von Silverj
Schon als ich mich in meiner Heimat in die Bahn gezwängt, mit Mühe meinen Koffer in eine ausreichend große Lücke bugsiert, und den wenigen meiner Familie, die sich die Mühe gemacht hatten mich zum Zug zu begleiten, gewinkt hatte, hatte mich ein sehr seltsames Gefühl ergriffen, welches mich jetzt, da ich hier ein wenig verloren in der Haupthalle des Bahnhofs meines neuen Zuhauses, noch stärker traf. Es war mehr als nur Aufregung wegen des begonnenen Neuanfangs, sondern ein Aufblitzen der Gewissheit dass diese Stadt mich grundlegend verändern würde.
Zögerlich wandte ich meine Schritte in Richtung Ausgang und hielt nach meinem, die Menge überragenden, Onkel Ausschau. Wie ich in den folgenden 5 Minuten den fast-zwei-Meter-Riesen und seinen Mitbewohner, welcher für mich auch schon fast, nach 13 Jahren Kennen, ein Onkel ist, übersehen konnte, habe ich mir bis heute nicht erklären können. Als meine blau-grünen Augen hinter der noch neuen Brille endlich entschieden die beiden wahrzunehmen, konnte ich beim besten Willen das aufkeimende breite Grinsen nicht unterdrücken. Seine langen Arme drückten mich fest als ich Ralf umarmte und ich wusste in dem Moment ganz sicher: ein neues, besseres Leben beginnt.
Nach der Begrüßung ging es ziemlich schnell zur Wohnung. Man erklärte mir die Straßenbahnen: „Um nach Hause zu kommen, nimmst du die 3, die 4 oder die 1 in die andere Richtung, also 3,4 oder 1 okay?“ etwas dass ich in der nächsten Zeit mehr als nur einmal am Tag zu hören bekommen sollte. Machte mich auf Sehenswürdigkeiten und andere Kuriositäten aufmerksam: „Da, da, da vorne, siehst du den Turm, ja? (Na klar Onkelchen er ist direkt hinter der Scheibe *augen verdreh *) Das ist der Wasserturm…. Weihte mich in die Pläne der nächsten Woche und den normalen Tagesablauf ein: „ Also da ich frei habe sehen wir uns….“, was folgte war eine lange Liste an Orten und Gebäuden die ich euch ersparen werde; bis wir schließlich, nach einer 20minütigen Fahrt vor den Wohnkomplexen standen in welchen mein Onkel eine Wohnung hatte. Er steuerte den letzten der drei Türme an, erklärte mir im vorüber gehen dass in diesen Wohnkomplexen eine kleine Stadt untergebracht sei mit bestimmt fast 10.000 Einwohner. Meinen ungläubigen Seitenblick bekam er, glaube ich, nicht mit. Mit dem Aufzug ging’s dann hoch zum 27ten Stock. Kaum war die Wohnungstür auf und der Koffer in dem mir zugewiesenen Zimmer stürzte ich auf den Balkon.
Ehrlich wenn ich Ralf und Markus auch heute noch um etwas beneide, dann ist es die Aussicht aus ihrer kleinen Wohnung im drittletzten Stock. Dieser gewaltige Blick über die Rheinebene, wo dem Betrachter erst die Altstadt zu Füßen zu liegen scheint, während sich in der Ferne irgendwo Berge befinden mussten. Ob es der vielgepriesene Schwarzwald sein sollte, wie Ralf immer stolz behauptete, erschien mir damals wie heute zweifelhaft aber nicht der Mühe wert es nach zu schlagen. Stattdessen genoss ich das Gefühl einfach losgelöst zu sein. Frei wie die Falken die auf dem Dach nisteten und sich mit eigenwilligen Schreien in die Tiefe stürzten und den Aufwind suchten.
