von SweetWillow
Die letzte Rettung
„Platsch“, schon wieder ist mir mein Kaffeebecher heruntergefallen. Mitten in eine dunkelbraune Pfütze. Der Schlamm wird aufgewirbelt und die milchig helle Flüssigkeit verfärbt langsam das gestern herunter geprasselte Regenwasser. Ich bin zu abgelenkt, um mir um das eigentlich so geliebte Getränk Gedanken zu machen. Das Bild dieser Straße verändert sich wohl nie. Hinten in den dunklen Gassen stehen die Gangs, dealen, bekriegen sich gegenseitig und ziehen ahnungslose Passanten ab. An den Häusereingängen, die mich stark an die Fünfziger Jahre erinnern und das nicht nur, wegen ihrer architektonischen Bauweise, stehen trostlose „Objekte der Begierde“, die mit einer Zigarette im Mund auf den nächsten Willigen warten. Ich möchte ihnen helfen, sie aus diesem Milieu herausholen und zeigen, dass es auch ein anderes Leben gibt. Eines, in dem Drogen, Zuhälter und Polizei keine Rolle spielen.
Ich gehe weiter und versuche mich auf etwas zu konzentrieren, dass in mir nicht Gedanken an Flucht und Weglaufen fördert. <i>Denk an Lara. Denk an Lara.</i> Rede ich mir immer wieder ein, um nicht zu vergessen, warum ich hier bin. Auf dem Boden sehe ich im Vorbeigehen und eher verschwommen, als klar, einen Zigarettenstummel.
Unverzüglich muss ich in mich hineingrinsen.
Wir standen zusammen am Rheinufer und schauten gedankenverloren auf die Wasseroberfläche, als sie mit leicht zittrigen Händen ihre Jacken- und Hosentaschen verzweifelt nach einem Klimmstängel absuchte. „Irgendwo hatte ich doch noch eine“, ärgerte sie sich einige Sekunden lang, als plötzlich ein lautes, hohes Geräusch meine Ohren durchdrang. Ich zuckte zusammen und starrte sie erschrocken an, dann mussten wir beide lachen. Sie hatte doch noch eine, eine zwar, eher von der zerquetschten und krummen Sorte, aber besser als nichts. Freudig steckte sie sich das ca. 9 Zentimeter lange Stängelchen in den Mund und schaute mich auf ihre bettelnd hilflose und als Hundeblick allseits bekannte Art an. Sie hatte nie ein Feuerzeug dabei. Ich wollte es ihr immer abgewöhnen, hatte auch schon ihre Schachteln versteckt, ihr abschreckende Bilder vor die Nase gehalten, bin aber zu dem Entschluss gekommen, dass man Menschen nicht verändern kann, solange sie nicht wollen und ertrage ihre eingebildete Sucht mit Widerwillen. Auf einmal verschwanden die warmen Sonnenstrahlen aus ihrem Gesicht, ich schaute nach oben und beobachtete, wie sich der Himmel mit einem grauen Wolkenmeer verdichtete. Ein lauter Donner durchdrang mich ähnlich aufwirbelnd wie ihr Freudenschrei und es ergoss sich ein sommerlich warmer Regen. Sie zog mich am Arm und rannte wie vom Blitz getroffen los.
Während ich versuchte nicht von ihr umgerissen zu werden, ging ich gleichzeitig in den Laufschritt über und flitze hinter ihr her. Ich konnte nie mit ihr mithalten. Mich ganz auf den Boden konzentrierend, achtete ich darauf nicht zu stolpern – wie es meine Art war - und vernahm aus der Ferne ein Fluchen und Grummeln. Auf einer nassen Parkbank sitzend, schimpfte sie auf das Wetter, den Sommer, ging über zu ihren Finanzen und den Staat. Sie konnte sich binnen einer Minute über alle schlechten Dinge dieser Welt aufregen und warum? Ihre Zigarette war durchgeweicht und mehr als einen Zug konnte sie nicht genießen. Ich lachte sie mit einem breiten Grinsen mehr an, als aus und nachdem ich mich abgehetzt in die Bank gelehnt hatte, stupste sie mich kichernd an und vergaß den zuvor aufgekommenen Ärger.
