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Der verlorene Gott (Ausschnitt)

von Mamba


Marius stand schon an der Ecke und wartete auf uns. Er hat schulterlanges dunkelbraunes Haar, glatt und ein wenig dünn. Er behauptet, das käme von einer Krebsbehandlung, die er mal gehabt hatte. Seine schlacksige hohe Gestalt ist kaum zu übersehen. Vor allem wenn er seinen Hut mit der Krempe trägt und dazu den dunkelroten Cordmantel. Eigentlich hat er die Sachen immer an.
Marius ist ein bisschen verrückt. Aber wer ist das nicht?
Wir wussten an dem Tag nicht, was wir machen sollten. Tim Robin war erkältet und ständig am fluchen und schniefen. Duncan hatte nur seine neuen Schuhe im Kopf, stolzierte herum und pfiff irgendwelchen Mädchen hinterher. Mir war das ziemlich peinlich. Normalerweise macht er das auch nicht. Es war halt ein Scheißtag.
Ich wünschte mir bei meinem Antio geblieben zu sein. Wir hätten uns einen wirklich netten Abend machen können. Mit leckerem Essen - Antio war ein Meisterkoch - und vielleicht dem ein oder anderem Video, das man unter einer kuscheligen Decke genießen konnte. Stattdessen zog ich mit diesen Idioten durch die Straßen und langweilte mich zu Tode.
Schließlich beschlossen wir zu Marius zu gehen. Er wohnt in einer WG, da ist eigentlich immer etwas los. Wir hofften, dass irgendjemand einen Film ausgeliehen hatte, den man sich jetzt reinziehen konnte.
Filme gab es dann auch jede Menge, nur keinen Videorekorder. Marius schimpfte auf seine Mitbewohner,von denen keiner da war, und die Welt und wir hockten uns in sein Zimmer und lösten Kreuzworträtsel.
Marius gehört zu den Menschen, die extreme Zettelwirtschaft betreiben. Der Schreibtisch, die Stühle und die Wände sind voll davon. Auf ihnen stehen Sachen wie "Ein mistiger kleiner Zettel, der dich du weißt schon woran erinnern soll" oder "Wenn du heute wieder nicht an das denkst, was du gestern schon vergessen hast, bekommst du die Strafe, die du dir dafür überlegt hast". Verschiebt man eine von diesen Notizen, wird er agressiv. Angeblich sind sie nach einem genauen System sortiert.
Einen Kleiderschrank hat Marius auch nicht. Er placiert seine Klamotten immer auf dem Sofa und dem Bett. So sind also alle Sitzmöglichkeiten belegt und sein Leben spielt sich eigentlich auf dem Teppich ab.
Da kommt aber schon das nächste Problem. Auf dem Teppich ist nämlich eine riesengroße Weltkarte abgebildet. Marius sammelt Holztiere und stellt diese an die Plätze auf der Karte, an denen ihre Abbilder aus Fleisch und Blut zu Hause sind. Dabei hält er sich an die ursprünglichen Lebensräume. Zum Beispiel gibt es auf seiner Karte in Amerika keine Pferde, da diese erst von den Eindringlingen, wie er die weißen Eroberer nennt, mitgebracht wurden. Natürlich darf man die Figuren genausowenig berühren wie die Notizzettel, was es schwer macht, überhaupt einen Sitzplatz zu finden.
"War die dem Wind abgewandte Seite LUF oder LEE?", fragte Tim Robin.
"LEE", murmelte irgendjemand. Eine Weile konnte man nur das Schaben der Stifte auf dem Papier hören.
Ich sah von meinem Heft auf und beobachtete die anderen. Ich gucke gerne Leute an, wenn sie es nicht merken. Man kann ihre Gesichter studieren, raten, woran sie denken, was sie beschäftigt. Am interessantesten finde ich Angewohnheiten von Menschen, Macken und Gesten, die ihnen meist selbst nicht bewusst sind. Tim Robin zum Beispiel fährt sich ständig durch sein strubbeliges Haar. Er zerzaust es regelrecht, dreht mit den Fingern Knoten hinein und wundert sich dann, wenn er sie nicht durchgekämmt bekommt. Hoffentlich kriegt er nie Schuppenbildung, sonst muss er sich diese Marotte abgewöhnen. Das wäre schade. Ich liebe es, wenn Tim Robin diese Geste macht. Manchmal kann ich es auch voraussehen und weiß, gleich fährt er sich durchs Haar. Dann habe ich das Gefühl, die Leute zu kennen mit denen ich zu tun habe. Ich weiß etwas von ihnen, das sie vielleicht selber gar nicht wissen.
