.
Ich gucke von Tresker zu Eileen. âWieso? Fragt doch einfach, wenn ihr was wissen wollt.â
Eileen schnaubt und Tresker zuckt mit den Achseln. âBei euch beliebten, angepassten MĂ€dchen weiĂ man nie, woran man ist. In einem Moment seid ihr nett zu uns und im nĂ€chsten spielt ihr uns böse mit.â
âDas ist nicht wahr.â sage ich verĂ€rgert. âDas wĂŒrde ich nie tun.â
âAch ja?â Eileen hebt eine Augenbraue. âSoweit ich mich erinnere, war es deine Freundin Nadine, die den Reichler dazu angestiftet hat, groĂ und breit âLesbe` auf meinen Spind zu schmieren.â
Ich zucke zusammen, denn das stimmt. âSie ist sonst nicht so.â murmele ich. Eileen schnaubt. âJa, klar.â
Zornig stehe ich auf. âDu bist sehr schnell darin, andere zu verurteilen.â Ihr Kopf schnellt zu mir herĂŒber. Auch sie ist jetzt wĂŒtend. âUnd du nicht?â entgegnet sie.
âHey.â fĂ€hrt Tresker dazwischen und hebt die HĂ€nde. âKommt runter, ihr zwei.â Es herrscht einen Moment Schweigen und ich setze mich langsam auf die Sofakante. âNadine hat ihre Macken und sie kann recht oberflĂ€chlich sein.â gebe ich schlieĂlich zu. âAber sie hat auch ihre guten Seiten.â Eileen verschrĂ€nkt die Arme vor der Brust. âJa, das war ne ScheiĂ-Aktionâ, fahre ich fort. âaber am Tag davor ist ihr Vater ausgezogen. Sie war einfach wĂŒtend auf die Welt.â
âUnd das ist ein Grund, es an mir auszulassen?â Sie ist nun richtig sauer. âVielen Dank auch!â Ich schĂŒttle heftig den Kopf. âNein, aber das war nicht persönlich gemeint.â
âToll, soll ich mich jetzt besser fĂŒhlen?â In ihren Augen blitzt es.
Sie sind blau, fÀllt mir auf.
Ich schĂŒttle den Gedanken schnell ab. Eileen fĂ€hrt sich durch den Iro und holt eine Packung Zigaretten heraus. Selbst die Art und Weise, wie sie sie ansteckt und raucht, ist wĂŒtend. Tresker und Sven sehen ratlos aus und scheinen auch nicht zu wissen, wie sie die Situation entschĂ€rfen können.
Wieder schweigen wir eine Weile. Ich hoffe auf eine baldige Befreiung, doch gleichzeitig nagt es an mir, dass sie nun sauer auf mich ist. Zu Recht.
âTut mir leid.â sage ich dann leise. âDu machst es mir ganz schön schwer â ich meine, ich trete bei dir von einem Fettnapf in den nĂ€chsten.â fĂŒge ich schnell hinzu, als ihr Blick wieder Funken schlĂ€gt. Die Funken verglĂŒhen.
âIch weiĂ einfach nicht, worĂŒber ich mit dir reden soll.â
Ihr Gesichtsausdruck verliert an SchÀrfe. Tresker und Sven entspannen sich sichtlich, wechseln dann einen Blick und stehen auf. Sie gehen zum Tischkicker und lassen uns auf dem Sofa allein.
âWillst du denn mit mir reden?â fragt Eileen und nimmt einen Zug. Ich lĂ€chle sie an und nicke. âIch glaub, ich kann dich ganz gut leiden â wenn du nicht gerade wĂŒtend auf mich bist.â Ihre Mundwinkel zucken. âDito.â sagt sie dann zögerlich. âAber was Tresker gesagt hat, ist wahr. Es ist schwer, euch einzuschĂ€tzen. Man weiĂ nie, wann ihr uns AuĂenseitern den RĂŒcken fallt.â
âIch werds nicht tun.â verspreche ich. âZumindest hab ich das nicht vor.â
âDamit wĂ€rst du die Ausnahme im Prinzessinnen-Club.â
âSteck uns nicht alle in eine Schublade.â bitte ich sie.
âEntschuldige.â Sie meint es ehrlich. âAber du scheinst jemand zu sein, der immer mit dem Strom schwimmt.â
âIst das so schlimm?â
Eileen drĂŒckt ihre Zigarette aus. âNicht unbedingt, aber es kann einschĂŒchternd sein. Ihr seid die Elite und wir mĂŒssen stĂ€ndig um Akzeptanz kĂ€mpfen.â
Ich runzle die Stirn. âIhr findet uns einschĂŒchternd?â Sie sieht mich aufmerksam an, als ich fortfahre. âAber du bist so unabhĂ€ngig und selbstbewusst. Du wirkst nicht so, als wĂŒrdest du um Akzeptanz kĂ€mpfen wollen.â
Tresker flucht laut. Offensichtlich ist er am Verlieren.
Eileen fĂ€hrt sich wieder durch die Haare. âNun ja, ich habe irgendwann aufgehört, mich um jeden Preis anpassen zu wollen. Das hierâŠâ Sie deutet zuerst auf ihre Haare und dann ihr restliches Selbst. ââŠentspricht nun mal noch am ehesten meinem wahren Ich. Zumindest fĂŒr den Augenblick.â
âIch dachte immer, dass du vielleicht provozieren willst.â
Sie lĂ€chelt und zuckt mit den Schultern. âNaja, vielleicht ein bisschen.â
Ich zupfe ein wenig am Sofapolster herum.
âAuch auf die Gefahr hin, dass du wieder wĂŒtend wirstâŠâ beginne ich zögernd. Sie scheint zu ahnen, was kommt. Sie seufzt. âNa, frag schon.â sagt sie.
âStimmt es⊠Stehst du auf Frauen?â
Sie nickt und lĂ€sst mich nicht aus den Augen, versucht aus meiner Reaktion SchlĂŒsse zu ziehen.
âErschreckt dich das?â
Ich denke kurz nach, dann schĂŒttle ich den Kopf. âNein, das macht dich noch interessanter.â
Eileen lacht und mir fĂ€llt auf: sie ist hĂŒbsch. Ich mag ihr Lachen.
âDu findest mich interessant?â
âJa, du bist ganz anders, als ich gedacht hĂ€tte. Nicht so dĂŒster und aggressiv.â
âAggressiv?â ruft Tresker, der plötzlich neben uns aufgetaucht ist, und schĂŒttelt sich vor Lachen. Sven und Eileen fallen mit ein. âSie kann keiner Fliege was zu Leide tun.â Er legt ihr eine Hand auf die Schulter und hĂ€lt sich die HandflĂ€che schrĂ€g vor den Mund, so als ob er ein Geheimnis verraten wĂŒrde. âSie ist sogar verflucht schĂŒchtern. Aber sag ihr nicht, dass ich das gesagt habe.â Eileen boxt ihn spielerisch in die Seite. âVollpfosten.â lacht sie.
Die Stimmung ist angenehm gelöst. âSpielt ihr mit?â fragt Sven. âIch bin total schlecht.â gebe ich zu. Tresker zwinkert mir zu. âSven auch.â
Ich spiele mit Eileen gegen Tresker und Sven. Eileen macht ein paar meiner Fehler wett, doch wir verlieren trotzdem die ersten drei Spiele. Das vierte geht knapp aus und seltsamerweise landet durch mein frustriertes Trillern der Siegerball im Tor. Ich jubele und falle Eileen um den Hals. âDas gilt nicht.â protestiert Sven.