Wie oft der Balkon in der Folgezeit mein Rückzugsgebiet und Ruhepol sein sollte, konnte ich damals nicht erahnen. Als in dem Moment, wo die Sonne die Skyline plötzlich in ein warmes einladendes Rot tauchte, mein Onkel und Markus neben mich traten und sich die vertraute große Hand des ersteren sich auf meine Schulter legte, fühlte ich mich mehr zu hause als alle Jahre vorher an einem anderen Ort. Es war als wäre ich in meinem Heimathafen eingelaufen… Und wie die Falken vorher stürzte sich mein Herz mit einem Freudenjauchzer in die Aufwinde der Stadt unter mir, verschmolz mit den beleuchteten, lebendigen Straßen, betrachtete die lachenden Gesichter in gut gefüllten Cafés und Restaurants, verband sich mit jedem Schlag mehr mit dem Netz aus buntem Leben und Freude, welches mich willkommen hieß und einlud mich den anderen anzuschließen.
Die Zeit die man mir einräumte um den überfüllten Koffer auszuräumen und die Kleider zu wechseln war sehr knapp bemessen. Ständig spürte ich die genervten Blick der beiden Männer auf mir als ich wie ein aufgeschrecktes Huhn hin und her lief und meine Sachen durch den ach-so-geordneten Männerhaushalt verteilte. Und trotzdem schaffte ich die Wahnsinnstat nach zwanzig Minuten fertig angezogen an der Wohnzimmertür zu erscheinen und den herumlümmelnden Älteren einen säuerlichen Blick zuzuwerfen.
Die schüttelten zur Antwort nur die Köpfe und während mir Markus beim Hinausgehen einen Regenschirm in die Hand drückte, erklärte mir Ralf dass nicht weit das Regenbogen-Grillfest veranstaltet werden würde. Ich würde dort einige seiner Freunde kennenlernen und, hier verpasste er mir zuerst einen wissenden Blick, vielleicht auch einige sehr nette Mädels.
Natürlich verstand ich auf was er hinaus wollte und fühlte schon die Hitze auf meinen Wangen als ich nickte. Markus sah uns nur etwas verwirrt an, beschloss aber es auf sich beruhen zu lassen, während mein Onkel grinste als wären ihm der Weihnachtsmann und der Osterhause gemeinsam auf seiner Geburtstagsfete übern Weg gelaufen.
Als wir stetigen Schrittes auf die Menschenmenge unter der nächsten Brücke am Flussufer zugingen, kapierte ich plötzlich dass genau dort unter diesen Menschen mein Platz war.
Ralf und Markus wurden begeistert begrüßt, verteilten hier und da Küsschen, kommentierten die neuste Trennung und den letzten Schrei in der Mode der rosa Hemden, als plötzlich der lange Uwe mich im Schatten meines zu großen Onkels entdeckte.
„Wen versteckst du denn da Ralf? Bist doch nicht doch etwa zu den Heteros gewechselt gewesen und präsentierst uns deine Tochter?“
Wer bei seinen Worten einen roteren Kopf gekriegt hat, ist bis heute nicht geklärt, wie so vieles.
„Nein, nein…“ beeilte sich mein Onkel zu antworten. „ Das ist meine Nichte.“ und zwinkert Paul, der neben Uwe steht zu. Der guckte etwas verblüfft und platzte schließlich raus:
„Was der Onkel schwul und die Nichte lesbisch? Wie geil ist das denn?!“
So schnell steht man dann im Mittelpunkt. Recht artig schüttelte ich Hände, grüßte jeden freundlich aber ein bisschen schüchtern und versuchte mich wieder in den Hintergrund zu verziehen, was Markus, durch Zufall, immer wieder verhinderte.
Als schließlich ein gewisser Mark sich begeistert auf mich stürzte und so lange auf mich einredete bis ich zustimme mit auf die Erdbeer-oder-so-party zugehen (sie heißt Himbeerparty), musste ich mein Gefühl von vorher noch mal überdenken. Kann ich das brave Mädchen-image wirklich einfach so fallen lassen?, so in etwa gingen meine Gedanken. War es womöglich so einfach endlich man selbst zu sein?
