von Preya
Rasch wählte sie die paar Ziffern und schon hing ihr Handy wieder an ihrem Ohr. Es klingelte. War schon mal ein gutes Zeichen. Man konnte nie sicher gehen, ob Gilians Mama ihr Handy auch wirklich eingeschaltet hatte. Plötzlich stoppte das Tuten in Rebeccas Ohr. “Ja, Liets”, nahm jemand ab.
„Hallo, hier ist Rebecca. Gillian hatte einen Unfall“, sagte sie sofort. Langes Drumherumgerede war nie ihr Ding gewesen.
„Was ist passiert?“, wollte ihre Mutter sofort wissen.
„Das weiß ich selbst nicht genau. Gilian ist auf dem Weg ins Krankenhaus, Uniklinik. In zwei Stunden hole ich Nele vom Bahnhof ab und dann fahren wir gemeinsam hin.“
„Ich sag meinem Mann bescheid, wir kommen sofort!“
Ohne ein „Auf Wiedersehen“ hatte ihre Mutter aufgelegt. Das macht man wohl, wenn man eine solche Nachricht bekommt. Rebecca schlurfte zurück in die Küche und machte sich ihre Brote. Bilder von Gilian sah sie vor ihren Augen. Wie sie dort gelegen hatte. So hilflos. Wie konnte das passiert sein? Gilian passte immer auf wenn sie mit dem Rad unterwegs war. Gerade hier in einer Großstadt wäre alles andere auch eigene Dummheit. Aber so wie sie ausgesehen hatte, mit den vielen Schürfwunden im Gesicht und an den Händen, konnte man denken, sie sei ein paar Meter über den Boden gerutscht und vorher im hohen Bogen geflogen. „Mensch Gilli“, sagte Rebecca leise und biss in ihr Nutella- Toast.
„Hast du schon was gehört?“ Es war das erste was Nele zu Rebecca sagte.
„Nein, woher denn. Ich war doch noch gar nicht dort.“
„Sah es schlimm aus?“
Sollte sie ihr jetzt die Wahrheit sagen? Genau genommen konnte sie es nicht einschätzen, aber das Bild von Gilli sah schon übel aus. „Nun ja, wie man eben nach einem Zusammenprall mit einem LKW aussieht“, umging Rebecca eine direkte Antwort.
„Sag schon!“, forderte Nele sie auf.
„Ich kann es dir nicht sagen. Äußerlich hatte sie natürlich einige Blessuren, aber was innerlich kaputt ist, weiß ich nicht. Die Ärztin hat nichts gesagt. Und Gilli war nicht bei Bewusstsein.“ Nele erschrak. „Das wird wieder“, sagte Rebecca aufmunternd. Es sollte zumindest zu klingen.
„Ich hab Angst“, sagte Nele leise.
„Ich auch“, entgegnete Rebecca und nahm sie in den Arm. Es war das erste Mal, dass die beiden sich in der gleichen Situation sahen. Beide hatten Angst um Gilli. Beide machten sich Sorgen. Sie standen ihr in etwa gleich nah. Die eine war ihre Freundin, die andere war ihre beste Freundin und heute mussten sie zusammen halten und vielleicht gegenseitig füreinander da sein.
„Komm, wir fahren“, meinte Rebecca und deutete nach rechts, dort lang geht’s zum Auto.“
„Wie lang ist das jetzt her?“, wollte Nele wissen.
„Was jetzt genau?“
„Na, der Unfall.“
„Ach so. Zwei bis drei Stunden.“ Nele war sichtlich nervös. Sie knetete ihre Hände, hörte kurz auf, als sie in Auto stiegen und fing sofort wieder an, als Rebecca den Motor startete. „Hey, das wird wieder. Es ist doch noch gar nicht klar, dass wirklich was Schlimmes passiert ist“, sagte Rebecca ruhig und legte ihre Hand auf Neles Hände, als eine rote Ampel sie zum Stehen bleiben veranlasste.
„Ja, eben! Was ist, wenns richtig schlimm ist? Wenn sie zu stark verletzt ist. Wenn sie…“
Rebecca schnitt ihr das Wort ab. „Wag es ja nicht das auszusprechen, was du gerade denkst. Ich habe zwei Menschen durch Autounfälle verloren. Noch einmal passiert das nicht.“ Sie war wütend geworden. Nicht auf Nele, sondern auf die Situation.
„Darf ich fragen, wen?“
„Meinen Vater als ich neun war. Meinen Freund vor drei Jahren“, antwortete Rebecca. Sie wunderte sich, dass Gilian ihr in den drei Jahren nicht davon erzählt hatte.
