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Erinnerungen

von Lee16


Es ist der Tag vor Silvester. Dem Silvester, an dem ich einige der nettesten Menschen überhaupt kennen lernte. Und das Silvester, das ausschlaggebend für mein restliches Leben sein sollte.

Ich sitze mit Kerstin am Tisch, über ein kompliziertes 1000-Teile-Puzzle gebeugt und in ein mir nur allzu willkommenes Gespräch vertieft. Kerstin, 20 Jahre älter als ich und somit wohl die unerreichbarste Liebe meines Lebens, erzählt mir von ihrem Beinahe-Töchterchen. Töchterchen ist gut, denke ich mir, 14 ist die Kleine, nur zwei Jahre jünger als ich. Im plötzlichen Themawechsel fragt sie mich, ob ich einen Freund habe. Ich verneine. Freundin? kommt die zögernde Frage. An der Stelle muss ich erwähnen, dass alle Frauen, die ich zu der Zeit an der Nordsee kennen lernte, lesbisch waren, weshalb mich diese Frage keinesfalls überrascht. Im Gegenteil, ich warte seit Tagen auf sie, brenne regelrecht darauf mich endlich zu outen. Nicht mehr, antworte ich also. Woran lag es? , fragt sie. Die Frage bringt mich für einige Minuten zum Schweigen, meine Gedanken reisen ziellos in die Vergangenheit, in der Hoffnung, dort auf den Auslöser für das abrupte Ende meiner Gefü! hle zu stoßen. Ich murmele was von Aggressionen gegen die einst geliebte Person, wissend, das sogleich die Frage nach dem Warum im Raum stehen wird. Als sie tatsächlich aus Kerstins Mund kommt, suche ich längst die Antwort. Grüble, suche die passenden Worte, um ja nichts Falsches zu sagen und mich selbst damit in ein völlig falsches Licht zu stellen. Es dauert lange, doch Kerstin drängt mich nicht. Während ich noch in meinen Erinnerungen krame, beobachte ich sie. Mein nachdenklicher Blick wandert von stahlblauen Augen hinter Brillengläsern, die konzentriert die richtigen Puzzleteile in der Menge suchen, über den Mund, den ich nur lachend kenne. Und schließlich befinden sich die Sätze vollständig in meinem Kopf.

Ich war 14 als ich J. kennen lernte, beginne ich, es begann zuerst wie eine normale Freundschaft. Uns verband vor allem unsere Leidenschaft für Pferde und reiten. Almmählich wurde unsere Beziehung aber intimer, zu intim, als dass man noch von einer bloßen Freundschaft sprechen konnte. Und doch nahm monatelang keiner von uns das Wort Liebe in den Mund. Wir hatten uns auch nie über Homosexualität unterhalten, weder in bezug auf uns selbst noch allgemein. Die Tatsache, dass meine Mutter lesbisch ist, nahm sie ohne Kommentar hin. Es vergingen Monate, ehe wir uns endlich sagten, dass wir uns liebten, das gab der Beziehung dann noch einen winzigen Schups in die richtige Richtung. Doch eigentlich war mir selbst zu dieser Zeit längst klar, dass unsere Beziehung keine Zuknnftsausssichten hatte, wenigstens von meiner Seite aus. Denn sie stellte mich in den Schatten, bei was auch immer wir gemeinsam taten. Dabei will ich h! eftigst bestreiten, dass ich eine graue Maus bin, im Gegenteil, ich habe bei allem was ich tue das Bedürfnis zum oberen Drittel, am besten noch zur Spitze zu gehören. Vielleicht klingt das jetzt zu egoistisch, aber damals hatte ich einfach das Gefühl an der Grenze zu stehen, das zu werden, was man den lebenden Schatten einer Person nennt. Ich versuchte ständig es ihr zu erklären, versuchte zu erklären, dass ich selbst viel zu viel Aufmerksamkeit bräuchte, als dass ich so leben könnte.

