von nightingale_
Langsam blicke ich von dem vor mir liegenden Rosenstrauß auf in den alten, matten, hellbraun gerahmten Spiegel. Die Wohnung liegt still dar, dunkel, nur meine Augen, die leicht glänzen. Tiefbraun. Der Geruch der ungeöffneten Weinflasche scheint aus dem Nebenzimmer bis hierhin zu treiben. Rosen. Wein. Ich lächele. Bringt nicht normalerweise der Gast so etwas mit?
Stattdessen stehe ich hier, betrachte mich im Spiegel, in Erwartung der Türklingel. Ich sehe dich vor mir, wie ich die Tür öffne, wie du dort stehst, deine leuchtenden Augen, diese unfassbare Mischung aus Grau und Blau, deine Art, dein Lächeln.
Etwas in mir streift leicht meine Seele. Glück. Kaum wahrnehmbar, fast wie ein Flügelschlag, ein Insekt, nach dem man greift, doch noch ehe man es fassen kann, ist es weg. Unsichtbar.
Glück also... ein sanftes Gefühl. Weiterhin sehe ich mir in die Augen, in dieses Braun, das mich so unverwandt ansieht. So glücklich fremd.
Bin das ich? Bin das wirklich ich?
Das scheine ich kaum zu sein. Ich erkenne mich nicht wieder. Ich erkenne darin nicht die Person, die jegliches Gefühl in voller Intensität wahrnahm und bedeutete es auch noch so viel Schmerz. Ich erkenne darin nicht die Person, die ein einzelnes Wort so schnell verletzen konnte. Die Person, deren Herzschlag sich beschleunigte, las sie auch nur den Adressaten einer neuen Nachricht.
Nein, diese Person ist dort nicht mehr. Sie ist fort, gegangen. Stattdessen steht dort jemand, den ich nicht kenne, mit dem ich nicht aufgewachsen bin. Stark. Nüchtern. Realistisch. Und irgendwo doch so voller Gefühl. Glücklich. Fremd.
Ich erinnere mich, wie mich die letzten Nachrichten meiner Ex-Freundin nicht mehr berührten, wie mich ihre Art und Weise nicht einmal mehr ärgerte, schlicht und einfach egal war. Egal... ein Wort, das ich in der Vergangenheit nicht zu kennen glaubte. Alles hatte eine Bedeutung gehabt, jeder Brief, jede Nachricht, jeder Schmuck.
Und nun hatte ich es alles einfach weggeworfen, ohne Reue, ohne Schmerz. Ohne irgendeine Empfindung. Beendet. Abgeschlossen. Keine Notwendigkeit der Erinnerung. Nein, das war nicht die Person, die ich kannte.
Die Türglocke läutete. Ich riss mich vom Spiegel los und entzündete im Flur das Licht, ehe ich die Tür öffnete. Davor du. Du mit deinen leuchtenden blau-grauen Augen, diesem unfassbaren, offenen Lächeln, dieser Einigkeit aus Handlung und Wort. Du.
Ich lächele und nehme dir die Jacke ab.
Das fühlt sich nicht neu an. Das fühlt sich nicht aufregend an. Es fühlt sich erwachsen an. Unverwundbar. Stark. Richtig.
Ich geleite dich zum Tisch und entzünde die Kerzen. Der Wein fließt bordeauxrot in unsere Gläser. Der Geruch des Essens liegt in der Luft und du siehst mich an.
Nein, es gibt jetzt keinen Grund mehr für Schmerz.
Es gibt keinen Grund mehr, dass irgendetwas noch Bedeutung hätte.
Keinen Grund, auch nur eine Empfindung jemand anderem mehr zu widmen.
Denn alles an Empfindung bist du.
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nightingale_. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.