von Adlerin
Als Kind habe ich mir so oft gewünscht, dass manche Dinge immer und immerwieder passieren würden, damit ich sie ja nicht vergesse. Am liebsten wärees mir gewesen, wenn meine Augen und meine Ohren wie eine Kamera gewesenwären und alles um mich herum aufgenommen hätten. Dann hätte ich sie mir jenach Lust und Laune wieder angucken können. Doch leider war und ist dasnicht möglich. Das wurde auch mir mit den Jahren klar, als ich wie vieleKinder dazu getrieben wurde, endlich erwachsen zu werden. Bei mir passiertedas früher wie bei anderen Kindern, da meine Eltern sich trennten als ich 12Jahre alt war. Damals war frau mit 12 noch in der Pubertät und vergnügtesich noch nicht mit irgendwelche Typen so wie die Kinder heute. Ich zogdamals zu meinem Vater, da meine Mutter sowieso immer nur an ihre Karieregedacht und sowieso keine Zeit für mich gehabt hätte. Das es bei meinemVater genauso aussehen würde, wusste ich da natürlich noch nicht.
Die erste gemeinsame Entscheidung meines Vaters und mir, war die Wahlunseres neuen Wohnortes. Wir zogen in die Nähe von Frankfurt. Er fand dortsehr schnell einen sehr gut bezahlten Job. Mit dem Nachteil, dass ich ihnkaum noch zu Gesicht bekam. Früher war ich anderen Menschen gegenüber nichtgrade sehr aufgeschlossen, okay, daran hat sich bis heute auch nicht gradesehr viel geändert. Das erste Jahr in diesem Ort verbrachte ich größtenteilsalleine. Natürlich habe ich in der Schule viele andere Jugendliche in meinemAlter kennen gelernt, aber wir alle kennen ja die Jugendlichen in diesemAlter. Von ihren Hormonschüben überwältigt prügeln sich die Jungs halb zuTode, ärgern die Mädchen, welche sie doch eigentlich so lieb haben und dieMädels, tja, die lernen langsam ihre Wirkung auf das männliche Geschlechtkennen. Ich übrigens nicht. Noch nie hielt ich sehr viel von der Liebe,Beziehungen, Sex und solchen Dingen. Wofür das Ganze, damit man sich am Endewieder scheiden lässt und die Kinder bei nur einem Elternteil aufwachsen?
Mein Vater dachte noch nie so wie ich oder besser gesagt, ich dachte nochnie wie mein Vater. Und so fand er recht schnell jemand neues. Jemand istdie männliche Form eines Gegenübers. Das ist mir schon klar und der Satzbauist auch ganz richtig. Mein Vater lernte einen Mann kennen. Der nach einemMonat bei uns einzog. Also, die beiden wurden ein Paar. Kein: „Das ist aberein hervorragendes paar Schuhe“. Sondern ein „Paar“. Wie Mann und Frau halt.Nur, das es halt nicht Mann und Frau waren, sondern Mann und Mann. Ist dasdann auch noch ein Paar oder nicht?
Das waren so in etwa die Fragen, mit denen ich in meiner glorreichen Jugendbeschäftigte. Wenn mein Vater homosexuell ist, bin ich das dann auch?
Immerhin sind wir blutsverwandt und irgendwas ist auch sicher in meine Geneübergegangen. Da ich mich aber weder für Mann noch Frau interessierte, ließich die ganze Sache erst einmal ruhen. Es war sein Leben und er warglücklich. Das war und ist schließlich die Hauptsache.
Ja, bisher habe ich mir da nie so Gedanken drüber gemacht. Bis auf letzeWoche. Letzte Woche gab es so einen Tag, den ich liebend gerne auf Bandhätte, um ihn mir noch mal anzukucken. Um verstehen zu können, wie das allespassiert ist. Warum, das wäre zu hoch für mich, welch ein Mensch ist schonin der Lage, zu verstehen warum manche Dinge passieren. Nein, dafür istjemand anderes zu ständig. Aber zurück zu diesen einen fragwürdigen Tag. Ichhatte Urlaub. Einen Tag. Der erste Tag in meinem Arbeitsleben den ich mirmal freigenommen hatte. Warum, weiß ich jetzt auch nicht mehr so genau.Irgendwas mit einer Steuerabrechnung stöbert da noch durch meineGehirnwindungen, aber ob ich die gemacht, weiß ich auch nicht mehr so recht.
Gedächtnisschwäche mit 25. Entweder ist das eine verfrühte Form vonAlzheimer oder es lag tatsächlich nur an dieser einen Begegnung.
