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„mit zerfurchtem Schädel aufgewacht" *

von La_Habana


Sie kann sich an alles erinnern.
Es geht immer nur um Sex. Naja, Sex und Tod, oder so, wenn man es runterbricht auf das, was uns alle umtreibt. Dass der Tod etwas war mit dem sie seit einiger Zeit, mehr oder weniger, ihre Brötchen verdiente, war weder geplant noch zuvor in irgendeiner Weise Bestandteil ihrer Vorstellungswelt gewesen. Während ihrer Studienzeit hatte sie sich für ganz andere Arbeitsbereiche interessiert, sich einen ganz anderen Weg ausgemalt. Und dann hatte sie sich doch für die Stelle im Hospiz beworben; vielleicht auch, weil ihr die Tatsache des Sterbens nie wirklich Angst gemacht oder Abscheu in ihr erregt hatte. Es war ihr, in seiner Unumgänglichkeit, Unumkehrbarkeit und Endgültigkeit, fast entspannend banal und unkomplizierter erschienen als vieles Andere, womit sich Sozialarbeiter sonst so herumschlagen müssen, und so hatte sie begonnen, sich im Palliativbereich an ihrem Platz zu fühlen; fortan nickten sie einander distanziert zu, der Tod und die Frau, jeden Tag, ohne Angst und fast leidenschaftslos.
Am Anfang ihrer Tätigkeit hatte sie den Fehler gemacht, die vorgeschriebene Einzelsupervision als mitunter lästige Notwendigkeit zu empfinden, etwas, das ihr Zeit wegnahm, die sie lieber im Gym oder mit Freunden verbracht hätte.

Die Supervision fand alle vier Wochen in der Praxis einer Psychologin Mitte vierzig statt. Sie hatte sie aufs gerade Wohl ausgewählt, schlicht weil ihre Praxis, als einzige unter den gelisteten Anbieter_innen, nur wenige Minuten zu Fuß von ihrer Wohnung entfernt lag, und sie nicht auch noch stundenlang herumfahren wollte um diese Pflichttermine wahrzunehmen.
Die erste Stunde hatte ergeben, dass die beiden wohl recht gut würden miteinander arbeiten können und so war es dabei geblieben, dass sie einander, im Monatsabstand, für eineinhalb Stunden gesehen und gesprochen hatten. Sie wusste nicht viel von ihr, nur, dass sie geschieden war, zwei Söhne im Teenageralter hatte, zweisprachig aufgewachsen war, wohl nicht weit entfernt lebte, gerne schwamm, fahrradfuhr und Yoga machte und kein Fleisch aß.
Ehrlich gesagt hatte sie nichts davon aktiv in Erfahrung gebracht, es hatte sich einfach am Rande ihrer Gespräche nicht vermeiden lassen, im Laufe der Zeit auch mal das eine oder andere an Privaterem auszutauschen. Erst als sie eine schmerzhafte Trennung durchlebte, berührten ihre Gespräche auch andere Themen als schräge Teamdynamiken oder die Frage der bestmöglichen professionellen Abgrenzung von Klienten in bestimmten Situationen. Abgesehen von den fachlichen Qualitäten der Psychologin, schätzte sie deren Sinn für Humor, ihre blitzschnelle Auffassungsgabe und ihre authentische, warme Art durchaus, nur hatte sie sich niemals auch nur im Entferntesten Gedanken darüber gemacht, dass ihr da gegenüber tatsächlich eine äußerst attraktive Frau saß… Sie war einfach die Frau mit den hilfreichen Inputs gewesen, mehr nicht.
Eines Tages sollte sich das allerdings, schlagartig, änderrn.

