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Beeil dich!

von Leena


„Kopf hoch, irgendwann findest auch du noch die Richtige, du musst nur die Augen offen halten! Du, ich muss jetzt wirklich los. Machs gut!“

Die Augen offen halten? Sie stellt sich vor, wie sie durch die Stadt läuft, die Augen weit aufgerissen und jeder Frau schamlos ins Gesicht starrt um ja den fettgedruckten Stempel „DIE RICHTIGE“ auf deren Stirn nicht zu übersehen.

Das Telefon noch in der Hand stellt sie sich vor den großen Spiegel im Flur und schließt die Augen um sie kurz darauf krampfhaft wieder aufzureißen. Das Ergebnis lässt sie erschrocken zurückweichen. Die Frau im Spiegel, mit den streichholzkurzen schwarzen Haaren und den grünen Zombiaugen tut es ihr gleich. Sie lässt das Augenmonster schulterzuckend im Flur stehen, knallt den Telefonhörer in den Wäschekorb und trifft die Fremde kurz darauf vor dem Badspiegel wieder, wo sie ihr Kontaktlinsen in die wieder normal großen Augen schiebt.

Die Wohnung verlässt sie über die wacklige Feuerleiter an der Rückseite des Hauses um nicht durch das überdimensional große Schild neben ihrer Tür an die „Kehrwoche“ erinnert zu werden. So kann sie ohne zu lügen behaupten, die seit drei Tagen hängende Mahnung nicht gesehen zu haben. Und zudem muss sie die Hoffnung auf Post nicht wie sonst am leeren Briefkasten begraben.

Auf dem Weg über den Gartenzaun und die angrenzende kleine Hecke schürft sie sich die rechte Hand auf und kann gerade noch verhindern, dass ein Rosendorn ihr die rechte Halsseite aufschlitzt. Nur gut, dass es nicht die offenen Augen waren.

In der Straßenbahn hängt an Graffiti versprühten Fenstern neben reichlich Werbung die gerahmte Aufforderung „Öffne die Augen und Erwache“. In der rechten unteren Ecke befindet sich ein Hinweis auf die Verantwortlichen: „die Zeugen Jehovas“. Heute scheinen alle nur das Eine von ihr zu wollen. Als sie sich nach einigen Minuten bewusst wird, dass sie noch immer wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf das Zitat starrt steht sie kopfschüttelnd auf, verlässt den Wagen an der nächsten Station und steigt durch die erste Tür des nächsten Abteils wieder ein, um sich einen anderen Sitzplatz zu suchen. Sie lässt sich gegenüber einer in eine Zeitschrift vertieften Braunhaarigen fallen und sucht auf deren Stirn nach Tintenspuren. Frustriert lehnt sie sich daraufhin zurück und schließt gegen alle Anweisungen die Augen. Das Ganze artet gegen ihre sonstigen Prinzipien in Arbeit aus und normalerweise lässt sie sich nicht mal von ihrer eigenen Mutter von diesen abbringen. Überhaupt, warum sollte ausgerechnet sie die Augen offen halten? Entschieden schiebt sie diese Aufgabe der „Richtigen“ zu, schließlich kann die ruhig auch etwas für ihre gemeinsame Zukunft tun. ‚Aber beeil dich’, denkt sie. Immerhin hat sie nicht ewig Zeit.

„Wie bitte?“

Erschrocken reißt sie sich gegen alle eben erst getroffenen Pläne von nun an die Augen fest geschlossen zu halten aus der Dunkelheit und blickt geradewegs ins fragende Gesicht der stempellosen Braunhaarigen.

„Beeil dich.“, wiederholt sie die letzte Schlussfolgerung und zieht verwundert über sich selbst und die merkwürdige Frau, die des Gedankenlesens fähig scheint, die Augenbrauen hoch. Der Blick der Braunhaarigen ändert sich übergangslos von fragend zu verwirrt.

Um ihn nicht in Ärger zu verwandeln steht sie kommentarlos auf und quetscht sich eben noch durch den Türspalt.

Auf dem Bahnsteig stehend schließt sie die Augen. Sie geht ein paar unsichere Schritte und überlegt wie groß die Wahrscheinlichkeit ist einen Bahnsteig mit geschlossen Augen zu überqueren ohne sich dabei ernsthafte Verletzungen zuzuziehen, doch ein leichtes Tippen auf der linken Schulter nimmt ihr wenig später die Antwort und die damit verbundene Aufgabe ab.

Sie braucht einige Sekunden um sich klar zu werden warum sie niemanden sieht, erst dann öffnet sie die Augen und erblickt die Braunhaarige sehr verschwommen vor sich.

„Und jetzt?“ Die Stempellose zündet sich in aller Ruhe eine Zigarette an.

Sie schafft es zugleich fragend und verwirrt zu gucken und fragt sich nebenher ob die Andere ein ernsthaftes Problem hat.

„Ich hab mich beeilt. Und jetzt?“ Die geistige Verwirrtheit wandelt sich in das erste Grinsen des Tages und sie fragt sich einen kurzen Moment, was die Frau im Badezimmerspiegel dazu sagen würde.

„Jetzt könnten wir einen Kaffe trinken gehen.“

Die Stempellose nickt zustimmend und hält ihr mit geübter Bewegung die geöffnete Zigarettenschachtel unter die Nase. Als sie sich Feuer geben lässt scheint ihr, als sei da ein kleiner schwarzer Fleck auf der Stirn der Braunhaarigen, der sie die Augen offen halten lässt.



copyright © by Leena. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.



Kommentare


...*seuftz*
Supi schön, deine Geschichte.
Ich warte auch die ganze Zeit, dass mir sowas passiert. Ich sehe aber gar nicht so lesbisch aus, wie ich bin. Tja,...ich könne wahrscheinlich allen möglichen Kram im Zug verbreite und keine Frau würde auf die Idee kommen, dass ich mit ihr einen Café trinken möchte. Wie gesagt finde ich deine Geschichte trotzdem sehr schön und ich nehme mir jetzt auch vor mutiger zu sein. Danke!
S_Joy - 06.07.2004 13:45
schmunzeln herausfordernd....
whoopy1964 - 30.05.2004 23:42
hübsch
Nefret - 13.05.2004 21:50
Augen offen halten
luna-mausi - 15.04.2004 10:10

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