„Oh“, machte Nele leise.
„Ist schon gut. Ist Vergangenheit. Aber noch mal lass ich das nicht zu“, wiederholte sie mit Nachdruck. „So, wir sind da!“ Sie hatte mit einem Satz eingeparkt, schaute noch mal zu Nele rüber und stieg dann aus. Ihr Blick suchte auf dem großen Parkplatz den Firmenwagen von Gilians Mutter. „Da ist es ja“, sagte sie leise, Nele konnte sie nicht hören. Sie saß noch halb im Auto. Noch ehe sie ausgestiegen war, kam Gilians Mutter auf Rebecca zu. Ihr Gesichtsausdruck war schwer zu deuten.
„Hallo ihr beiden“, sagte sie.
„Nele hatte sie gar nicht kommen sehen. Erschrocken zuckte sie zusammen und stieß mit ihrem Kopf gegen das Autodach. „Au!“, stieß sie hervor.
„Gut, dass ihr da seid.“
„Wie geht es Gilian. Wissen die Ärzte schon was?“, fragte Rebecca.
„Sie ist noch im OP. Ständig laugen Krankenschwestern und Ärzte raus und wieder rein. Aber niemand sagt was“, antwortete sie verzweifelt.
„Das ist doch immer das gleiche. Ärzte hüllen sich immer in Schweigen.“ Rebecca kochte schon wieder auf vor Wut.
„Nele, ich bin froh, dass du auch da bist“, meinte Gilians Mutter in die aufkommende Stille. Das Verhältnis der beiden war eher schlecht. Gilians Mutter kam immer noch nicht damit zurecht, dass ihre einzige Tochter sich vor drei Jahren für eine Frau entschieden hatte. Sie sorgte sich um ihr Dasein als Großmutter. Somit war es ein großer Schritt für sie auf Nele zu. Diese lächelte nur verlegen. „Gehen wir rein?“, fragte sie. Kaum ausgesprochen, setzten sie sich in Bewegung. Vor dem OP-Bereich wartete Gilians Vater, der die beiden jungen Frauen herzlich zur Begrüßung umarmte. Er mochte Nele. Er fand sie und seine Tochter passten sehr gut zusammen. Und er vertraute seiner Tochter, die schon immer den Kinderwunsch in sich hatte. „Du siehst blendend aus“, gab er der kleinen zierlichen Nele als Kompliment.
„Im Gegensatz zu Gilli“, fügte Rebecca dem hinzu, die sah wie zwei Krankenschwestern mit einem Krankenbett aus dem OP-Bereich kamen. Am Bett hingen die Infusionen und ein fast leerer Bluttransfusionsbeutel, der über einen Schlauch mit Gillis Hand verbunden war. In ihrem Gesicht waren einige große dicke Kratzer und Schürfungen. Auf Gilians Stirn war ein breites Pflaster unter dem sich die Naht der Platzwunde versteckte. Der linke Arm war eingegipst, ebenso wie das linke Bein.
Die beiden Schwestern gingen stumm an den vier Wartenden vorbei. Hinter ihnen tauchte endlich der Arzt auf. Zunächst sprach er nur mit Gilians Eltern. Rebecca las in ihren Gesichtern: Erleichterung, Angst, Hoffnung. Alles wechselte. Es wurmte sie, dass sie ihn nicht hören konnte.
„Was hart er gesagt?“, fragten sie sofort, wie einstudiert.
„Platzwunde am Kopf, aber ungefährlich. Links sind fast alle Rippen gebrochen, ihr Lunge ist gequetscht. Der linke Arm ist an zwei Stellen glatt durch. Und ihr linkes Bein… nun ja“, ihr Vater brach ab, atmete tief ein und sagte schließlich: „Trümmerbruch.“ Nele stockte. Was hieß das? Was bedeutete das? „Wie lange?“, brachte sie so gerade hervor.
„Einen Monat Krankenhaus. Mit viel Glück ein halbes Jahr Reha, wenn Gilian gut mitmacht“, antwortete ihre Mama. Sie war ziemlich gefasst. Rebecca war heilfroh, dass es Gilian „gut“ ging. Nele kullerten die Tränen über ihre Wangen. „Wann kann ich zu ihr?“
„Heute nicht mehr. Sie braucht Ruhe. Morgen dürfen wir alle zu ihr“, antwortete ihr Vater.
„Aber“, begann Nele.
„Du kommst mit zu mir“, fiel ihr Rebecca ins Wort. „Und morgen Nachmittag sehen wir weiter.“
Nele nickte. Ihre Tränen kullerten immer noch unerbittlich
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Preya. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.