„Ey, glotz wo du hinlatscht“, riss es mich aus meinen Gedanken. Ich bin nicht am Rheinufer, hier sind keine warmen Sonnenstrahlen und ein Lachen habe ich in den Gesichtern der Menschen noch nie erkannt. Man hatte mir abgeraten dieses Viertel zu betreten, wenn ich den nächsten Tag noch erleben wollte, doch es zog mich immer wieder hierher, seitdem Lara…
Wir sehen uns seit jenem Tag kaum noch und auch heute werde ich nicht mit ihr reden können. Alles, was ich tue, ist auf jenes Häuserdach zu klettern, ihren Brief aus der mit Muscheln besetzten Schatulle unter dem Lehmziegel zu lesen und ihn gegen einen von mir zu ersetzen. Von hier oben kann ich sie beobachten, in ihren schwarzen Lackstiefeln, mit den grauenhaften unechten Fingernägeln, der dicken Schutzschicht Make-up und dem roten Mini. <i>Es gehört sich nicht mit solchen Flittchen zu reden, ihnen Geschenke zu machen, sie in unser Haus einzuladen. Was sollen die Nachbarn denken? Wenn die Presse davon Wind bekommt. Denkst du überhaupt nicht an deine Familie? Bist du nie zufrieden?</i> Die kratzige Stimme meiner Mutter hallt durch meinen Kopf, ich versuche mich zu konzentrieren und beginne die Ameisen am Boden zu zählen. Plötzlich durchfährt es mich wieder wie ein Blitz, ich schrecke auf und wende meinen Blick nach unten zu ihrem Stammplatz. Alles, was ich sehen kann, ist ein schwarzer Mercedes, der mit quietschenden Reifen davonrast. Lara ist weg und das Echo ihres Schreis wandert unvermindert durch meine Gedanken. Ich stecke die beiden Briefe ein und renne die 62 Stufen der Feuerleiter so schnell herunter, dass ein falscher Schritt tödlich sein könnte. Schloss entriegeln, Tür auf, Zündung an, Handbremse lösen. Alles scheint eine Ewigkeit zu dauern. Rückwärtsgang, 1. Gang und los. Der Verlauf der Straße ist undurchsichtig, immer wieder Einfahrten zu Gassen und Nebenstraßen. Der Mercedes ist längst im 90° Winkel um die Kurve zum Stadtzentrum. Ich trete aufs Gas und versuche mitzuhalten, überall quietschen Bremsen alles übertönend, es hupt und wütende Menschen geben ihrem Ärger freien Lauf. Das alles zieht an mir vorbei, ich denke an eine Abkürzung durch ein nicht umzäuntes Bürogebiet, der Mercedes schlängelt sich durch den dichten Verkehr, rast gewissenlos über die Kreuzung und biegt rechts ab. Für einen kurzen Moment ist absolute Stille, ich denke an ihre Verzweiflung, an ihre Angst und versuche noch schneller zu fahren, durchquere die stillgelegte Bürofläche, ziehe nach links und bin mir todsicher jetzt direkt auf den Mercedes zu stoßen. Doch, hier ist niemand. Die Straße ist leer. Eine Plastiktüte schwebt in der Luft und ich werde langsamer, komme zum Stehen und merke, wie ich zusammensacke. Ich konnte sie nicht einholen, nicht mit ihr mithalten. Ich beginne zu weinen und weiß, dass ich nichts tun kann, ich bin machtlos. Trotz all unseres Geldes gibt es nichts, womit ich ihr helfen kann. Sie haben sie. Sie haben Lara. Keine Polizei. Keine Chance. Stille.