Bald gehen uns die 50-Cent-MĂŒnzen aus, doch von Rettung ist immer noch nichts zu hören. Wir setzen uns wieder auf die Sofas. âHoffentlich sitzen wir hier nicht das ganze Wochenende.â meint Sven und holt sein Handy aus der Hosentasche. âIch ruf nochmal an und frag mal nach.â Von Tresker ist ein Grummeln in der Magengegend zu hören. Ich grinse und stehe auf. âIch hab noch ein paar GummibĂ€rchen in meinem Rucksack, glaub ich.â Ich hole ihn aus dem Musikzimmer, setze mich wieder zu den anderen und fange an, darin zu kramen. Ich verteile ein paar BĂŒcher, meinen Schreibblock und LedermĂ€ppchen auf dem Tisch, ehe ich die Packung finde. Ich halte sie Tresker hin. Er nickt dankend, öffnet die Packung und stopft sich eine Handvoll in den Mund. âEy, lass uns noch welche ĂŒbrig.â mault Sven und greift ebenfalls danach. âĂbrigens, der Hausmeister ist unterwegs.â sagt er kauend.
Eileens Blick fĂ€llt auf meinen Block. âMathe ist nicht gerade deine StĂ€rke, oder?â sagt sie und schnappt sich den Block. Ich schĂŒttle den Kopf. âMeistens versuche ich irgendwie die Lösungswege auswendig zu lernen und sie durch zu exorzieren. Aber verstehen tu ich den Kram nicht.â Eileen nimmt sich einen Stift und rĂŒckt nĂ€her zu mir, so dass wir zusammen auf meine Aufzeichnungen gucken können. âSo schwer ist das gar nicht.â Sie deutet auf eine Zeile. âDu machst es dir unnötig kompliziert. Hier machst du einfach eine Induktion und setzt dann die Mitternachtsformel ein.â Ich runzle die Stirn und versuche zu verstehen, was sie meint. âHmâ, meine ich dumpf. âschon das Prinzip bei der Induktion ist mir unklar.â
Sie lĂ€chelt. âDarf ich dir das zeigen?â fragt sie. âIch bitte darum.â
Sie ist geduldig und einige Minuten spĂ€ter bin ich fassungslos ĂŒber die simple Logik, die dahinter steckt. Es macht tatsĂ€chlich Sinn. Meine Hausaufgaben sind schnell gelöst â sogar beinahe eigenstĂ€ndig.
âWow!â sage ich beeindruckt. âIch wusste gar nicht, dass du so gut in Mathe bist.â Sie grinst. âNun ja, du weiĂt so einiges nicht ĂŒber mich.â
In diesem Augenblick steckt der Hausmeister den Kopf in das Zimmer. âIhr seid erlöst.â sagt er ein wenig grimmig und wedelt mit dem SchlĂŒsselbund. âDas nĂ€chste Mal solltet ihr besser auf die Zeit achten, damit ich nicht wieder die ganzen 70 Kilometer hin- und zurĂŒckfahren muss.â
Wir packen schnell unsere Sachen, bedanken uns fĂŒr die Befreiung und verschwinden. Fast bin ich ein wenig enttĂ€uscht.
DrauĂen ist es schon dunkel. âWir kommst du nach Hause?â fragt mich Tresker. âMit dem Fahrrad.â sage ich und deute auf den FahrradstĂ€nder vor dem Haupteingang, der bis auf mein altes, rotes Rad verwaist ist.
âWo wohnst du denn?â
âIn der BergstraĂe.â
Tresker schĂŒttelt den Kopf. âDa bist du ja ne Weile unterwegs. Komm, ich nehm dich mit. Wir packen dein Rad in den Kofferraum.â
Wir kriegen den Kofferraum nicht ganz zu und da Sven zuerst raus muss, quetschen Eileen und ich uns auf die RĂŒckbank des DreitĂŒrers. Quetschen, da einige Flaschen Apfelsaftschorle â leere und gefĂŒllte â die ohnehin schon schmale RĂŒckbank sehr in Anspruch nehmen.
Nach Sven ist Eileen dran. Batzmacher Weg 18. Sie lÀchelt mir zum Abschied zu und steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Ich setze mich nach vorne und wir fahren weiter.
âDu hast ganz schön Eindruck heute hinterlassen.â meint Tresker freundlich, als wir in die BergstraĂe einbiegen. âIhr auch.â antworte ich. âIch hatte schon lang nicht mehr so viel SpaĂ.â
âSchön. Anfangs dachte ich ja, Eileen und du, ihr springt euch an die Kehle.â
Ich muss lachen. âJa, war ne gefĂ€hrliche Situation.â Tresker hĂ€lt vor der Nummer 29 an. Wir steigen aus und er hebt mein Fahrrad aus dem Kofferraum. Dann hĂ€lt er mir die Hand hin und ich schĂŒttle sie. âDu bist in Ordnung, Kleene.â sagt er und zwinkert.
âDu auch.â erwidere ich. âIhr alle.â
Als ich spÀter im Bett liege, starre ich noch lange an die Decke. Ich denke an die Songs, die sie gespielt haben und das Kickern. Doch vor allem denke ich an Eileen, an unseren Streit und ihr Lachen.
Es dauert lange, bis ich einschlafen kann.
3
âHast du dir die BroschĂŒren schon angesehen?â fragt Mama, als ich am Sonntag zum FrĂŒhstĂŒck auf die Terrasse komme. Ich setze mich auf meinen Lieblingsstuhl und greife nach einem Croissant. âHab mal drin rumgeblĂ€ttert.â sage ich unbestimmt. In Gedanken verdrehe ich die Augen. Mama hĂ€lt beim Brötchen-Schmieren inne. âSchĂ€tzchenâ, sagt sie mit ernstem Gesicht. âzwei Fremdsprachen reichen heute nicht mehr. Du solltest dich bald fĂŒr einen Sommerkurs entscheiden.â Sie legt das Messer beiseite. âAm besten wĂ€re etwas exotisches wie Chinesisch oder Portugiesisch.â
Daniel, mein kleiner Bruder, setzt seinen Orangensaft ab. Obwohl er erst fĂŒnfzehn ist, verfĂŒgt er bereits ĂŒber krĂ€ftigen Bartwuchs wie Papa und lĂ€sst sich seit neuestem ein ZiegenbĂ€rtchen stehen. Ich finde, es steht ihm gut, doch Mama lĂ€sst keine Gelegenheit aus, ihn deswegen zu tadeln.
âPortugiesisch ist doch nicht exotisch.â meint er. âUnd sonderlich weit kommst du damit auch nicht. Dann schon eher Spanisch.â
âJajaâ, sagt Mama nach einem Schluck Kaffee. âaber Spanisch spricht doch heute jeder.â
Ich gieĂe mir Milch in den Kaffee und kaue unbehaglich auf meinem Croissant herum. Wie ich diese GesprĂ€che verabscheue!
Seit ich meinen ersten Einser in Sprachen heimgebracht habe, redet meine Mutter nur noch von den Sprachenschulen und Dolmetscherausbildung. Sie trĂ€umt von UN-Konferenzen und Weltfrieden durch meine meisterlichen diplomatischen Ăbersetzungen.
âDiese Hochschule in Berlin hat ein tolles Programm.â plappert sie weiter. Papa legt seine Zeitung weg. âAch Kirsten, lass sie doch mal in Frieden. Wenigstens am FrĂŒhstĂŒckstisch.â Der Sonntagsbrunch ist Papa heilig. Da wird nicht gezankt. Er zwinkert mir zu. âNele wird ihren Weg schon gehen.â Damit ist das Thema im Normalfall erledigt, doch Mama lĂ€sst nicht locker. âIn zwei Wochen endet die Anmeldefrist.â
Ich nehme einen Schluck Kaffee. âWeiĂt du, eigentlich bietet diese Fotografenagentur Meinings einen Workshop im August an.â Papa lĂ€sst das Messer fallen und Mama setzt ihre Tasse gerĂ€uschvoll ab. âJunge Dame, wir haben das besprochen.â sagt sie streng. âFotografieren kannst du in deiner Freizeit. Hier geht es um deine Zukunft.â
Ich verkrieche mich hinter meiner Kaffeetasse.