"Joschi starrt die ganze Zeit zu dir herüber", sagte Duncan. Tim Robin sah erst ihn und dann mich an. Ich merkte, wie ich rot wurde und ärgerte mich darüber.
"Ich weiß ja, was für ein toller Hengst ich bin", sagte Tim Robin freundlich, "aber erstens hab ich `ne Freundin und zweitens bin ich sowieso nicht schwul. Also gib`s auf, Kleiner."
Ich hasse es, wenn er das macht. Er tut so, als würde ich auf ihn abfahren, dann steht er toll und ich blöd da.
Ich kroch zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Angriff ist die beste Verteidigung.
Er zuckte erschrocken zurück, wurde dann plötzlich verlegen und stürzte sich schließlich auf mich. Wir rangelten eine Weile auf dem Fußboden herum. Dabei wälzten wir natürlich über Marius` Tierfiguren hinweg. Sein Geschrei mischte sich in unser Lachen.
Er scheuchte uns wütend aus dem Zimmer um seine Welt wieder aufzubauen, die wir mit einer einzigen Bewegung zerstört hatten. Es tat mir plötzlich Leid, dass wir so unbedacht über sein Werk gefegt waren. Ich wollte mich entschuldigen und ihm aufbauen helfen, doch er hatte schon die Tür zugeknallt und ich folgte den anderen in die Küche.
Inzwischen war eine Mitbewohnerin nach Hause gekommen: Anastasia. Ich kannte sie nur flüchtig. Wir grüßten uns und sie beugte ihren Kopf wieder über die Müslischüssel. Sie schien in Eile, schaufelte die Cornflakes regelrecht in sich hinein.
Tim Robin hatte sich auf die große Couch gefläzt, ich setzte mich neben ihn und kuschelte mich an seine Schulter. Er legte den Arm um mich, den Blick abwesend, in Gedanken versunken.
Es wurde still in der Küche.
Ich schloss die Augen und dachte an Antio. Seine Schulter war härter als Tim Robins, an der ich jetzt lehnte. Meine Grube unterhalb des Wangenknochens passte genau auf Antios spitz herausstehenden Schulterknochen. Wie zwei Teile, die ineinander gehörten, dachte ich dann immer. Wir saßen oft so nebeneinander, wenn wir Fernseh guckten oder Musik hörten oder einfach jeder schweigend seinen Gedanken nachhing. Und Antio roch nicht nach Hugo Man. Er roch eben nach Antio, er benutzte kein bestimmtes Parfüm.
Für einen Moment gelang es mir, diese kleinen Unterschiede zwischen ihm und Tim Robin zu ignorieren und die Illusion aufrecht zu erhalten, nicht irgendwo in der Weltgeschichte herumzusitzen, sondern zu Hause mit meinem Lieben.
Während ich so vor mich hin träumte, schien die Küche Beine zu bekommen und immer weiter von mir wegzurücken. Die Geräusche, Anastasias Schmatzen, Tim Robins mühsame Atemzüge durch seine verstopfte Nase, der Motorenlärm von draußen, alles wurde erst lauter, dann leiser, unwirklicher.
Ich spürte, wie Tim Robin seine Hand in meine legte. Ich war so sehr mit Antio beschäftigt, meinem lieben wunderbaren Antio, dass ich mich nicht darüber wunderte. Tim Robins Schulter war wirklich erstaunlich weich, fast wie ein Kissen. Alles war wunderbar entspannt, ich reagierte nicht auf seinen festen Griff.
"Joschi?"
Sollten sie doch reden, gerade kam eine herrliche Schläfrigkeit des Weges, ich wollte sie zu mir einladen, damit sie verweile und mich verzaubere.
"Ich weiß deinen Namen, weil ich gehört habe, wie dich irgendjemand so genannt hat."
Mit einemal war die Schläfrigkeit weitergelaufen, ich war hellwach. Diese Stimme kannte ich nicht. Und sie schien von so weit weg zu kommen, war aber doch deutlich und laut. Ich wollte auffahren, Fragen stellen. Doch blieben meine Augen festgeschlossen, als wenn die Muskeln verlernt hätten, wie sie sich bewegen mussten um die Lider anzuheben und ich rührte mich nicht.
