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24.06.2013 20:22
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0 Die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Frau Christine Lüders, ist mit ihrer Rede der Aufgabe des Denkmals sehr gerecht geworden. Chapeau! Rede zum Gedenken an die Opfer des § 175 des Strafgesetzbuches am Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen am 22. Juni 2013 in Berlin Rednerin: Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages und des Abgeordnetenhauses von Berlin, sehr geehrte Interessierte, heute gedenken wir der Zehntausenden Homosexuellen, die während des Dritten Reichs wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt, verurteilt und verschleppt wurden. Der Terror, dem sie ausgesetzt waren, das Leid, die Zerstörung von Biographien und Partnerschaften, die Entrechtung und die Vernichtung ihrer Menschenwürde – wir werden es nicht vergessen. Wir dürfen es nicht vergessen. Ganz besonders gedenken wir der Tausenden Homosexuellen, die in den Konzentrationslagern umgekommen sind. Der im Zuge der Gründung des Deutschen Reichs erlassene § 175 war von Anfang an ein Makel der Rechtsgeschichte. Er verletzte den Kernbestand der Menschenrechte und der Menschenwürde. Die Nationalsozialisten verschärften ihn 1935 drastisch. Die Folge waren jährlich an die zehntausend Verurteilungen, Willkürmaßnahmen wie Gestapo-Schutzhaft und Vorbeugehaft. Gefängnis, Zuchthaus, Konzentrationslager. Meine Damen und Herren, es ist eine Schande, dass die junge Bundesrepublik in dieser Frage das nationalsozialistische Unrecht nicht aufhob, sondern weiterhin für Recht erklärte. Die im Dritten Reich nach dem § 175 gesprochenen Urteile blieben rechtskräftig. Es ist heute kaum noch zu fassen und es macht mich wütend: Aus dem KZ befreite Homosexuelle wurden häufig von den Behörden in Gefängnisse überstellt, wo sie die „Reststrafe“ verbüßen mussten. Die nationalsozialistische Fassung des § 175 blieb in Kraft und wurde weiterhin zur Verurteilung von Homosexuellen angewandt. Es gibt keine Gruppe von Menschen, die in der jungen Bundesrepublik so systematisch strafrechtlich verfolgt wurde wie Homosexuelle. In den 20 Jahren von der Gründung der Bundesrepublik bis zur Strafrechtsreform 1969 wurden über 100.000 Ermittlungsverfahren nach dem § 175 eingeleitet und über 50.000 Menschen verurteilt. Wir alle wissen - und meine Generation hat es noch im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis erlebt: Die strafrechtliche Verfolgung Homosexueller war nur die Spitze des Eisbergs: Erpressung und Doppelleben, gesellschaftliche Ausgrenzung und berufliche Vernichtung, Angst und Selbstmorde gehörten zu diesem gesellschaftlichen Klima, das erst schrittweise aufgebrochen wurde. Wir dürfen nicht vergessen. Denn: Diskriminierung, Beleidigungen und Gewalt gegen sexuelle Minderheiten sind noch heute Realität. Wir erfahren immer wieder: Gewalt, Ausgrenzung und Diskriminierung von Homosexuellen gehört nach wie vor zum Alltag. Eine aktuelle Studie der Europäischen Grundrechteagentur hat ergeben, dass 90% der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans* in ihrer Schulzeit Diskriminierung erlebt haben. Viele können sich noch heute nicht offen im Beruf zeigen oder stoßen ähnlich wie Frauen an eine „gläserne Decke“. Meine Damen und Herren, leider zeigt auch der Blick zu unseren Nachbarn, dass die Menschenrechte von Homosexuellen immer noch und immer wieder gefährdet sind: Russland hat ein landesweites Gesetz erlassen, dass öffentliches Sprechen über Homosexualität mit Geld- und Gefängnisstrafen und Publikationsverbot bedroht. Jetzt ist es homosexuellen Paaren aus dem Ausland auch noch verboten worden, russische Kinder zu adoptieren. Mich hat es zutiefst erschreckt und es erfüllt mich mit Sorge, wie es einer unheiligen Allianz in Frankreich gelungen ist, viele, auch junge Menschen gegen Gleichberechtigung zu mobilisieren. Solche Gesetze und Kampagnen rechtfertigen Vorurteile und ermutigen zu Hass und Gewalt. Es ist kein Zufall, dass die Zahl der Übergriffe und Hassverbrechen gegen Homosexuelle in solchen Situationen ansteigt. Natürlich haben wir große Erfolge in der Gleichstellung sexueller Minderheiten errungen. Darauf können wir heute auch stolz sein. Die Karlsruher Richter haben mit ihren Urteilen nun mehrfach klargestellt: Es darf keine Ungleichbehandlung von eingetragenen