âGlaubst du, diese Dolmetscherschulen warten auf dich?â Immer dieselbe Leier. âDu brauchst diese zusĂ€tzliche Qualifikation. Bei deinen Noten in Mathe und Biologie braucht es mehr als die drei Spracheneinsen.â
Ich komme hinter der Tasse hervor. âEigentlichâ, sage ich zögernd. âlĂ€uft es besser. Da ist ein MĂ€dchen in der Schule, das ziemlich gut ist in Mathe. Sie hilft mir ein bisschen.â
So ganz gelogen ist das schlieĂlich nicht, doch Mama ist misstrauisch. âAha.â sagt sie. âUnd wie heiĂt sie?â âEileenâ, murmle ich. âEileen Bischof.â
Neben mir verschluckt sich Daniel an seinem Orangensaft und hustet erst mal krĂ€ftig. Als meine Eltern sich einen Blick zuwerfen, formt er lautlos âEileen Bischof?â und zieht eine zutiefst unglĂ€ubige Grimasse, verrĂ€t mich jedoch nicht. âUnd sie kann dir wirklich helfen?â fragt Mama nach. âUnd sie hat auch Zeit dafĂŒr?â âBestimmt.â Ich nicke. Mir kommt einen Idee. âMama, was wĂ€re, wenn ich in der nĂ€chsten Matheklausur eine zwei schreibe? Darf ich dann den Workshop machen?â Mama sieht skeptisch aus. âReicht das noch, um deinen Schnitt zu heben?â Ich nicke eifrig. Die Klausur ist nĂ€chste Woche.
âNa, das klingt doch ganz vernĂŒnftig.â sagt Papa. Mama ist nicht ĂŒberzeugt, aber dagegen kommt sie nicht an. âNa schön.â sagt sie schlieĂlich. âDu bringst mir eine Mathezwei und dann darfst du den Workshop machen.â âDanke, Mama.â Ich stehe auf und kĂŒsse sie auf die Wange. Papa strahlt. Der FrĂŒhstĂŒcksfrieden ist gerettet.
Ein wenig spĂ€ter schnappe ich mir das Telefon, um mit Emma zu telefonieren und will in meinem Zimmer verschwinden. Daniel hĂ€lt mich am Arm fest. âSeit wann hĂ€ngst du mit Eileen hab?â will er wissen. Ich zucke mit den Schultern. âWarum nicht? Sie ist nett.â Daniel lacht. âJa, ich weiĂ. Ich kenne sie von der Arbeit im Tierheim. Ich hĂ€tte nur nicht gedacht, dass sie dein Typ ist.â Ich ĂŒberhöre die letzte Bemerkung, doch es wurmt mich doch ein bisschen, dass Daniel sie besser kennt als ich. âDem Tierheim?â frage ich ĂŒberrascht. Daniel nickt. âJa, sie arbeitet da schon seit Jahren. Hat ein HĂ€ndchen dafĂŒr, die Viecher zu beruhigen, wenn der Tierarzt kommt.â Er grinst. âAber das weiĂt du sicher â jetzt, wo ihr doch beste Freundinnen seid.â Ich gebe ihm einen Klaps auf den Arm. âĂbrigens fahr ich jetzt zum Heim. Komm doch mit.â schlĂ€gt er vor. âDann kannst du sie wegen der Nachhilfe gleichmal fragen.â
Ich schĂŒttle den Kopf und verzieh mich in mein Zimmer.
Emma hört gespannt zu, als ich ihr von meinem Keller-Abenteuer erzĂ€hle. âDas ganze scheint dich ja sehr zu beschĂ€ftigen.â stellt Emma schlieĂlich fest.
âSie sind schon ziemlich cool.â Ich höre auf, im Zimmer auf- und abzulaufen und lege mich rĂŒcklings auf mein Bett. âHast du gewusst, dass Eileen im Tierheim arbeitet?â Ich höre Emma lĂ€cheln. âNein, aber wenn sie dich so sehr interessiert, solltest du sie morgen einfach nach der Nachhilfe fragen â und bei der Gelegenheit kannst du sie dann weiter löchern.â
âSooo sehr interessiert sie mich auch nichtâŠâ murmle ich und Emma lacht. âSie ist nur ganz anders, als ich gedacht habe.â âHm.â macht Emma. Ich setze mich abrupt auf. â Was soll denn das heiĂen?â âHmâ, macht Emma wieder. âIch höre nur Nadines Einfluss. Die meisten Menschen sind mehr als ihre HĂŒlle, weiĂt du.â âHĂ€ltst du mich fĂŒr oberflĂ€chlich?â frage ich erschrocken. âNein.â sagt sie bestimmt. âAber es stimmt schon, was die drei meinten. Du bist sehr angepasst und plapperst manchmal nach Nadines Mund. Du versucht eben immer, es allen Recht zu machen und scheust dich davor, mal die Regeln zu brechen. Allerdings hast du ja jetzt selbst gemerkt, was du dir damit verbaust und welche interessanten Leute und Perspektiven dir damit durch die Lappen gehen. Gerade, wenn du noch immer die Ausbildung zur Fotografin machen willst, ist es wichtig, deinen Horizont stĂ€ndig zu erweitern und offen fĂŒr neues zu sein.â
Ich lasse sie in Ruhe ausreden und die Worte nachwirken. Es folgt eine Pause. âHallo?â fragt Emma verunsichert. âHab ich dich verletzt?â âNein.â antworte ich schlieĂlich. âIch schĂ€tze deine Ehrlichkeit.â Ich lasse mich wieder zurĂŒcksinken. âIch bin froh, dass du mir das gesagt hast.â âOkay.â Sie ist hörbar erleichtert.
4
Montagmorgen. Noch etwas mĂŒde schlieĂe ich mein Fahrrad ab. Ich bin etwas spĂ€t dran, doch die SchĂŒlerströme in das GebĂ€ude lassen noch nicht nach. Auf dem Weg zum Klassenzimmer holt mich Nadine ein. Sie hakt sich bei mir unter. âWie war dein Wochenende?â will sie wissen. âDu hast ja gar nichts von dir hören lassen.â âWar auch nichts Besonderes. Und bei dir?â Nadine kichert. âIch hab dir doch von Stefan erzĂ€hlt, oder? Wir waren Samstag aus...â
Mit halbem Ohr höre ich ihr zu, wie sie von Stefans Muskeln schwĂ€rmt und seinen TanzkĂŒnsten, wie viele Biere er ihr spendiert hat und welches Parfum er benutzt. Wenn ich ehrlich bin, finde ich ihre Geschichten mittlerweile recht langweilig. Zu Anfang habe ich ihr noch an den Lippen gehangen, sie um ihre Erfahrung beneidet und mir auch Verabredungen gewĂŒnscht. Stundenlang waren wir zusammen gesessen, hatten uns die NĂ€gel gemacht und von Popstars geschwĂ€rmt. Doch ich bewundere sie fĂŒr ihre Art, scheinbar ohne viel Aufwand immer umwerfend auszusehen und mit welcher HartnĂ€ckigkeit sie ihre Ziele zu erreichen versucht. Auch heute hat sie wieder zielsicher Rock und T-Shirt mit hĂŒbschen Sandalen kombiniert. Sie genieĂt ungeniert die Blicke auf ihre langen Beine, wĂ€hrend wir ins Klassenzimmer und zu unseren PlĂ€tzen gehen.