Irgendwann schaffte ich es dann doch wieder in die Schatten der Männer zu verschwinden und konnte mich ganz meinem Grübeln hingeben… dachte ich. Stattdessen wanderten meine Augen immer wieder zu den anderen anwesenden Frauen und lenkten mich von den tiefgründigen Gedanken ab. Die Auswahl war ja reichlich groß… So verlegte ich den einsamen Monolog in meinem Großhirn auf später und musterte munter weiter. Wenn mich mal eine dabei erwischte und mir zulächelte (die Leute sind super freundlich… in meinem Heimatland hätte man es mit einem Stirnrunzeln beantwortet), bekam ich regelmäßig einen roten Kopf und zwang mich dazu einfach zurückzulächeln. Irgendwo hinter meiner Schädeldecke ließ mir die Frage, wieso ich plötzlich so schüchtern war keine Ruhe. War doch sonst eigentlich nicht meine Art. Als sich dann Kopfweh ankündigte von den Hitzeschwankungen, entdeckte ich ein paar Spiele beim Volleyballfeld… Und grinste plötzlich sehr fies. Mein Onkel sah es und schluckte… dachte wohl daran dass dieses Grinsen noch nie etwas gutes für ihn bedeutet hatte. Mein Gedankenweg war einfach: Spiele = Ablenkung… Spiele + Onkel = Etwas zum Totlachen und nie wieder Vergessen.
Tatsächlich schaffte ich es ihn zu überzeuge. Und staunte darüber wie fit er noch war…
Seilspringen, Volleyballzielschießen, Dart spielen, Basketballweitschießen-und-dur ch-Loch-treffen… überall lag er vor mir. Aber meine Rache sollte kommen… Beim Golfen und Angeln. Ich hatte eben noch die ruhigere Hand und schaffte es ihn bei den Punkten zu überholen.
Was mir aber im Nachhinein wichtiger war, war des gemeinsame Lachen, das Scherzen und das Spaß haben… einfach weil ich mein Onkel schon so lange nicht mehr gesehen hatte und zweimal im Jahr bei ner Familienfete einfach nicht der rechte Ort sind um wirklich Spaß zu haben.
Aber wie alles im Leben hatte auch das Grillfest mal ein Ende für uns… Da wir zur Himbeerparty gehen wollten und noch ein wenig privat vorfeiern sollten, hatten wir dann irgendwann Mark eingesammelt und uns auf den Weg nach Hause gemacht. Was ich nicht verstehen kann ist, wie ich die beiden Menschen, die mir später sehr ans Herz wachsen sollten, übersehen habe. Hättet ihr nicht irgendein Schild tragen können: Achtung! Ich werde dein Leben betreten und ziemlich durcheinander schmeißen?
Aber jetzt mal zurück zu dem Abend. Wie gesagt wir feierten vor, sprachen über alles was man sich denken konnte… und ich lernte mich einfach fallen zu lassen und Spaß zu haben.
Zum Beispiel war ich nie die große Tänzerin… Man findet mich schon eher unter denen die an der Seite ihr Getränk schlürfen, anderen den Vortritt überlassen und den Abend mit Beobachten verbringen.
Als wir dann aber an dem Abend die Party stürmten ließ ich mich breitwillig auf die Tanzfläche mitziehen und wagte mich sogar soweit vor mir eine Tanzpartnerin zu suchen… die ich mit Bedauern stehen lassen musste als mein Onkel darauf drängte er sei müde und Mark eindeutig zu betrunken war um noch auf der Party zu bleiben ohne irgendwann eine Schlägerei anzufangen. Wie schnell die fast 5 Stunden auf der Party umgegangen sind gehört für mich jetzt noch zu den wissenschaftlich unerklärlichen Phänomenen die auftreten wenn man sich zu gut amüsiert.