"Ich hab grad nichts zu tun, da hab ich gedacht, erzähl ich dir mal was. Hab gehört, du liegst hier immer so einsam rum und keiner kommt zu Besuch. Mein Chef sagt, es wär unwahrscheinlich, dass du irgendwas mitkriegst. Aber man weiß ja nie. Ich bin übrigens Michael."
Die Hand in meiner rührte sich, als wenn sich sein Besitzer bewegte.
"Tja, was soll ich dir erzählen. Bin Praktikant hier, für drei Wochen. Heute ist mein zweiter Tag. Hab schon mal spannenderes erlebt. Aber was soll`s.
Komisch, früher wollte ich auch immer solche Ringellocken wie du. Ich hab ganz glattes Haar, du siehst mich ja gar nicht. Jetzt bin ich zufrieden damit, was bringt`s sich aufzuregen. Meine Mutter sagt immer, man will sowieso immer das, was man nicht hat. Da scheint sie ausnahmsweise mal Recht zu haben. Ein Freund von mir hat auch Locken und will lieber glattes Haar.
Blöd, jetzt unterhalten wir uns schon über Frisuren. Ach, nein, wir unterhalten uns ja gar nicht. Ich bin der einzige, der redet. Macht aber nichts, ich rede gern. Vielleicht wachst du ja doch noch auf, dann könnten wir mal anständig quatschen."
Während die Stimme redete, merkte ich, dass meine Augen offen standen. Ich lag unverändert in der Küche auf der Couch, Duncan stand am Fenster, Anastasia saß am Tisch, aus den Augenwinkeln sah ich Tim Robin neben mir sitzen. Seine Hand lag noch immer in meiner. Ich wandte vorsichtig den Kopf und sah auf sie hinab.
Etwas in mir zog sich kurz, aber schmerzhaft zusammen. Wie eine heiße Wolke breitete es sich in meinem Magen aus.
Das war nicht Tim Robins Hand. Sie kam zwar aus dessen Ärmel, aber ich kannte seine Hände. Sie waren breit, mit runden Fingernägeln. Und die Daumenknöchel standen spitz hervor.
Diese Hand war blass und schmal, mit langen Fingern, die Nägel abgekaut. Am Mittelfinger steckte ein Ring. Silbern, zierlich, mit einem kleinen schwarzen Stein, der von zwei Ranken umgeben war.
Ich war hilflos, konnte nichts tun. Wenn ich mich rührte, würde diese fremde Hand auf mich aufmerksam werden, mich festhalten und nicht wieder loslassen. Angstvoll lauschte ich der Stimme.
"Der Chef sagte, du hättest Chanchen. Nicht große, aber du hast welche. Du solltest das nutzen, finde ich. Nebenan liegt eine, die wacht nicht mehr auf. Das ist ziemlich sicher, glaub ich. Sie wär vielleicht froh, wenn sie an deiner Stelle wär.
Ich hab mal gehört, dass die Leute nicht mehr aufwachen, wenn sie nicht wollen. Da ist bestimmt auch was dran.
Oh, sorry, ich werd gerufen. Bis später."
Die unheimliche, fremde Hand, die ich nicht aus den Augen lassen konnte, entzog sich meiner. Sie hing noch immer an Tim Robins Arm, was beinahe komisch aussah, doch jetzt drehte sich mein Freund um und ich konnte nichts mehr sehen.
Die Starre, die mich befallen hatte, fiel endlich von mir ab. Ich richtete mich auf und langte nach Tim Robins Hand.
"Was ist?", fragte der.
"Ich will mal was gucken." Die Hand sah wieder ganz normal aus. Ohne Ring.
"Was ist?", wollte Tim Robin nochmal wissen.
"Nichts", murmelte ich. Ich stand auf und trat neben Duncan an das Fenster. Ein kalter Wind wehte hinein. Er tat gut. Die Straßenlaternen waren schon eingeschaltet, ein paar wenige Sterne fanden tapfer den Weg zu uns hinunter.
"Schön, was?", fragte Duncan. Ich nickte überrascht. "Ich wusste nicht, dass du für sowas was übrig hast."
Duncan grinste. "Du würdest lachen, wenn du wüsstest wie sentimental ich manchmal bin."
Wir standen eine Weile schweigend da und ich schloss die Augen. Hinter mir hörte ich Anastasia den Stuhl scharrend zurückschieben und hinausgehen.
Mir war sonderbar zumute, ich fühlte mich leicht, fast schwerelos. Ob ich eben auf der Couch eingeschlafen war?



copyright © by Mamba. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.





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