Mein Blick fĂ€llt gleich auf Eileen, Sven und Tresker, die wie immer in der hintersten Reihe sitzen. Nadine muss ihren GesprĂ€chsstoff noch bei zwei anderen ablassen, die manchmal auch mit uns abhĂ€ngen und winke dem Trio zu und lĂ€chle. Sie winken zurĂŒck und plötzlich taucht Emma neben mir auf. Sie grinst ihnen zu und umarmt mich dann zur BegrĂŒĂung. âFrag Eileen doch gleich.â schlĂ€gt sie vor. âIch weiĂ nicht so recht.â antworte ich leise und krame meine Deutschsachen aus dem Ranzen. Emma runzelt die Stirn. âWas ist das Problem?â Ich stelle meinen Rucksack auf den Boden und spiele mit meiner Trinkflasche. âEs ist doch nicht wegen Nadine oder den Idioten, oder?â fragt Emma und die Runzeln auf ihrer Stirn werden tiefer. Bevor ich antworten kann, klingelt es und die Hanzinger betritt mit ihrem ĂŒblichen TĂŒr-Zu-Schlagen den Raum. Ich spĂŒre Emmas Blick in meinem RĂŒcken und schĂ€me mich ein bisschen. Sie hat recht. Ich traue mich ohne Nadines Erlaubnis nicht mal, ihnen ordentlich âGuten Morgenâ zu sagen. Ich nehme mir fest vor, das zu Ă€ndern und Eileen in der nĂ€chsten Pause zu fragen.
Doch dazu kommt es nicht.
Die drei sind mit dem Klingeln sofort verschwunden und den restlichen Tag haben wir keinen gemeinsamen Kurs mehr. Ich Ă€rgere mich ĂŒber mich selbst.
Erst am nĂ€chsten Nachmittag haben wir den gemeinsamen Mathekurs. Emma, Tresker und Sven sind jedoch im Parallelkurs. Der Humbolt schreibt die Aufgabe von letzter Stunde, die wir zu Hause fertig lösen sollten, an die Tafel und dreht sich mit dem Klingeln zu uns um. Jemand stupst mich an und reicht mir einen Zettel. Ich erkenne Nadines Handschrift. Sie sitzt zwei Reihen schrĂ€g links vor mir und hat sich zur Seite gedreht, um mich anzusehen. Erwartungsvoll sieht sie abwechselnd auf den Zettel und zu mir. Humbolt fragt nach unseren Lösungswegen und ich hebe zögernd die Hand. Er sieht ĂŒberrascht aus. âJa, FrĂ€ulein Duchs?â Ich erklĂ€re in eigenen Worten, wie ich die Aufgabe verstanden und gelöst habe (nachdem ich sie mit Eileens Hilfe verstanden hatte). Humbolt schreibt mit und nickt anerkennend. âNa, da scheint ja doch noch Hoffnung zu bestehen. Er klopft auf den Tisch eines SchĂŒlers, der halb zu schlafen scheint. âSehen Sie, Herr Bricht, sooo schwer ist das nicht.â Ich drehe mich verstohlen zu Eileen um, die drei Reihen weiter hinten an der rechten Wand sitzt. Ein LĂ€cheln umspielt ihre Mundwinkel und sie zwinkert mir zu. Ich lĂ€chle schĂŒchtern zurĂŒck und wende mich wieder nach vorne. Nadine hat den Blickwechsel gesehen. Sie guckt zur Tafel, wo meine Lösung steht, zu Eileen, weder zu mir zurĂŒck und hebt die HĂ€nde zu einer fragenden Geste. âWas?â formt sie lautlos und blinzelt in einer Mischung von Unglauben und UnverstĂ€ndnis. Ich zucke mit den Schultern, winke ab und öffne den Zettel.
Ich habe Nadine nichts von dem Abend im Keller erzĂ€hlt und auch Emma gebeten, es vorerst nicht zu erwĂ€hnen â zumindest bis ich weiĂ, wie es weitergeht. Und das wird es. Hoffentlich. Denn fĂŒr ein bloĂes âHallo, wie gehtâs?â-und âTschĂŒssâ-VerhĂ€ltnis auf dem Flur ist mir das Trio, vor allem Eileen, zu schade und zu interessant.
Ich weiĂ nur noch nicht, wie ich eine Freundschaft zu ihnen aufbauen soll. Schon jetzt zermartere ich mir das Hirn ĂŒber GesprĂ€chsthemen - ganz zu schweigen von der Frage, wie ich sie in Einklang mit der Freundschaft zu Nadine bringen kann.
Nadine ist sich nicht sicher, ob Stefan sie mag, schreibt sie. Er hat sie noch nicht angerufen. âKlar mag er dich.â schreibe ich schnell. âHab Geduld. Aber ich wĂŒrde gerne dem Unterricht folgen. xxâ Ich lasse den Zettel zurĂŒckreichen. Nadine sieht verwirrt aus. Mein letzter Satz scheint sie genauso zu ĂŒberraschen, wie ich von mir selbst ĂŒberrascht bin, dass ich tatsĂ€chlich zuhöre und sogar einen ErklĂ€rungsversuch unternehme. âLeider falsch, FrĂ€ulein Duchs.â sagt Humbolt freundlich. âAber Sie bemĂŒhen sich heute ja richtig.â Er sieht ĂŒber mich hinweg. âJa, FrĂ€ulein Bischof?â Eileen zieht die richtigen SchlĂŒsse. Ich sehe zu ihr, beobachte, wie sie mit ruhiger Stimme und mit Hilfe eines Stiftes ihre Lösung in der Luft aufzeichnet. Humbolt lĂ€chelt zufrieden und vervollstĂ€ndigt den Tafelanschrieb. Eileen bemerkt meinen Blick und als sie ihn erwidert, werde ich leicht rot und wende mich wieder nach vorne.
Als die Stunde zu Ende ist, packe ich schnell meine Sachen und gehe zu ihr. Bevor ich sie erreiche, geht einer der Vollidioten betont langsam an ihr vorbei und wischt ihre Sachen vom Tisch. Er dreht sich mit einem gehĂ€ssigen Grinsen um und spaziert dann aus dem Zimmer. âVielen Dank auch â Wichser!â ruft Eileen ihm wĂŒtend hinterher. Ich bĂŒcke mich und helfe ihr, die Sachen aufzusammeln. âDanke.â sagt sie. âPassiert dir das öfter?â frage ich sie. Eileen zuckt mit den Schultern. âHin und wieder.â
Plötzlich steht Nadine neben mir und legt mir den Arm um die Schultern. âSĂŒĂŒĂŒĂŒĂeâ, quengelt sie. âKommst du?â Sie wirft Eileen einen argwöhnischen und skeptischen Blick zu. Diese zieht nur eine Augenbraue nach oben. Ich bewundere ihre abgeklĂ€rte Art.
âGleich.â sage ich zu Nadine. Diese zieht den Arm weg und geht zur TĂŒr. âIch wollte dich was fragen, Eileen.â Sie schlieĂt den ReiĂverschluss ihres Rucksacks und sieht mich dann erwartungsvoll an. âKönntest du mir vielleicht nochmal in Mathe helfen? Ich meine ââ ich deute nach vorn. âIch kann wirklich Hilfe gebrauchen.â
âDu meinst, sowas wie Nachhilfe?â
âJap.â
Sie ĂŒberlegt kurz und nickt dann. âSicher. Wie wĂ€rs denn morgen in der Dritten? Da hab ich Freistunde.â âIch auch.â sage ich und strahle sie an. âDann bis morgen.â Ich lasse mich hinreiĂen und hauche ihr einen Luftkuss neben die Wangen. âBis morgen.â murmelt sie perplex.
Nadine hat die Szene beobachtet und empfĂ€ngt mich an der TĂŒr. Zusammen gehen wir nach drauĂen. âOk, schieĂ los.â sagt sie unvermittelt. âWas ist denn da los?â âIch hab sie um Nachhilfestunden gebeten.â Ich öffne mein Fahrradschloss und lege die Kette vorne in meinen Korb. âSie ist gut in Mathe.â âJa, und?â hakt Nadine nach. âDu warst doch bisher nicht sonderlich interessiert daran, deinen Schnitt zu verbessern.â
Ich erzÀhle ihr kurz von der Absprache mit meiner Mutter.
