von Tracks
Der Regen hämmerte unregelmäßig gegen die morschen Fenster des altenBacksteingebäudes. dessen, was sich zeitgleich in der hintersten Ecke desSchulhofs abspielte. Der graue Schulboden glitzerte durch seine Tropfen.Überschwemmt von der großen plötzlich Wassermasse unter grauem Himmel.Überschwemmt von lange zurückgehaltenen, verzweifelten Tränen. Verlaufene,schwarze Schminke um die vor Schmerz zusammen gekniffenen Augen. Kleinst möglichvor einem Baum zusammengekauert. Der Körper, erschöpft von den Anstrengungenzittert wie Espenlaub. Verzweifelt schlägt sie die Hände vors Gesicht, auf ihreSträhnen des nassen schwarzen Haares. Auf ihre weißen kraftlosen Wangen. Ninabeobachtete etwas dass sie noch nie zuvor bemerkte. Mit Julias Tränen wusch sienicht nur ihren Schmerz aus ihren Augen. Nein, auch ihre normalerweise kräftigenblauen Augen verloren etwas. Ihre Farbe, ihr Licht. Nina selbst stand in ihremweißen, etwas zu großen, Schulhemd und dem kurzen, rotkarierten Rock, derSchuluniform, vor Julia. Besorgt blickt sie in Julias schmerzerfülltes Gesicht.Der Wasserfall der Tränen war nicht zu stoppen. Nina kniete sich hin, wobei ihrblonder Zopf leicht wippte. Aus ihrer Schultasche holte sie ein mittlerweileauch schon aufgeweichtes Taschentuchpaket. Sie zog vorsichtig das hinterste,noch wenigstens halbwegs trockene Tuch heraus. Zaghaft tupfte sie Julia dieverlaufene Schminke aus dem Gesicht. Julia fiel ihr um den Hals, sodass Nina dasGleichgewicht nicht mehr halten konnte und mit Julia auf den kalten Bodenschlug. Bis auf das Prasseln des Regens herrschte plötzlich Stille. Nina laghalb auf Julia, die ihren Arm um Ninas Kopf gelegt hatte. Es riss Nina das Herzheraus in Julias Augen zu gucken. Die grauen, toten Augen. Julia schloss dieAugen und berührte Ninas Lippen sanft mit ihren.
Frau Merkhoff saß währenddessen an ihrem Schreibtisch in ihrem beheizten undgemütlich eingerichteten Büro. Sie berichtigte Klassenarbeiten, zu ihrer Linkenein unschuldiges Teelicht und zu ihrer Rechten eine dampfende Tasse Tee, als essie zum Fenster zog. Ihre Teetasse nahm sie mit. Sie war froh sich bei diesemWetter in warmen, geschützten Räumen zu befinden. Gedankenverloren ließ sieihren Blick über den Schulhof schweifen, als sie plötzlich zwei ihrerSchülerinnen entdeckte. Verwundert wollte sie gerade das Fenster öffnen um sichzu erkundigen was da vor sich ginge, doch plötzlich erschien einaußer-sich-vor-Wut-geratene r Herr Hempel in der Tür. Das Feuer in seinen Augensprach Bände, doch Frau Merkhoff ließ sich davon erst einmal nicht beirren undfragte ganz unverwandt:
„Können sie mir sagen was da draußen vor sich geht?“
Und sie machte eine einladende Handbewegung das Büro ganz zu betreten und einenBlick aus dem Fenster zu wagen. Mit großen unvorsichtigen Schritten stürmte HerrHempel zu dem Fenster, stierte heraus und sah genau in diese Augenblick den Kusszwischen Julia und Lena.
„Argh….“ schrie er auf.
Mit dieser Reaktion hatte Frau Merkhoff angesichts zwei klatschnasser Mädchen,eine sitzend und die andere stehend, nun doch nicht gerechnet. Schnell wolltesie noch einen Blick auf das Unverständliche Treiben auf dem Schulhof erhaschen.Gerade hatten sich die Beiden aus ihrem Kuss gelöst, doch das war schon genugfür Frau Merkhoff. Während sie mit hasserfülltem Blick die Teetasse auf denTisch knallte und eine Jacke überwurf, grummelte Herr Hempel:
„Ich hab es doch schon immer gewusst. Dieses scheiß Lesbenpack.“
Er nahm einen Regenschirm aus dem Schirmständer im Flur und stürmte Frau Merkoffhinterher, die schon vorausgeeilt war.
Nina hatte Julia ihre schwarze Collegejacke überlegt, die mittlerweile aber auchschon nass wie ein Schwamm war, als sie lautes Klackern auf den kahlen Steinenvernahm. Beide starrten auf den Boden, als sie nur den Geruch von Lederschuhenihrer Direktorin erkannten und kurz danach auch die abgelaufenen, braunenSchlappen ihres Lehrers. Julia war völlig abwesend. Die Folgen waren ihrbewusst. Nina hatte Angst. Unglaubliche Angst. Noch enger kuschelte sie sich anJulia, die völlig erstarrt war. Mit herrschendem Ton befahl die Direktorin:
„Seht mich gefälligst an!“
Nina blickte ängstlich hoch. Die aufgesteckte Frisur von Frau Merkhoff war unterden Lasten des Regens etwas in sich zusammengesunken. Sie wagte es kaum Juliaanzugucken, als ihr jedoch ein unauffälliger Blick gelang, sah sie dass Juliaimmer noch vor sich hinstarrte. Kaltes Grau aus Julias Augen und eisige Kälteaus Julias Körper war alles was sie im Moment noch von ihrer großen Liebespürte. Plötzlich ging Frau Merkhoff mit einem schnellen Schritt auf Julia zuund zog ihr Gesicht direkt an ihres. Nur noch ein Atemhauch von ihrem Gesichtentfernt flüsterte Frau Merhoff:
„Du weißt, du hast deine einzige Chance verspielt.“
Julia wusste nicht wie ihr geschah, ihr Inneres wurde schwerer, undefinierbarflog es durch jede Zelle ihres Körpers und plötzlich sah sie es wieder.
Grau bedeckter Himmel, auf einer nassen Wiese. Verbrannter Geruch in der Luft.
Derselbe starre Blick, nur 10 Jahre zuvor. Im Schneidersitz, um sie herumScherben und eine qualvolle Stille. Sie schaffte es nicht ihren Blick von demunbeschadeten Gänseblümchen abzuwenden. Der Regen wie er an den feinen Blätternabperlte, der Stängel wie er sich im Wind bog…
Da beschlich sie das Wissen. Einen Blick weiter nach hinten schwarzes Gras. Nochein Blick weiter rotes Gras. Und eine Fingerspitze weiter der leblose Arm ihrerMutter und der blutüberströmte Kopf ihres Vaters, wie sie reglos eingeklemmtzwischen zwei Autos lagen...
copyright © by
Tracks. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.