Wir verließen also die Party, bezahlten Mark noch ein Taxi nach Hause und schlugen flotten Schrittes den kurzen Weg in Richtung Wohnung ein. Wie viel genau ich an dem Abend getrunken hatte weiß ich nicht, muss aber ne ganze Menge gewesen sein, denn als ich mich noch angezogen aufs Bett fallen ließ war ich Sekunden später weg. Mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht.
Den darauffolgenden Sonntag verbrachte man dann etwas gemächlicher. Um elf regte sich das erste Leben in mir, etwas knurrig noch zog ich dann ins Wohnzimmer um und installierte mich mit meinem Laptop auf der sehr breiten, gemütlichen Couch. Als ich langsam bei guter Musik und etwas Gestichel meines besten Freundes über MSN wacher wurde, fiel mir erstmal auf dass weit und breit niemand zu sehen war. Also stellte ich erstmal den PC wieder zur Seite und machte mich auf die Suche nach meinem Onkel. Den ich später vor sich hin schnarchend in seinem Bett entdeckte während Markus schon wach war, aber verwirrt und erstaunt über den Rand seines Buches blickte.
„Schon wach?“ flüsterte er von seiner Matratze aus. Ich zuckte mit den Schulter, er wusste ja dass ich wohl kaum hierher schlafwandeln würde bei einem Geräuschpegel den sogar einen Tauben vertrieben hätte. Er grinste und fragte etwas anzüglich: „Zu viel Alkohol was?“
Da guckte ich jetzt aber ein bisschen doof, überlegte kurz und verneinte dann. „Kopfschmerzen hab ich ja nicht… Ich bin nur noch nicht ganz wach.“ Dass ich an jenem Tag keine Anzeichen von einem Kater zeigte wunderte ihn, vor allem da mein Onkel sie umso mehr an den Tag legte. Auf die Frage am verspäteten Frühstück; es war halb drei; ob ich denn soviel weniger als er getrunken hätte, überlegte Ralf eine ganze Weile und kam dann sehr verwirrt zu dem Schluss: „Nein. Eigentlich einiges mehr.“ Der Blick mit dem er mich dann musterte gab mir das Gefühl eine seltene Krankheit zu haben oder von einem fremden Planeten zu sein, natürlich mit den obligatorischen Tentakeln und sechs Augen ausgestattet. Die Folge war natürlich ein Erröten dass eine Autolampe blass wirken lassen würde. Meinen Leuchtfeuerkopf versuchte ich schnell unter meinen, leider zu kurzen, blonden Haaren zu verstecken. Durch vorhin genanntes Problem der Länge misslang mir das natürlich gründlich und Markus Lachen erreichte neue Höhen. Als dann gegen fünf auch mein Onkel langsam auf Touren kam, war natürlich nicht mehr an einen Ausflug oder so zu denken. So eröffneten wir uns einfach unser privates Internetkaffee. Drei Laptops und ein Standgerät summten munter vor sich hin, während ihre Benutzer sich gegenseitig anschwiegen oder über Chat kommunizieren. Eine Eigenart die in meinem früheren Zuhause wohl mit keinem Funken Verständnis verurteilt worden wäre. So genoss ich die Stille und zog mich, als die Nacht herein brach auf den Balkon zurück. Mit dem Fuß stieß ich mich manchmal vom Geländer ab als ich bequem in der Hängematte lag und die hell erleuchtete Stadt unter mir und den sternenübersäten Himmel betrachtete. Irgendwo ratterte die Straßenbahn vorbei, ein Lachen wurde von den Balkonen unter mir hoch getragen, der Fluss glitzerte seltsam von den Lichtern der Stadt… Langsam rauchte ich meine Zigarette zu Ende und nahm ab und zu einen Schluck aus der Bierflasche. Sanfte Musik tanzte um mich herum, nur kurz durchbrochen von dem Klingeln einer neuen Nachricht von jemandem, der versuchte meine Aufmerksamkeit zu erlangen, den ich aber beharrlich ignorierte. Ich fühlte mich wohl… Ich fühlte mich zu Hause.
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Silverj. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.