âAch so. Aber wieso denn Eileen? Malte hĂ€tte dir doch auch helfen können.â
âDer ist doch noch krank. DrĂŒsenfieber.â
Sie blinzelt. âWoher weiĂt du das denn? Hast du plötzlich Kontakte zur Nerd- und Freakwelt? Wenn du dir dein Shirt noch ein bisschen weiter runter gezogen hĂ€ttest, wĂŒrde sie sicherlich auch die Klausur fĂŒr dich schreiben.â Sie lacht ĂŒber ihren Witz und hĂ€lt dann inne, als ich nicht mit einfalle. âWas ist denn los mit dir?â
âManchmal kannst du richtig bescheuert sein. Eileen ist richtig nett.â
Ich klinge plötzlich recht scharf. Nadine weicht einen Schritt zurĂŒck und hebt die HĂ€nde in der beschwichtigenden Geste. âSchon gut.â meint sie. âIch hör ja schon auf.â Wir laufen schweigend ĂŒber das GelĂ€nde. Sie wohnt in der NĂ€he und wenn wir gemeinsam Schluss haben, begleite ich sie immer noch ein StĂŒck.
Nadine wirft mir immer wieder einen Blick von der Seite zu. âGehtâs dir gut?â fragt sie, als wir in ihre StraĂe einbiegen. âSicher. Wieso?â
âDu bist heute so komisch drauf.â
âManche deiner Witze sind eben nicht lustig. Wie deine Aktion mit ihrem SchlieĂfach.â
Wir kommen vor ihrem Haus an. Nadine legt eine Hand auf meine Schulter. âAch, das ist doch ewig her. Ich hĂ€tte das schon beinahe vergessen.â Ich schĂŒttle ihre Hand ab. âEileen aber nicht.â
Nadine zuckt mit dem Schultern. âGanz schön nachtragend, die Gute. Aber wieso bist du auf einmal so empfindlich? Du weiĂt, was mit mir los war.â Sie lehnt sich auf den Fahrradsattel. âWeiĂt du, wir haben schon lange nicht mehr richtig miteinander geredet. Komm doch einfach mit rein. Nur fĂŒr ne Weile.â
Ich zögere, doch dann schlieĂe ich das Fahrrad an ihren Gartenzaun und wir gehen rein.
Ihr Zimmer ist wie immer unordentlich. Ăberall liegen Klamotten und Zeitschriften herum. An den WĂ€nden hĂ€ngen Poster ihrer Lieblingsfilme â in fast allen spielen entweder Ewen McGregor oder Matthew McConaughey mit. Auch Ashton Cutcher steht mittlerweile hoch im Kurs. Es gibt nur einen Platz, der filmstar-frei ist: ĂŒber ihrem groĂen Bett am Kopfende hĂ€ngt eine Platte aus Kork, die ĂŒber und ĂŒber voll ist mit Fotos von uns. SchnappschĂŒsse von Partys und AusflĂŒgen, FaschingskostĂŒme und verrĂŒckte Stylingideen. Dieselbe Korkplatte hĂ€ngt bei mir ĂŒber dem Schreibtisch. Die meisten Fotos habe ich selbst geschossen, damals noch mit einer Filmkamera.
Ich betrachte unsere lachenden Gesichter, wÀhrend Nadine schnell ein paar Oberteile, einen BH, Jeans und diverse Illustrierte vom Bett rÀumt, damit wir uns setzen können. Auch sie sieht auf die Bilder und hÀlt kurz im AufrÀumen inne.
âSowas haben wir schon lang nicht mehr gemacht.â stellt sie fest. Dann schmeiĂt sie die Sachen kurzerhand auf ihren Schreibtischstuhl. âIn letzter Zeit hĂ€ngen du und Emma dauernd wegen der SchĂŒlerzeitung zusammen. Es ist ewig her, dass wir mal zu dritt aus waren oder zu einer Veranstaltung hingegangen sind, ohne dass ihr hinterher einen Artikel drĂŒber geschrieben habt.â
Sie setzt sich neben mich. âIch weiĂ ja, dass ich euch mit meinen MĂ€nnergeschichten ein bisschen auf die Nerven gehe, aber Emma hat ihren Max, die Schreiberei und den FuĂball. Du hast dein SprachgefĂŒhl und die Fotografie.â Sie beugt sich vor und greift nach einem Bild, auf dem wir alle drei fröhlich in die Kamera winken. âBei so viel Talent komme ich mir hĂ€ufig ĂŒberflĂŒssig vor. Meine Noten sind Durchschnitt bis Ausreichend und ich bin weder sportlich noch kĂŒnstlerisch sonderlich begabt. Aber ich kann gut mit MĂ€nnern.â
Ich nehme ihre Hand. âDu redest Unsinn. Du hast bisher bei allem nur immer viel zu frĂŒh aufgegeben. Sobald du dir nen Nagel abgebrochen hast, bist du ausm Sportverein raus â und fĂŒr kĂŒnstlerisches Schaffen warst du immer zu ungeduldig.â Ich streiche ihr eine HaarstrĂ€hne aus dem Gesicht. âNaja, zumindest beim Make-Up bist du unschlagbar.â
Sie lĂ€chelt. âToll! Reduzier mich auf ein StylingpĂŒppchen.â
âGut mit Make-Up umgehen zu können, ist doch auch etwas wert. Ich könnte deine Hilfe oft genug brauchen.â
Sie beiĂt sich auf die Lippe und mustert mich prĂŒfend. âStimmt.â Sie schnalzt mit der Zunge.
Geduldig lasse ich sie mit Eyeliner, Wimperntusche und Gloss an mir rumhantieren. Sie bĂŒrstet mein aschblondes Haar bis es glĂ€nzt und trĂ€gt ein wenig Puder auf die Sommersprossen auf. âHast du dir schon mal ĂŒberlegt, deine Haare rot zu fĂ€rben?â Ich verdrehe die Augen. Dazu versucht sie mich schon seit zwei Jahren zu ĂŒberreden. âWie wĂ€rs denn wenigstens mit aufgehellten StrĂ€hnchen? Das wĂŒrde dir ein wenig pepp verleihen, aber immer noch natĂŒrlich aussehen.â
Sie holt einen Spiegel und prĂ€sentiert mir ihr Ergebnis. Ich finde mich hĂŒbsch. Nadine ist wirklich gut darin, meine VorzĂŒge hervorzuheben. Die hellgrauen Augen wirken durch den schmalen Lidstrich gröĂer und ich habe tatsĂ€chlich sichtbare Wangenknochen. Sie zupft mit zufriedenem LĂ€cheln an meinen Haaren herum, dann springt sie auf, kniet sich hinter mich auf das Bett und legt das Kinn auf meinen Kopf, so dass ihre langen Haare sich mit meinen vermischen. âSieh mal.â sagt sie. Wir grinsen uns im Spiegel an. Doch von hellblonden StrĂ€hnen lasse ich mich dennoch nicht ĂŒberzeugen.