Ich schweige, versinke in meinen Gedanken, überlege, ob es sich tatsächlich so abgespielt hat. Kerstin lehnt sich vom Puzzle zurück, sieht mich nachdenklich an und greift nach ihren Zigaretten. Weil sie weiß, dass ich das nicht leiden kann, steht sie gleichzeitig auf und kippt das Fenster. Ich merke, dass sie wartet, wartet, dass ich zu Ende erzähle. Ich atme tief die kalte Nachtluft ein und versuche gleichzeitig den Zigarettenrauch zu ignorieren. Sie hatte versprochen im neuen Jahr aufzuhören.

Vereinzelte Situationen aus der Vergangenheit laufen wie Kurzfilme an meinem inneren Auge vorbei. Mir kommen alte Sätze in den Sinn, Sätze in denen J. und ich nur noch gemeinsam erwähnt wurden. Das alte Gefühl steigt wieder in mir hoch, der Hass darüber, nicht mehr meine eigene Ängste, Wünsche und Träume habe zu können. Ich erinnere mich an Situationen, in denen ich um meine eigene Meinung gekämpft habe, als ginge es um mein Leben, doch zu der Zeit wollte sie niemand mehr hören. Aber das Gefühl des Hasses vermischt sich damals wie heute mit der Angst sie zu verletzen, der Angst, die Beziehung mutwillig zu zerstören. Geben und Nehmen, ein wichtiger Teil einer Beziehung. Doch was ich auch tat, ich hatte ständig das Gefühl viel zu viel aufzugeben und gleichzeitig die Angst, dass ich mich irrte. Ich versuche Kerstin meine Gefühle zu beschreiben, habe aber Angst, dass sie ! es nicht verstehen wird. Oftmals finde ich nicht die richtigen Worte, beginne wieder von vorne, bis ich sicher bin, es so genau wie nur möglich erzählt zu haben.

J. verstand mich damals, und vermutlich auch heute, nicht, sie fragte ob ich sie denn nicht lieben würde. Schlechtes Gewissen und Aggressionen mischten sich immer mehr in mir, ich fragte mich ständig, was ich denn falsch gemacht hatte. Meine Augen war wie Wasserfälle in diesen Wochen und doch litt ich nicht so sehr wie J., was mein schlechtes Gewissen wiederum nur noch vergrößerte. Schließlich versuchte ich ihr aus dem Weg zu gehen. Schwierig, wenn man bedenkt, dass wir in dem halben Jahr, in dem wir zusammen waren die selben Freunde und Interessen hatten. Wir sehen uns selbst jetzt, ein Jahr nach unserer Trennung, noch ständig. Wir haben uns bis heute aber nicht ausgesprochen, was unser Problem von damals angeht.

Ich drehe mich in meinem Bett vom Rücken auf die Seite und öffne die Augen. Obwohl es mitten in der Nacht ist, solang brauchten wir, um das Puzzle zu beenden, kann ich nicht einschlafen. Immer wieder gehe ich das Gespräch mit Kerstin durch und versuche mir vorzustellen, wie es hätte verlaufen können. In Wirklichkeit habe ich die Frage nach dem Warum der Aggressionen nicht beantwortet, wie immer fand ich nicht die richtigen Worte.

Tatsächlich ist mein Urlaub an der Nordsee erst wenige Tage her und ich bin Kerstin sehr dankbar, dass sie mir diese Frage gestellt hat. Sie hat mich nicht losgelassen, sodass ich mich schließlich gezwungen sah, diese Geschichte zu schreiben. Ich bin mir jetzt sicher, dass ich unsere Beziehung nicht hätte retten können, wie sehr ich mich auch bemüht hätte. Und doch, ein kleiner Rest an Zweifel bleibt an mir hängen, wie etwas, was sich nicht abschütteln lässt.

Alles in allem haben mir die Tage mit Kerstin und den anderen sehr gut getan. Mein Coming Out rast seitdem wie ein Wirbelsturm durch mein Leben und ich werde es von niemandem aufhalten lassen, auch nicht von J. Doch das ist eine andere Geschichte.



copyright © by Lee16. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.



Kommentare


:)
schön geschrieben, zwar n bissl traurig aber echt schön
Kleine_ - 15.01.2003 15:47

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