von orange_girl
Es wird Zeit, Zeit, dass Du gehst,
sagte sie und wandte sich von ihr ab. Sie ging zum Fenster und schaute auf die belebte Straße. Der Schnee fiel immer noch sacht auf die Gehwege und die Menschen eilten an den Geschäften vorbei.
Aber warum? Warum soll ich gehen? Willst Du nicht mehr, dass ich bei Dir bin?
Die Tränen waren in ihrer Stimme zu hören, dieses leichte Vibrieren, das sie sonst nicht hatte. Nein, im Gegenteil, sie hatte eine wunderbare Stimme. Weiblich, ja, nicht sanft, ein bisschen rau, aber doch warm und wohlklingend. Und vor allem klar war sie, die Stimme. Nicht immer unbedingt das, was sie sagte, aber ihre Stimme, die war klar.
Sie wollte sich jetzt nicht umdrehen, konnte es nicht ertragen, die Tränen auch noch in ihrem Gesicht zu sehen, denn sonst würde sie nicht tun, was sie schon so lange Zeit hätte tun sollen. All die Jahre schon, die sie mit ihr verbracht hatte. Ja, sie hatte es sich irgendwie auch selber ausgesucht, aber jetzt wollte sie es endgültig beenden.
Nein, ich will nicht mehr, dass Du bei mir bist! Du laugst mich aus, Du bestimmst über mich, überall wo ich bin, bist auch Du, ich kann das einfach nicht mehr ertragen. Wenn Du jetzt nicht gehst, dann werde ich Dich wohl niemals gehen lassen können.
Auch sie hatte ein leichtes Vibrieren in der Stimme, konnte es kaum unterdrücken. Aber sie wusste, es musste sein. Sie konnte nicht länger mit ihr zusammenleben, musste sich von ihr befreien, um endlich wieder ihr eigenes Leben führen zu können.
Es tat weh, sie jetzt wegzuschicken, doch sie hatte keine Wahl, denn von alleine würde sie wohl nicht gehen. Und wohl auch nicht, wenn sie schwach ist, denn das würde sie als Zeichen werten, dass die Entscheidung nicht fest ist.
Du liebst mich doch! Du kannst mich doch nicht wegschicken, wen sollst Du denn dann noch lieben?
Ein Zucken erfasste ihren Körper, ein Schauer, der durch alle ihre Glieder fuhr. Ja, sie hatte Recht, das war der Grund, warum sie noch hier war, weil sie sie liebte. Und weil sie Angst hatte, dass da wo sie bisher war eine Leere zurückbleiben würde. Das trifft sie immer wieder, ihr tiefstes Gefühl – die Liebe, und ihre größte Angst – die Einsamkeit. Beides vereint.
Ein Seufzen entfuhr ihren Lippen.
Aber Du liebst mich nicht.
Stille. Ruhe breitete sich im Raum aus. Das hatte sie so noch nie ausgesprochen, es war immer unklar, irgendwie lag es in der Luft, aber sie konnte es bisher nicht greifen. Ein leichtes Lächeln spiegelte sich auf der Scheibe. Ja, genau das war der Grund, sie liebte sie gar nicht. Und jetzt endlich traute sie sich, diese harte Wahrheit auszusprechen, sie anzunehmen, so kalt und klar wie sie war.
Sie drehte sich um und sah ihr direkt ins Gesicht.
Du musst jetzt gehen, lass mich frei.
Sie sah die Tränen auf ihrem Gesicht, aber sie empfand kein Mitleid. Das erste Mal seit Jahren wollte sie sie nicht trösten. Sie wollte nur eins, dass sie jetzt geht und sie endlich frei sein konnte.
Ein Lachen schallte von der Strasse hoch. Sie wandte sich wieder der Scheibe zu, schaute hinaus und sah ein paar Kinder, die übermütig durch den Schnee tobten. Dieser Anblick machte sie glücklich und Ruhe breitete sich in ihr aus.
Als sie sich wieder umdrehte, war sie weg. Ein böser Schatten, der nun der Vergangenheit angehören würde.
Und draußen fiel immer noch der Schnee vom Himmel.
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orange_girl. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.