Die Bühne

von Licorne


Die Bühne

Das Licht ging aus und die letzten Zuschauer verließen den Raum. Die Luft war voll von ausgeatmeten Begeisterungsrufen, feuchten Tränen, die noch vor wenigen Minuten Tausende Wangen herunter liefen und voller Gedanken über das Geschehen, die das Atmen in diesem Raum nach der Vorstellung so erschwerten.

Sie stand auf der Bühne, stand immer noch da, denn diese gehörte ihr nach wie vor ganz allein. Ihre Lungen hoben und senkten sich immer noch so schwer. Sie schienen einen Wettlauf mit der Zeit vollziehen zu wollen, immer noch getragen vom tosenden Applaus. Er ließ sie aus ihrem Schlaf, der stumpfen Gefühllosigkeit erwachen, ließ sie leben. Ihre Seele sang, sang von den verborgensten Gewalten, vom beflügelten Zorn, entflammter Leidenschaft und zerschmetternder Trauer. Es war so leicht sich von starken Armen tragen zu lassen, die aus unmittelbarer Nähe ihren Körper berührten und sie nach oben trugen. Jeder Niederschlag, jeder Tod bedeutete Leben, getragen von unzähligen Menschenmassen zu neuen Gedanken, neuen Gefühlen. Ach, wie lebendig konnte doch zitternde Kälte sein, gleich einer trockenen Blume des verlorenen Herbariums, die plötzlich scharlachrot am Horizont erblüht. Sie schrie, schrie nach der Liebe. Jede einzelne Zelle ihres Körpers ergriff diese einmalige Möglichkeit zu schreien, zu kreischen. Sie wurde gehört, beflügelt von tausenden Augen, zausenden Ohren und tausenden Lippen, die ihren Namen flüsterten.

Mit jeder Bewegung ihres Körpers und jedem Wort aus ihrem Mund warf sie ihre Erinnerung weit ab von sich, wie eine alte Haut streifte sie diese ab. Sie zerriss ihre Pein und ihren Schmerz, zerriss ihre Freude. Ja, sie zerriss sogar das, was sie liebte und legte jegliche Maske ab von sich, bevor sie die neue aufsetzte. Gleich einer rotierenden Gestalt schwebte sie über die Bühne. Sie vergaß.... Vergessen, diese göttliche Fähigkeit, die nicht mal die Zeit besitzt. Sie war so stark, weil sie schwach sein konnte und schwebte in die Höhen der Unermesslichkeit, weil sie sich fallen ließ, egal ob jemand sie auffing oder nicht.

Doch nun war es leer, so dunkel dieser Raum, diese Bühne, menschenleer. Die Leere... Sie konnte doch nicht die Belohnung sein, das Ziel...

Sie fiel auf den Boden, brach ruckartig zusammen. Ihre Fingernägel krallten sich in das Holz der Bühne, gleich eisernen Stäben, die eine Schicht der feuchten Erde durchbohren wollten. Sie riss die Nägel heraus – mit ihren eigenen Händen, zerschmetterte Bretter – mit ihren eigenen Händen, zerriss die Vorhänge – mit ihren eigenen Händen. Und als ihre Fingerkuppen anfingen zu bluten, formte ihr Mund einen tierischen Schrei. Sie schrie nach ihrer Erinnerung, suchte ihre Masken, die wie Staub durch die Ritzen ihrer Hand sickerten.

Was war das für ein Leben, das nach jeder Geburt den Tod verlangt? Sie lag auf dem zerwühlten Boden, inmitten von Nägeln und dem eigenen Blut, starrend auf die schwarze Decke und so wollte sie liegen bleiben. Sie wartete auf eine fremde Gestalt, die den Vorhang wieder hochzog, wartete auf das Rampenlicht und die unsichtbaren Arme, die sie über diese Bühne schwebend trugen. Dann würde sie wieder tanzen und voller wilder Ausgelassenheit aus trockener Kehle singen, sie würde lachen und leben, lachen und schweben, lachen! Lachen! Lachen! Und sterben... bis der Vorhang wieder fällt.