Nein, ein ohrenbetäubendes Geräusch, das Geräusch von Reifen. Das rasende Monster kommt direkt auf mich zu. Mit eisernem Blick fixiert mich der russisch aussehende Fahrer. Ich schließe meine Augen, der Aufprall scheint unaufhaltsam. Öffne sie wieder, er ist auf die Grünfläche ausgewichen und versucht auf die nächste Straße zu fahren. Ich trete das Gaspedal, so fest es nur geht, bete den Wagen nicht abzuwürgen, lass die Kupplung langsam kommen und rase ihm hinterher. Ich bin direkt hinter ihm, er hat keine Chance zu entwischen. Verzweifelt versuche ich mir einen Plan zurechtzulegen, mir das Nummernschild zu merken. Ich sehe, wie er gekonnt nach links oben und dann nach rechts stürmt. Das ist meine Gelegenheit, ich ziehe geradeaus weiter, in Schlängellinie an den anderen Fahrzeugen vorbei und biege die Nächste links ein. Da ist er, er kommt von oben, wie erwartet, mit 150 Sachen den Berg herunter über die Kreuzung. Ich reduziere die Geschwindigkeit, als ein funkelnder roter Fiat direkt in seinen Fahrstreifen hineinprescht, er weicht aus, versucht zu bremsen. Das Fahrzeug ist außer Kontrolle. Ich kneife die Augen zu und klammere mich am Lenkrad fest.
Mein Kopf dröhnt, ein regelmäßiges Fipsen übertönt die Fragen wo ich bin und was ich hier mache. Maschinen, ein Tropf, weiß gestreifte Bettwäsche. Eine Schwester kommt hineingestürmt, ich versuche etwas zu erkennen, reibe mir die Augen und fixiere eines der an der Wand hängenden Bilder. „Da haben sie ja noch mal Glück gehabt, so ziemlich alle Schutzengel dieser Welt müssen heute über ihnen gewacht haben“, die Dame mit den meerblauen Augen und glatten dunkelblonden Haaren lächelt mich sanft an. „Was ist geschehen?“, frage ich während ich mir vorsichtig an den Kopf fasse. Autsch, denke ich und verziehe mein Gesicht vor Schmerzen. „Nun, da ist Ihnen einer voll rein gefahren. Die Polizei spricht von einem Wunder. Ihr Wagen hat sich 3 Mal überschlagen. Der andere soll wohl einen Totalschaden gehabt haben. Durch die hohe Geschwindigkeit…“ – „Lara“ kommt es aus mir herausgeschossen. Die Schwester starrt mich verdutzt an. „Ach die Frau in dem Auto? Nun, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass es bei dem Unfall keine Überlebenden, außer Sie, gab.“ Einen kurzen Moment lang sehe ich sie mit fragendem Blick an, die schmale Frau streicht mir mitfühlend über den Arm und verlässt mit gesenktem Haupt das Krankenzimmer. Sie ist… Mit einem gewaltigen Schlag der Tür betritt meine Mutter das Zimmer. „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Ich weiß ganz genau, dass diese Nutte in dem Auto saß! Wir hatten dir verboten sie zu sehen. Unser Ruf, dein Wagen ist hinüber. Draußen stehen 25 Reporter, denen ich eine Erklärung abgeben muss. Und warum? Weil meine Tochter…“ Der krelle Ton ihrer Stimme verliert sich im Raum. Mit leerem Blick starre ich sie an. „… ihre asozialen Eltern waren schon hier und haben sich bei mir entschuldigt, was die sich überhaupt einbilden. Als würde ich mit denen auch nur ein Wort wechseln. Sie sagen, dass sie für alle Schäden aufkommen, wers glaubt wird…“ Mein Kopf ist so leer und steril, wie der Raum in dem ich liege. Regungslos gleitet mein Blick zu dem Gemälde an der Wand. Der einzige Farbfleck hier zwischen den Monitoren, den weißen Wänden. So wie Lara der Farbfleck in meinem Leben war.