Als sie ihr an diesem Nachmittag schon aus der halbgeöffneten Praxistür entgegen strahlte, während sie noch die letzten Treppenstufen hinter sich brachte, gerieten ihre Knie, vor lauter Erstaunen und Aufregung, unversehens ins Zittern. Leicht perplex und verdammt unsicher geworden, folgte sie ihr ins Beratungszimmer und konnte es dabei einfach nicht lassen, sie genauer anzusehen als jemals zuvor.
Die Psychologin trug verwaschene Jeans, ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Lederjacke, und ihr Gesicht war zum größten Teil hinter den Vorhängen ihres dunkelbraunen, glatten, außergewöhnich langen, offenen Haars versteckt, das sie gern berührt hätte. Soweit sie sehen konnte war ihr Gesicht, im Gegensatz zu einigen Malen davor, ungeschminkt.
Sie war etwas kleiner, als sie bisher auf die Entfernung oder im Sitzen hatte beurteilen können, doch keine eins fünfundsiebzig, schätze sie; die Rückseite ihrer Beine verriet feste Schenkel, und der Übergang zum Po versprach eine Wölbung, vollendet wie ein Kunstwerk – gequält schloss sie die Augen. Was, um Himmels Willen, tat sie da, warum gab sie sich diesen unsinnigen Beobachtungen hin?
Erleichtert stellte sie fest, dass sich zumindest im Praxisraum nichts, aber auch gar nichts, verändert hatte:
Die Atmosphäre in diesem Zimmer gab jedem Ding seinen Platz und seine Ordnung.
Sie ließ sich auf das Sofa fallen, als wolle sie hundert Jahre dort verbringen.

Irgendetwas an positiver Spannung lag da plötzlich über allem. Mit einem Mal regte sich eine ungekannte Neugier in ihr auf alles, was diese Frau ausmachte, auf alles was sie war und alles an ihr.
Wahrscheinlich hatte die Nervosität, die sie bei sich wahrnahm, gar nichts mit dieser Frau zu tun. Vielleicht entsprach sie zufällig ihrem Schönheitsideal, wenn sie sich auch nicht bewusst war, so etwas überhaupt verinnerlicht zu haben. Hoffentlich war es nur das – die Entdeckung, dass es ein menschliches Wesen gab, das ihre ästhetischen Maßstäbe zutage förderte.
Fast unmerklich rutschte sie, während der gesamten Sitzung, unruhig auf ihrem Hosenboden hin und her, was sich noch bedeutend verstärkte, als sich das betörende Bild ihres Körpers – ohne Jeans und T-Shirt – in ihre Vorstellung schlich.
Manchmal reckte sich die Psychologin und spannte dabei die Muskeln ihrer Beine an.
Die Linien ihrer Beine weckten unweigerlich die Begierde nach der Stelle, an der sie zusammenliefen. In diesem Raum leuchtete Körperlichkeit dieser Frau, wie eine Flamme.
Mit verspannter Muskulatur und rauschenden Ohren verharrte sie mit einem Mal regungslos in ihrem ihrer Sitzposition, bange dass eine falsche Bewegung die Situation aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Während der letzten Tage hatte sie sich damit abgefunden, dass ihre Stunden gezählt und Begehren und Liebe ferne Erinnerungen waren, und nun glich die Fortsetzung ihres Lebens einem Geschenk, das der Empfänger ganz verwirrt öffnet. Sie hatte eigentlich kein Recht mehr darauf, denn sie hatte bereits allem entsagt.

Als die Sitzung zu Ende war, und die Psychologin sie anschickte sich zu erheben, und sie in Richtung Ausgangstür zu geleiteten, nahm sie all ihren Mut zusammen und blieb demonstrativ noch einen kleinen Moment sitzen. ,„Wie lange machst du das eigentlich schon?“ Diese Frage war zwar auch nicht gerade sehr originell, aber sie fand, dass sie ihrer Neugier hinsichtlich der Gedankenwelt dieser Frau durchaus nachgeben konnte, und setzte, nach einer kleinen Pause, in der sie ihren Blick nicht eine Sekunde von ihr abwendete, mit einer Art kühner Entschlossenheit, die sie in diesem Moment selbst glaubte aus einem Kinofilm geklaut zu haben, die jedoch erstaunlich cool rüberkam, nach, bevor sie sich erhob:
„Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich nämlich durchaus auf den Gedanken kommen, ich mache dich nervös… und verwirre dich.“ und sah ihr dabei weiterhin direkt in die dunklen Augen.