Es ist spĂ€t, als ich nach Hause komme. Mama kommt aus dem Wohnzimmer geschossen, als ich die HaustĂŒr hinter mir schlieĂe. âDa bist du ja. Wir haben schon gegessen.â Ich lege meinen Rucksack ab und ziehe die Schuhe aus. âTut mir leid, Mama. Ich war noch bei Nadine und wir haben die Zeit vergessen.â
Mama lĂ€chelt. Sie mag Nadine. âEs steht noch was in der KĂŒche.â Sie will wieder ins Wohnzimmer gehen. âMama?â frage ich. Sie bleibt stehen und dreht sich nochmal um. âSamstagabend will ich mit ihr und Emma ausgehen.â Sie nickt. âIst gut.â Sie mustert mich. âDu siehst hĂŒbsch aus.â sagt sie dann. âWie lĂ€uftâs mit der Mathenachhilfe?â
âWir treffen uns morgen in der Freistunde.â
âGut.â Sie sieht zufrieden aus. Ich denke bei mir, dass sie glaubt, dass ich es sowieso nicht schaffe, eine Zwei zu schreiben. Aber ich habe mir fest vorgenommen, sie in der Hinsicht zu enttĂ€uschen.
5
Ich bin seltsam aufgeregt, als die Schulklingel die zweite Stunde beendet. Nadine grinst mir zu. âViel SpaĂ!â Sie verschwindet mit Carola, einer Freundin, mit der sie Musik hat.
Ich packe meine Sachen und warte mit Emma bei den SchlieĂfĂ€chern auf Eileen. Diese kommt langsam angeschlendert, den Rucksack auf einer Seite geschultert. Sie ist wieder in ein Buch vertieft, ein kleines Reclamheftchen, das sie in einer Hand hĂ€lt, wĂ€hrend sie mit dem Daumen die Seiten fixiert und mit der anderen Hand an ihrer Unterlippe zupft. SchlieĂlich klappt sie das Heftchen zu und vergrĂ€bt ihre Hand in der khakifarbenen Cargohose. Bewundernd und ein wenig neidisch bemerke ich, wie toll sie in ihrem einfachen, aber rockigen Stil aussieht. Sie trĂ€gt ein weiĂes, langĂ€rmliges Shirt und einen Ă€rmellosen schwarzen Kapuzenpulli darĂŒber. Sie wirkt schlank, aber nicht dĂŒnn; lĂ€ssig, aber nicht schlampig.
âHey.â
Sie sieht auf und grinst. âHey ebenfalls.â
Emma lĂ€chelt ihr zu. âAntigone?â Eileen nickt. âZeitlose, tolle Geschichte. Ich lese sie jetzt schon zum zweiten Mal.â
Es klingelt und auf dem Flur wird es ruhiger. âIch werd mir mit Max einen Kaffee gehen holen. Soll ich euch was vom BĂ€cker mitbringen?â
Wir lehnen dankend ab und Emma lĂ€uft zur TĂŒr, hakt sich bei ihrem Freund ein und verschwindet.
âSie ist nett.â sagt Eileen nach einer verlegenen Pause.
âJapâ, grinse ich. âund clever. Ihr habe ich das Abenteuer am Freitag zu verdanken. Den Artikel sollte sie eigentlich kopieren. Aber sie wollte sich mit ihrer Referatsgruppe treffen. Also hat sie mich eingewickelt.â
âZum GlĂŒck.â sagt Eileen. Ich blinzle. âSonst wĂŒrdest du jetzt ohne Nachhilfe dastehen.â Sie grinst und ich bin ein klein wenig enttĂ€uscht. Doch ich ĂŒberspiele es mit einem LĂ€cheln. âWenn ich eine zwei nĂ€chste Woche schaffe, kann ich einen Fotografenworkshop im August machen.â
Ich erzÀhle ihr von der Abmachung mit Mama und meinen festen Entschluss, wÀhrend wir uns im Mensaraum eine ruhige Ecke suchen.
âNa, dann sollten wir uns wohl ranhalten.â Eileen holt das Mathebuch und ihre Notizen aus ihrem Ranzen. Ich setze mich neben sie. âAm besten gehen wir den Stoff der letzten Stunde und die Hausaufgaben durch.â schlĂ€gt sie vor. Ich stimme zu und wir machen uns an die Arbeit.
Ich glaube, ich stelle mich ziemlich dumm an, doch sie lĂ€sst sich nicht aus der Ruhe bringen. Mit engelsgleicher Geduld erklĂ€rt sie mir das eine oder andere drei- bis viermal auf unterschiedliche Weise, bis ich es schlieĂlich doch verstanden habe. Wieder schafft sie es, Licht ins Dunkle bzw. Sinn ins Chaos zu bringen und das auf eine Weise, die sogar SpaĂ macht. Mathe fĂ€ngt an, mir SpaĂ zu machen.
Das Ende der Freistunde kommt viel zu frĂŒh. Sie steht auf, steckt sich eine Zigarette in den Mundwinkel und schultert den Rucksack. Sie sieht supercool aus. âWiederholen wir das?â frage ich schnell, bevor sie zum Rauchen verschwindet. âIch kann die nĂ€chsten zwei Tage nicht.â sagt sie bedauernd. âAber du scheinst das Grundlegende verstanden zu haben. Jetzt musst du nur noch ĂŒben, ĂŒben, ĂŒben. Dann dĂŒrfte am Montag nichts schiefgehen.â
âDanke dir!â Ich umarme sie kurz und herzlich. Sie nickt, winkt und geht.
Ich treffe Nadine und Emma zum Englischkurs und berichte ihnen von meinen Fortschritten. âIhr glaubt gar nicht, wie geduldig Eileen ist. Sie könnte sogar dir etwas beibringen.â sage ich an Nadine gewandt. Diese lacht. âNaja, besser als der Humbolt ist sie bestimmt.â âHĂŒbscher ist sie allemal.â meint Emma.
Nadine fĂ€hrt herum und guckt skeptisch drein. âHĂŒbsch? Eileen?â
Emma nickt gelassen. âWenn sie lĂ€chelt, strahlt ihr ganzes Gesicht. Sie frisiert und kleidet sich zwar unkonventionell, aber das steht ihr unheimlich gut. Sie ist authentisch.â Sie lĂ€chelt mich an. âStimmtâs?â
âSchon möglich.â antworte ich. âHab ich nicht so drauf geachtet.â lĂŒge ich. Emma sieht mich prĂŒfend an. Sie merkt das sofort. Nadine legt mir einen Arm um die Schultern. âDas ist doch wieder typisch.â lĂ€chelt sie und kĂŒsst mich auf die Wange. âAber fĂŒr Modefragen hast du schlieĂlich auch mich. Apropos, wir sollten noch dein Outfit fĂŒr Samstag besprechen.â
Ich spĂŒre auch noch in Englisch lange Emmas Blick in meinem RĂŒcken, wĂ€hrend ich mit Nadine neben mir in der Bank meinen Kleiderschrank durchgehe. Erst als wir das zweite Mal ermahnt werden, vertagen wir das.
, Wieso hast du gelogen? ` flĂŒstert eine Stimme in meinem Hinterkopf. , Emma hat doch Recht. ÂŽ
Ich versuche, mich mit dem Present Past Progressive auseinander zu setzen. Nadine spickt bei mir und ĂŒbernimmt zwei Fehler.
6
Das Wochenende kommt schnell und ich habe Eileens Rat befolgt. Jeden Tag mache ich Aufgaben aus dem Abitur-Vorbereitungsbuch. Es lÀuft immer besser. Die Klausur kann kommen.
Nur Emma sieht mich seit meinem Schwindel immer wieder mit diesem prĂŒfenden Blick an. Ich traue mich nicht, mit ihr darĂŒber zu reden, denn schlieĂlich weiĂ ich selber nicht, warum ich gelogen habe.
Samstag lege ich mir nach dem FrĂŒhstĂŒck das babyblaue Kleid aufs Bett, das mir Nadine geliehen hat. Wir hatten nach langen Diskussionen festgestellt, dass ich ânichts anzuziehenâ hatte und mein Geld war diesen Monat zu knapp fĂŒr etwas Neues. Daher hatte mir Nadine das Kleid am Freitag in die Hand gedrĂŒckt und mir den breiten, schwarzen GĂŒrtel mit Strass dazu empfohlen. Sie und Emma wĂŒrden abends vorbeikommen, um es abzusegnen, bevor wir losziehen.
