von sofffie
Das ist Agnes:
Man denkt sie allein, nicht in ihren Bezügen. Sie gehört zu den Frauen, die auf niemanden außer auf sich selbst verweisen. Sie ist in ihren blühendsten Jahren. Ihre Erscheinung passt zu der Ernteluft, zu der ungewöhnlich reichen Vergeudung vor dem Herbst. Unter ihrer Oberfläche schimmert eine kapriziöse Sinnlichkeit, die verwirrt, das macht sie schöner als sie ist. Ihr Auftreten ist der Absicht nach seriös, aber zu wuchtig, ihre Kleidung ist damenhaft, ihre Gestik ist weltläufig. Sie kennt sich aus. Sie fürchtet sich nicht vor dem Alleinsein und auch nicht vor dem Älterwerden. Zwei Dinge beschäftigen ihr Gemüt anhaltend: die fliehenden Himmelsmuster über ihr und der steinerne Kanon in ihr.
Das ist die Geschichte mit Agnes:
Als ich sie das erste Mal sah, trug sie ein biederes Kleid und ein anzügliches Lächeln. Mein Interesse für sie stellte sich augenblicklich ein. Es gab auch in unserer Geschichte einen hinderlichen Dritten und widrige Umstände. Weswegen wir uns häufig in Leidenschaft, häufiger noch in Raserei berührten. Ich verehrte ihren Körper und ich verehrte ihre Lust. Ich studierte die Klaviatur ihrer Laute und die Gangarten ihres Atems. An manchen Tagen glitten wir hinab in eine Gegend wie Tiefsee. Manchmal war Sonntag um uns. Manche Tage glichen durcheinander gewirbelten Farbfetzen aus kostümgrau und dessousrot.
So geht die Geschichte mit Agnes weiter:
Ich erlernte die richtigen Worte für ein Sesam-öffne-dich. Andere Worte hatten eine Rückseite aus Steinzacken. Sie erzählte mir Geschichten von aufgeschlagenen Knien, frühen Herzwehs, von einem zersprungenen Frühstücksteller, einer schlecht schließenden Schranktür, vom ersten Gang allein in die neue Schule, vom ersten Tag allein im fremden Land, vom Vorher-Nachher eines Erlebnisses, vom Besser-Schlechter einer Entscheidung, von einer beinah stattgefundenen Eheschließung, vom beinah besten Jobangebot, vom Marder auf dem Dachboden und von der Nachbarin im Trachtenkleid mit dem Jesus in ihrem Leben. Sie gab mir Antworten auf Gretchenfragen, ein zu weites Hemd zum Überziehen, eine getöpferte Tasse mit Weißweinschorle, einen neuen Begriff von Warten und ein Gedicht, das von Abschied handelte.
Das ist das Ende der Geschichte mit Agnes:
Tags schärfte sie ihren Sinn für Zeitläufe und zitierte aus dem Kohelet. Nachts zerbiss sie meine Lippen und schälte Kerben in meine Haut. Sie spann die tausend Fäden fester und trug mir auf, sie zu zerreißen. Sie kündigte ein Später an und befeuerte ein Weißtdunoch. Sie erklärte mir den Gang der Dinge, sie klärte ihre Miene, wenn ich vor der Tür stand, obwohl ich es nicht sollte. Sie stellte Regeln auf. Sie sagte: Du sollst nicht denken, ich sei eifersüchtig, aber betrüge mich nicht. Du sollst keine Namen für mich finden, denn ich will nicht deine Muse sein. Du sollst nicht über mich sprechen. Du sollst leben, als gäbe es mich nicht, aber wenn ich mich nach dir sehne, gib mir so viele deiner Tage, wie ich verlange. Du sollst die Stunden ehren, die ich dir gewähre. Du sollst nicht trauern. Du sollst nicht vergessen. Du sollst nicht fortgehen. Du sollst nicht falschen Hoffnungen nachhängen. Du sollst nicht wollen, vertraut zu werden mit meinem Haus und meinen Freunden und mit allem anderen, was zu meinem Leben gehört.
Der Tag, der kommen musste, kam und er ging wieder, kam und ging, und er kam abermals und dann ging er nicht mehr. Ich zähle Kerben und Sprünge in der Haut, in Lippen, Tellern, Tassen, ich zähle Tage seit dem Tag, der kam, zähle Fäden an der Decke, zähle die Steine der Mauern, zähle Weißtdunochs und Tongangarten und Klaviaturen gesagter Worte, ich zähle Bäume, Fußgänger, Autos und Hunde, ich zähle Farbfetzen aus kostümgrau und dessousrot und ich zähle Tage, die kommen und gehen, und der Tag, der kam, geht nicht, er bleibt.
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sofffie. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.