Die Zeit vergeht und nun sitze ich auf einer Bank in einer kleinen, heruntergekommenen Kirche in der Gedenkfeier, die eigentlich erst in, von uns beiden geplanten, 120 Jahren stattfinden sollte. Wir wollten schon immer steinalt werden und als Omis die Städte dieser Welt unsicher machen. Mit einem winzigen innerlichen Grinsen lausche ich den Worten des Pfarrers. „..Lara war eine junge Dame, die keine Zeit hatte, ihre Träume zu leben und glücklich zu sein. Als Gott sie auserwählte und von uns nahm, verließ sie uns ohne Liebe zu erfahren, ohne mit einem festen Partner durchs Leben zu schreiten…“ Ich versuche meine aufkommende Wut zu unterdrücken, sie herunterzuschlucken. Doch diese Trauerfeier entspricht nicht dem, was Lara ist oder war. Es ist eine Scheinwelt. Seine Worte flossen weiter durch den Saal „… hatte sie doch niemanden, der sich um sie kümmerte, wirklich für sie da war. Eine leitende Kraft in ihrem Leben, eine starke Hand und gute Freunde fehlten ihr immer…“ Geladen vor Spannung springe ich auf, ohne mich wirklich kontrollieren zu können. Schaue wütend und fragend in die Gesichter der Anwesenden und schreie, befreiend wie nie „Lügner!“, schnappe meine Tasche und renne mit zitternden Händen hinaus ins Freie. Ich laufe und laufe, bis sich all die Wut in Trauer gewandelt hat, sinke auf eine Parkbank und weiß, dass sie nicht allein war. Ich schmeiße meine Absatzschuhe auf den saftig grünen Rasen des Parks und richte mein Gesicht zur Sonne. Doch der Gedanke an das Begräbnis lässt mich nicht los. In der Ferne erkenne ich, wie die Menschen aus der Kirche stürmen. Niemand ist traurig, wie auch. Niemand kannte sie. Nicht einmal ihre Eltern. Mit bedächtigem Schritt laufe ich in Richtung des Gotteshauses. Der Pfarrer unterhält sich, die Bibel umklammernd, mit Laras Eltern und ich denke daran, dass Lara ihn wohl ausgelacht hätte. Im Augenwinkel erkenne ich, dass der Kirchensaal menschenleer gefegt ist und wage einen allerletzten Besuch. Eher bescheiden ist der Gedenkaltar geschmückt. Ein Foto, die Urne und ein Kranz aus Rosen. <i>Sie mochte keine Rosen. Die waren ihr zu ebenmäßig und perfekt.</i> Denke ich mir mit einem Grinsen, als es mich plötzlich überkommt. Ich schaue über meine Schulter und dann in meine Tasche. <i>Klack</i>, dann ein rauschendes Geräusch, Klack. Ich renne davon. Dieses Mal jedoch nicht aus Wut. Mit einem Taxi fahre ich an der Stelle vorbei, an der es geschah. Ich sehe weg und denke an den Ort, an dem ich gleich sein werde. Ein Ort, an dem man alle Sorge vergessen kann und die Vergangenheit zu einem schwarzen, kleinen dunklen Fleck wird, den man nur bemerkt, wenn man ihn bemerken will. Mit einem Lächeln zahle ich die Fahrt und das Trinkgeld, laufe barfuß über den warmen Kies und genieße die Sonnenstrahlen, die sich im Wasser spiegeln. In Gedanken verloren, betrete ich den kleinen Steg, auf dem wir immer saßen, um die Enten zu füttern. Ich öffne meine Tasche, und den Behälter in ihr. Ein letzter Blick, auf das, was von ihr übrig geblieben ist, dann verstreue ich ihre Asche im Wind. Ein Teil sucht sich seinen Weg im Wind und zieht dem Rhein entlang. <i>Jetzt bist du frei… </i>
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SweetWillow. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.