„Doch, du verwirrst mich.“, sagte sie unumwunden. War das ihr Ernst oder nur die großspurige Antwort einer verlegenen Seele?
Sie wusste nicht genau, was sie meinte. Die Maßstäbe, nach denen sie wertete, urteilte und einordnete waren ihr unbekannt. Vermutlich spielte sich ihr Leben in Behandlungs- und Besprechungsräumen ab, irgendwo zwischen Aufmerksamkeit, Fachliteratur und Dokumentation, und die Begriffe, mit denen sie sich herumschlug, interessierten sie nur ganz am Rand. Was wusste sie schon vom Leben einer Psychologin?
Auf ihrem Gesicht malte sich, dessen war sie sich sicher, ein mehr als leicht törichtes Lächeln, die Augen gingen ihr über, und sie trat, an der Tür angekommen, nicht einmal zur Seite.
Wenn sie sich der Psychologin etwas mehr nähern würde, könnte sie mit der Zunge ihr Ohr streicheln, ihr sanft ins Ohrläppchen beißen, ihren Hals küssen. Sie hielt den Atem an bei dem Gedanken, dass sie sich womöglich nicht beherrschen könnte. Es war bestimmt achtzehn Monate her, seit sie mit einer Frau geschlafen hatte, und sie fragte sich, ob die Enthaltsamkeit vielleicht Auslöser für diesen Irrsinn war.
Glückselig fühlte sie ihr Herz rasen, das unter dem Einfluss enormer Adrenalinstöße zu stehen schien, aber gleichzeitig ergriff sie auch eine seltsame Traurigkeit über die schlichte Unwegbarkeit.
Die Psychologin strich sich das Haar zurück und unterzog sie einem forschenden Blick. Wie auf ein Zeichen zog sie sich wenige Sekunden später in ein unbehagliches Lächeln zurück und schlug die Augen nieder.
Sie lächelte ungewollt breit, zog die Augenbrauen hoch und gab so etwas wie ein Schnauben von sich, einen Luftstoß durch die Nasenlöcher, der verbergen sollte, dass ihr keine angemessene Replique einfiel und fühlte sich wie ein Vollidiot. Ohne ein weiteres Wort trat sie hinaus in das Siegenhaus und schloss dir Praxistür hinter sich.
Sie wusste nicht mehr genau, wie sie es geschafft hatte, nach Hause, in ihr Wohnzimmer, zu gelangen, jedenfalls fand sie sich plötzlich auf ihrer Couch wieder.
Sie glaubte, sie habe mehrere Stunden geschlafen, besiegt von ihrer Traurigkeit und dem stummen Mündungsfeuer des Vorabendfilms.
Sie nahm ein einsames Abendessen ein und sagte ihr stumm all das, was sie ihr gesagt hätte, wäre sie ihr erreichbar gewesen. Vor jedem Schluck hob sie das Glas und trank ihr zu: „Auf dein Wohl du Schöne!“
Nachdem sie auch ihre darauf folgenden Schokoladeneisexzesse verdaut hatte, ertappte sie sich im Spiegel, unwürdig und missmutig, und staunte darüber, dass die Verheerungen der Liebe doch recht fürchterlich sind. Von Liebe, Sehnsucht und Treue hatten sie gesprochen, und diese abgedroschenen Worte hatten durch die Lippen dieser Frau neuen Glanz gewonnen. Niemals würde sie den dunkelgrauen BH-Träger von ihren gebräunten Schultern schieben, niemals würde sie sie aus einem Kleid steigen sehen halb vorgebeugt, doch noch mit geradem Rücken und prüden Knien, niemals würde sie zwischen ihren Schenkeln in ihr ertrinken.
„Und wir beide allein, im Dämmer der Welt.“, dachte sie noch.


























(*zitat v. gabriel garcía márquez)




copyright © by La_Habana. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.





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