Mir ist langweilig und ich mache den Computer an. Es wird mal wieder Zeit, meine Fotos zu sortieren und ein bisschen auszumisten. Ich gehe die Fotos von dem FuĂballspiel durch. Viele zeigen immer wieder dasselbe langweilige Motiv. Es gibt aber auch ein hĂŒbsches von Nadine, wie sie da sitzt und sich sonnt. Ich drĂŒcke es aus, um es an meine Pinnwand zu hĂ€ngen.
Dann fĂ€llt mein Blick auf die Bilder, die ich von Eileen und den Jungs gemacht habe. Wie sie im Schneidersitz ihr Buch liest. Tresker hatte die Kamera bemerkt und rein gezwinkert. Sven sieht unbeteiligt aus. Ich starre das Bild eine Weile an. Es ĂŒbt eine seltsame Faszination auf mich aus. Eileen trĂ€gt ein schwarzes Armband mit zwei silbernen AnhĂ€ngern, fĂ€llt mir auf. Auf dem zweiten sieht sie mich direkt an und ich muss unwillkĂŒrlich schlucken. Ihr Blick ist klar â ein wenig fragend, ein wenig misstrauisch. Ernst. Sie fĂŒhlt sich gestört. Emma hatte Unrecht. Eileen ist auch ernst sehr hĂŒbsch. Der Gedanke verwirrt mich.
Ich drucke diese beiden Fotos auf gutem Papier aus und nehme sie in die Hand. Sie sind gut geworden. Die SchĂ€rfe und der Kontrast sind beinahe optimal, nur ein wenig blass wirkt Eileen. Vielleicht hĂ€tte ich noch die SĂ€ttigung anpassen sollen. Ich schneide sie mit dem Papierschneider aus und hefte sie an meine Pinnwand. Ich trete einen Schritt zurĂŒck und betrachte das Ergebnis.
Sie wirken fehl am Platz, denn auf allen anderen Bildern herrscht quietschbunte Fröhlichkeit.
Ich bin einen Moment unentschlossen. Dann schnappe ich mir die Mathesachen, rufe meinen Eltern auf der sonnigen Terrasse einen kurzen AbschiedsgruĂ zu und steige auf mein Fahrrad.
Batzmacher Weg.
Ich werde langsamer, als ich einbiege und komme vor der Nummer 18 zum Stehen.
Zögernd gehe ich zur HaustĂŒr. âEileen und Christiane Bischofâ steht auf dem Klingelschild. Ich drĂŒcke es. Ich bin aufgeregt. Zu spĂ€t fĂ€llt mir ein, dass sie mir gesagt hatte, sie wĂ€re beschĂ€ftigt. Doch galt das auch fĂŒr das Wochenende? Vielleicht war sie im Tierheim. Mist. Ich hĂ€tte Daniel fragen sollen.
Die TĂŒr geht auf.
âNele?â Eileen trĂ€gt enge Jeans und ein schlichtes T-Shirt. Sie ist ĂŒberrascht, doch sie lĂ€chelt erfreut. âWas machst du denn hier?â Darauf bin ich vorbereitet. Ich deute auf meinen Rucksack. âIch war gerade an einer Aufgabe und kam nicht weiter und hatte gehofftâŠâ Ich rede schnell und werde unsicher. Sie tritt bei Seite. âKomm rein.â
âWirklich? Störe ich dich nicht?â
Sie schĂŒttelt den Kopf.
Wir gehen die Treppe im Flur nach oben. Sie lÀsst mir den Vortritt und ich gehe ein paar Schritte weiter, um mich neugierig in ihrem Zimmer umzusehen.
Es ist ordentlich und hell. Durch das groĂe Fenster und die glĂ€serne TĂŒr, die auf einen Balkon hinausfĂŒhrt und gerade offen steht, kommt viel Licht. Der Schreibtisch und das Bett sind in hellem Holz gehalten, so wie das groĂe Regal, das die gesamte Wand gegenĂŒber vom Bett einnimmt und sich unter der Last der BĂŒcher zu biegen scheint. Am FuĂende ihres Bettes steht ein Keyboard, auf dem sie offenbar gerade gespielt hat, denn die Anzeige und einige Knöpfe blinken in hellen Farben.
âNicht das, was du erwartest hast, was?â fragt Eileen. Sie hat die HĂ€nde in den Hosentaschen vergraben und lehnt im TĂŒrrahmen.
âDu magst wohl rot?â Ich deute auf die BettwĂ€sche, den Schreibtischstuhl und die Wand hinter dem BĂŒcherregal: alles in einem krĂ€ftigen Rot. Eileen zuckt mit den Schultern. âDas war die Idee meiner Mutter, aber es gefĂ€llt mir ganz gut.â
âIst sie das?â Ich laufe zum Schreibtisch und betrachte ein gerahmtes Foto. Eileen steht Arm in Arm mit einer brĂŒnetten, rundlichen Frau. Beide strahlen und ich erkenne tatsĂ€chlich die Ăhnlichkeit in ihrem Lachen. Eileen nickt und löst sich, die HĂ€nde noch immer in den Taschen, von der Wand und kommt zwei Schritte nĂ€her.
âUnd wo ist dein Vater?â Ihr LĂ€cheln gefriert ein wenig. âWeg.â sagt sie schlicht. âTut mir leid.â murmele ich schnell. âIch wollte dich nicht löchern.â Sie lĂ€chelt wieder. âSchon in Ordnung. Um es kurz zu machen - â sie stellt sich neben mich. âer ist ausgeflippt, als ich mich geoutet habe. Wollte mich rauswerfen.â
âScheiĂe.â
Sie schĂŒrzt die Lippen. âNaja, er war ein Arschloch. Hat stĂ€ndig gesoffen und Mama auch ein paar Mal betrogen. Sie hat immer zu ihm gehalten, aber als er mich vor die TĂŒr setzen wollte, hat sie unsere Sachen gepackt und ihn verlassen.â Sie streicht ĂŒber das gerahmte Foto. âWir standen uns immer recht nah und haben ihn nie vermisst.â
âHast du esâŠâ Ich zögere ein wenig. âvon Anfang an gewusst? Ich meine, dass duâŠlesbisch bist.â Es fĂŒhlt sich seltsam an und ungewohnt, es auszusprechen. Mir wird ein bisschen warm, als ob ich etwas Verbotenes getan hĂ€tte. Sie merkt es und grinst ein wenig spöttisch. âIch dachte, du wolltest mich nicht löchern.â
Nun werde ich vollends rot. âTut mir leid.â murmele ich schon zum zweiten in diesem GesprĂ€ch. Eileen lacht und ich muss ebenfalls grinsen.
âEntschuldige dich doch nicht stĂ€ndig fĂŒr dich. Das hast du gar nicht nötig.â sagt sie. Mich ĂŒberrollt eine Welle der Zuneigung fĂŒr sie.
âUm deine Frage zu beantwortenâ, fĂ€hrt sie fort, âich hatte mich nie fĂŒr Jungs interessiert und mit 12 habe ich mich dann in meine Klassenlehrerin verknallt. Meine Mutter sagt immer, sie habe es schon immer gewusst.â Sie streicht sich durch den Iro. âTja, das kam dann mit 13. Nachdem wir ausgezogen waren.â
UnwillkĂŒrlich strecke ich die Hand aus und fahre mit den Fingerkuppen ĂŒber die Spitzen. âEs passt zu dir.â Sie wird ganz still und lĂ€sst mich gewĂ€hren. â So cool und unabhĂ€ngig von Konventionen.â Ich bin ĂŒberrascht von meinem Mut und ziehe die Hand zurĂŒck. Sie mustert mich nachdenklich. Und ein wenig verlegen.