Ich ging friedlich durch die Feldwege meines Ortes um den Kopf ein bisschenfrei zu bekommen. Und um frische Luft zu schnappen, da die ja so gesund ist.
Ja, die ganzen Abgase und so sind ja auch so was von gesund. Okay, genugSarkasmus. Jedenfalls ging ich spazieren. Ohne Hund. Da ich keinen Hundhabe. Auch wenn mich die meisten Menschen deshalb für ein Monster halten,ich habe nicht sehr viel für Tiere übrig. Sie stinken, gut, man kann sieauch waschen. Sie fressen zu viel, haaren alles in der Wohnung voll. Genausowie sie ihre Haare sehr gerne an schwarzen Klamotten verlieren. Und danndiese Knuddelei. Entweder sie kommen an, wenn man grade keine Lust hat zuknuddeln oder sie wollen nicht knuddeln wenn man es selbst grade gerne tunwürde. Ich weiche grade wieder vom Thema ab. Ich wanderte durch die„frische“ Luft, ohne einen Hund und mit reichlich wenig im Kopf. Wohl gradedeshalb bekam ich kein Wort heraus, als mir zwei fröhlich lächelnde Frauensamt Hund entgegen kamen.
„Amy!“ Schrie mir die eine regelrecht entgegen und ließ ihren Körper sehrschnell folgen. Dieser lag mir dann in den Armen und ich spürte wie meineLuftzufuhr unterbrochen wurde. Als sie mich los ließ, bedachte sie mich miteinem skeptischen Blick und wandte sich an ihre Spazierkameradin. „Es hatihr wohl die Sprache verschlagen!“ Warum musste sie nur so schreien? Dieandere lächelte, schwieg und beschäftige sich mit ihrem kläffendenFellbündel. Das zog nämlich sehr stark an der Leine und während ich dieschreiende Frau betrachtete und mich verzweifelt dazu bringen versuchteirgend ein Wort heraus zu bekommen, kam mir etwas ganz anderes entgegen.
„Hasso!“ Oh nein, was für ein typischer Hundename. Hasso jedenfalls lief.Während die eine Frau schrie, blickte die andere auf ihre leere Hand und ichauf den Hund mit seiner Leine im Schlepptau. Irgendwo in meinem Kopf legtesich ein Schalter um. Und mir fiel ihr Name wieder ein. „Lisa.“ Sagte ichund wunderte mich, warum die Welt plötzlich begann Kopf zu stehen. Es wardann wohl doch kein Weltuntergang, sondern mein eigener Körper, der vonetwas schwerem umgestürzt wurde. Diesmal war es allerdings nicht dieschreiende Frau. Kurz darauf spürte ich etwas ekelhaft feuchtes über meinGesicht gleiten. „Hasso, nein!“ Wenn sie noch mal so geschrien hätte, wäreich davon gelaufen. Zum Glück bekam ihre Stimme einen sanften Klang, als dieandere Frau zu uns beiden rannte. Diese angelte nach der Leine, erwischtesie und zog Hasso von mir herunter. „Normalerweise ist er sehr schüchternund traut sich nicht an Menschen heran, das müsste dir doch bekanntvorkommen.“ Na toll, 5 Minuten da und schon werde ich aufgezogen. Vorsichtigrappelte ich mich auf, befreite meine Klamotten vom Staub und bekam endlichmeinen Mund auf. „Lisa, ich hab dich einfach nicht erkannt.“ „Um ehrlich zusein, sahst du so aus, als hättest du nicht mal den Papst persönlich erkanntwenn er vor dir gestanden hätte.“ Sie lachte und ich lachte mit. Nun nahmsie mich noch mal in den Arm, allerdings weniger stürmisch.
Jetzt wäre es wohl an der Zeit, mal ein paar Informationen über Lisa, dieschreiende Frau heraus zu lassen. Wir lernten uns nach meinem Jahr derEinsamkeit kennen. Und ja, schon damals lief sie mir schreiend entgegen. Siewurde von einem riesigen Kerl verfolgt. Wenn frau nur 1.40m groß ist und ihrein frühreifer 1.70m großer Junge entgegen kommt, dann ist er einfachriesig. Sie schrie und rannte, an mir vorbei. Der Riese folgte. Schnelldenken konnte ich noch nie, als übernahm mein Körper die Kontrolle undveranlasste mein rechtes Bein dazu, sich ein wenig auszufahren. Resultat,der Riese fiel um. Die Erde bebte. Und ich fand eine Freundin fürs Leben.