Lebenspartnerschaften gegenüber der Ehe geben. Die Freude über diese Fortschritte sollte aber nicht vergessen machen, dass Lesben und Schwule ihre Rechte immer wieder beim Bundesverfassungsgericht einklagen müssen, weil der Gesetzgeber die völlige Gleichberechtigung von Lesben, Schwulen, Trans* und Intersexuellen immer noch verzögert. Gerade deswegen ist es so wichtig, dass wir alle gemeinsam heute am CSD für Respekt, Gleichberechtigung und die Menschenrechte sexueller Minderheiten demonstrieren und der homosexuellen Opfer des § 175 im Nationalsozialismus aber ganz besonders auch in der jungen Bundesrepublik gedenken. Wir stellen uns damit in die Tradition der vielen mutigen Juristinnen, Juristen, Medizinerinnen und Mediziner, die schon kurz nach der Einführung des § 175 im Jahre 1872, im Kaiserreich, der Weimarer Republik und auch in der Bundesrepublik für dessen Abschaffung kämpften und dafür Anfeindung und Isolierung in Kauf nahmen. Lassen Sie mich an dieser Stelle folgenden Gedanken betonen: Es reicht eben nicht, über vergangenes Unrecht zu sprechen. So einfach dürfen wir es uns nicht machen. Gedenken richtet sich nicht nur in die Vergangenheit, Gedenken stellt uns die Aufgaben für die Gegenwart: Lassen Sie uns für die völlige rechtliche Gleichstellung eintreten. Die Ehe muss geöffnet werden für alle. Lassen Sie uns dafür kämpfen, dass das Benachteiligungsverbot im Artikel 3, Absatz 3 unseres Grundgesetzes auf die sexuelle Identität ausgedehnt wird. Lesben und Schwule sind die einzige Opfergruppe des Nationalsozialismus, die immer noch nicht grundgesetzlich vor Diskriminierung geschützt ist. Und – dies ist mir ein besonderes Anliegen – lassen Sie uns dafür kämpfen, dass endlich alle Opfer des früheren § 175 rehabilitiert und entschädigt werden. Wir haben in dieser Frage eine schizophrene Situation: Sämtliche Urteile nach § 175 und 175a, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft ergangen waren, sind 2002 mit der Ergänzung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile pauschal aufgehoben worden. Die Opfer dieses Unrechts können seit 2004 Anspruch auf Entschädigung geltend machen. Die Urteile jedoch, die nach demselben menschenrechtswidrigen Paragrafen in der Bundesrepublik ergangen sind, sind dagegen weiterhin rechtsgültig. Das ist eine unerträgliche Situation. Die junge Bundesrepublik hat eine ganze Generation von Männern, die Männer liebten, um ihr Lebensglück betrogen. Dieses Unrecht nicht aufzuheben – das ist eine offene Wunde unseres Rechtstaates, die unbedingt geheilt werden muss. Die Antidiskriminierungsstelle unterstützt daher die Bundesratsinitiative des Landes Berlin „zur Rehabilitierung und Unterstützung der nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen Verurteilten“ und die entsprechenden Anträge im Bundestag. Ich möchte mich hier nicht auf die Diskussion angeblicher rechtlicher Hinderungsgründe einlassen. Es ist meines Erachtens auch eine theoretische Debatte. Denn das Bundesverfassungsgericht hat inzwischen mehr als deutlich zu erkennen gegeben, dass es eine Rehabilitierung nicht verhindern würde. Lassen Sie es mich noch einmal betonen: Diese Verfolgungen und Verurteilungen waren menschenrechtswidrig, das ist in unserem Land inzwischen allgemein anerkannt. Die Betroffenen sind durch diese Praxis im Kernbestand ihrer Menschenwürde verletzt worden. Nicht umsonst ist es Art. 1 unseres Grundgesetzes, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärt. Diese zu achten und zu schützen und bei Verletzungen wiederherzustellen, ist erste Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Wenn Menschen durch staatliche Gewalt in ihrer Menschwürde verletzt worden sind, reichen bloßes Bedauern und eine Entschuldigung nicht aus. Nein, es ist die Aufgabe derselben staatlichen Gewalt, die Opfer zu rehabilitieren und Wiedergutmachung zu leisten. Ich hoffe, dass es gelingt, dies in der kommenden Legislaturperiode durchzusetzen. Die Heilung dieses Unrechts ist nicht nur Pflicht gegenüber den noch lebenden Verfolgten und den Nachkommen der Verstorbenen. Es ist auch ein Zeichen gegen Diskriminierung und Ausgrenzung in der heutigen Zeit. Denn wie wollen wir Respekt und Akzeptanz von sexuellen Minderheiten unserer Jugend vermitteln, wenn die Urteile weiterhin Bestand haben? Ich danke Ihnen. http://www.antidiskrimini [...] =1848782
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