âUnd du?â fragt sie dann. âWas ist mit deiner Familie?â
Ich seufze. âMeinen Bruder kennst du ja. Zwischen uns herrscht das ĂŒbliche Gezeter unter Geschwistern â mal hassen wir uns, mal haben wir uns lieb. Die schlimmste Phase haben wir hinter uns und manchmal sind wir sogar sowas wie Freunde. Papa hĂ€lt sich immer aus allem raus. Er hĂ€ngt sehr am allgemeinen Familienfrieden und versucht zwischen mir und Mama zu vermitteln.â
âWie bei der Sache mit dem Workshop?â
Ich nicke. âSie hĂ€lt hartnĂ€ckig an der Vorstellung fest, dass ich eines Tages bei Weltfriedenskonferenzen dolmetsche und vermittle. Dass sie Fotos von mir mit berĂŒhmten Leuten und Politikern aufhĂ€ngen und sagen kann: das hat meine Tochter möglich gemacht!ââ
Ich setze mich aufs Bett. âSie will nichts davon hören, dass meine TrĂ€ume anders aussehen. Sie meint, dass man mein Talent fĂŒr Sprachen nicht ungenutzt lassen darf.â
âUnd wovon trĂ€umst du? Von einer Karriere als berĂŒhmte Fotografin?â
Ich schĂŒttle den Kopf. âBerĂŒhmt will ich gar nicht sein, nur fotografieren - Menschen, Orte, Momente.â Ich grinse sie an. âDie Fotos von dir sind toll geworden.â
Sie grinst ein wenig unsicher zurĂŒck. âAch ja?â
Ich nicke und bevor ich es verhindern kann, rutscht es mir raus: âSie bieten das mit Abstand interessanteste Motiv!â Sofort werde ich knallrot. Ich flirte mit ihr, fĂ€llt mir erschrocken auf.
Eileen blickt mir direkt in die Augen. Sie hat es natĂŒrlich bemerkt â und meine Reaktion. Ich sehe eine Mischung aus Verwirrung und dem Versuch, mich und mein Verhalten einzuordnen. Und ich stelle fest, dass das linke Auge etwas grĂŒn schimmert.
âIch meineâ, fĂŒge ich hastig hinzu. âFuĂball ist so langweilig.â
Ihre Miene wird zu einer undurchdringlichen Maske.
âWovon trĂ€umst du?â frage ich nach einer kleinen Pause, in der ich siedend heiĂ nach einer Ablenkungsmöglichkeit gesucht habe. Sie lĂ€sst sich tatsĂ€chlich ablenken und findet zu ihrem LĂ€cheln zurĂŒck, als sie sich auf den Schemel vor dem Keyboard hinsetzt.
âIch weiĂ nicht genau.â antwortet sie. âIch mag Tiere und BĂŒcher. Vielleicht studiere ich Tiermedizin oder Literatur.â Sie grinst nun breit. âVielleicht werde ich auch Rockstar!â Sie spielt ein paar Takte auf dem Keyboard und hört wieder auf.
âSpielst du mir noch mehr vor?â
Sie sieht etwas verdutzt aus. âHier? Jetzt?â
âJa.â
Eileen ĂŒberlegt und schĂŒrzt die Lippen. Dann fĂ€ngt sie wieder zu spielen an. Es kommt mir bekannt vor. Ich raffe die Schultern und beuge mich etwas vor, wĂ€hrend ich in meinem GedĂ€chtnis krame.
âCorpse Bride?â
Sie lĂ€chelt und nickt. âEigentlich spielt man das vierhĂ€ndig.â Sie zögert, dann rĂŒckt sie auf dem Schemel etwas nach links und klopft neben sich. âKomm her. Ich zeigâs dir.â
Ich stehe auf, gehe um sie herum und setze mich hin.
âHast du schon mal gespielt?â fragt sie. Ich schĂŒttle den Kopf. âIch kenne Noten und die Tonleiter aus Blockflötenzeiten, das ist alles.â
Ich lege probehalber meine rechte Hand auf das Keyboard und drĂŒcke ein paar Tasten. Sie nimmt meinen Daumen und zieht ihn drei Töne tiefer. Dann spreizt sie meinen Ringfinger und den kleinen Finger, bis meine Hand gleichmĂ€Ăig ĂŒber eine Oktave verteilt ist. Sie legt ihre Hand auf meine und drĂŒckt meine Finger auf die Tasten. Ich versuche mir die Reihenfolge zu merken, doch es geht zu schnell. Ihre Hand ist warm und fĂŒhlt sich gut an â so wie sie selbst. Sie riecht nach Zigaretten, Zitronenmelisse und etwas, was sich nicht genau definieren lĂ€sst. Ich mag die Mischung.
Sie lÀsst meine Hand los und ich versuche es selbst. Es klappt erst beim zweiten Versuch, doch sie scheint zufrieden. Sie positioniert sich tiefer und fÀngt zu spielen an. Sie signalisiert mir meinen Einsatz.
Schon beim dritten Ton tippe ich total daneben. Sie lacht ĂŒber meine missmutige Miene. âKeine Sorge. Wir probieren es nochmal.â
Auch diesmal scheitere ich, doch genau wie bei Mathe bleibt sie geduldig. SchlieĂlich gebe ich mit einem tiefen Seufzer auf.
Eileen wirft mir einen spöttischen Blick zu und spielt einige Takte. Dann geht sie flieĂend zu einem anderen Song ĂŒber. Ihre HĂ€nde schweben ĂŒber die Tasten, wĂ€hrend sie mich angrinst.
Ich sehe ihr fasziniert zu, dann stupse ich sie lĂ€chelnd mit meiner Schulter an. âAngeberin!â Sie beendet das Spiel und stupst zurĂŒck. âPrinzessin!â
âFreak!â
Sie lÀchelt mich an und mir wird wohlig warm.
âEileen?â Wir fahren ein bisschen erschrocken auseinander. Eileens Mutter erscheint in der TĂŒr. Sie bemerkt mich und bleibt stehen. âOh, entschuldige. Ich wusste nicht, dass du Besuch hast. Ich wollte nicht stören.â
âDu störst nicht.â sagt Eileen schnell und wir stehen auf. âDas ist Nele. Wir kennen uns aus der Schule. Nele â das ist meine Mutter.â
âChristiane.â stellt sie sich vor und reicht mir die Hand. Ihr HĂ€ndedruck ist herzlich, so wie ihre freundliche Miene. âBleibst du zum Essen, Nele?â
Erschrocken sehe ich auf meine Armbanduhr. âIst es schon zu spĂ€t? Ich muss gehen!â
âIch bring dich zur TĂŒr.â bietet Eileen an.
âAber vielen Dank fĂŒr die Einladung.â sage ich noch an Eileens Mutter gewandt, als wir an ihr vorbeigehen. Sie winkt.
âAlles in Ordnung?â fragt Eileen, als ich in Windeseile in meine Schuhe schlĂŒpfe. Sie sieht enttĂ€uscht aus. âJa, natĂŒrlich.â Ich gehe zur TĂŒr. âIch bin nur mit Nadine und Emma verabredet. Das hĂ€tte ich beinahe vergessen.â
Bevor ich aus dem Haus gehe, drehe ich mich nochmal um. Eileen hat die HĂ€nde wieder in den Hosentaschen vergraben und sieht ein wenig verunsichert aus. Ich lĂ€chle unschlĂŒssig und wiederstehe dem Drang, sie zu umarmen.
âBis dann.â sage ich leise.
Sie lĂ€chelt zögernd. âBis dann.â
Ich ziehe die TĂŒr hinter mir zu.
WĂ€hrend ich nach Hause fahre, versuche ich das Klopfen meines Herzens auf die Anstrengung zu schieben.
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Gelireth. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.