Lisa und ich waren von diesem Tag an unzertrennlich. Kein Wunder, wirbesuchten die selbe Schule und nach einiger Zeit wurde mir auch klar, dasssie in der selben Klasse ist wie ich und auch im selben Ort wohnt. Währendich mich durchs Leben träumte und grade so meinen Realschulabschluss machte,war sie immer die Ernsthaftigkeit in Person und eine totale Realistin. Dingedie es nicht gab, gab es einfach nicht. Einen Geist kann mich nichtanfassen, also existiert er auch nicht. Die Seele hat noch keiner gesehenund da sie auch nicht merkt, dass irgend jemand in ihr drin wohnt, gibt esdiese nicht. Es sind nun mal vom Gehirn kontrollierte Gefühle die wir fühlenund die uns dazu veranlassen unser Leben so oder so zu leben. Wirverbrachten die meiste Zeit unseres Beisammenseins mit streiten. Da ichnämlich der Meinung war, dass es Geister gibt, nur geistern die nun malnicht durch die Gegend, sondern sind als Schutzengel tätig, für die Menschendie ihnen in ihrem Leben was bedeutet haben. Und auch wenn man sie nichtsehen kann. Oft genug geschehen schreckliche Unfälle, bei denen dieUnfallopfer dann mit nur ein paar Schrammen aus einem Auto steigen das reiffür den Schrottplatz ist. Und auch die die Existenz der Seele habe ich schonimmer geglaubt. Schließlich ist es ja die Seele, die nach dem Tode übrigbleibt und dann als Geist „weiterlebt“.
Nun standen wir drei auf dem Feldweg und sprachen kein Wort mehr. LisasBlick ging dann zu ihrer Spazierkameradin und schön öffnete sich ihr Mund umeinen weiteren Wortschwall heraus zu lassen. Ich werde mich nie wiederbeschweren, wenn es mal zu ruhig sein sollte. „Oh Amy, da hab ich jajemanden ganz vergessen. Das ist Norah, du kennst sie sicherlich nochvon...“ So gerne ich ihr auch weiter zu gehört hätte, während die mir gradevorgestellte Norah und ich unsere Blicke hoben und uns ansahen, verstummtenfür mich alle Geräusche. Vorher war mir nur ihr gewaltiger Körperbauaufgefallen, der, wie ich dann besser sehen konnte, nicht von dickerKleidung her rührte, nein, sie war einfach eine muskulöse Frau. Aber dann,dann sah ich ihr Gesicht und ihre Augen, die eine unglaubliche Wärme zu mirherüber strömen ließen. Und ich ließ mich fallen in diese Wärme. Gaben mirbisher meine leeren vier Wände Geborgenheit, glaubte ich sie nun auch indieser Frau gefunden zu haben, aber nicht diese sterile Geborgenheit, dieeintritt, wenn frau keine Angst haben muss, dass jemand verrücktes in ihrerWohnung lauert. Sondern die Geborgenheit, die einem halt nur ein andererMensch geben kann. Ihre Hand, die sie mir entgegenstreckte erweckte michetwas aus meiner Gedankenwelt. Wir schüttelten uns langsam die Hände und ichkonnte die Sanftheit spüren, die von ihrer Haut ausging. „...das hättest dudoch sicher nie erwartet oder?“ Lisa gab mir einen Klaps auf die Schulterund sah mich fragend an. „Ähm, nein.“ Woran dieses nein auch immer gerichtetwar. „Tja, da geht man 4 Jahre lang in eine Klasse und dann dauert es dochglatt noch mal 8 Jahre bis eine Amy Redfield einen zur Kenntnis nimmt. Wassagst du dazu Norah?“ Wenigstens oder leider, war Norah von unsererBegegnung wohl nicht so sehr fasziniert. „Du musst Verständnis haben Lis,damals war ich halt etwas unauffälliger wie jetzt“ „Ja, aus dem sanften Rehist eine große Bärin geworden.“ Die beiden fingen an zu lachen und ich ließmein Gehirn arbeiten. Norah, Norah, sie war in deiner Klasse verdammt nochmal, dann musst du sie doch irgendwann schon mal wahrgenommen haben. GrüneAugen, braune Haare. Oh ja. Da fiel es mir ein. Während ich still war undmich trotzdem an vielen Dingen beteiligte, war sie einfach nur ruhig.
Niemand kannte sie wirklich. Sie war neben mir und Lisa das einzige Mädchenunseres Jahrgangs aus diesem Ort. Und nun war sie, da hatte Lisa absolutrecht, zu einer echten Bärin heran gewachsen. Sie würde sicherlich niemandmehr übersehen. Diese Bärin mit den sanften Händen. Meine sanfte Bärin.
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Adlerin. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.