von iamamiwhoami
Sie geht die Straße entlang, die lange Straße mit ihren tausend rostgetränkten grünen Laternen und den Bäumen an der Seite, von denen jetzt herbstlich gefärbte Blätter herunterwehen. Ihr vor die Füße. Sie stoppt, macht einen kleinen Bogen. Ja nicht drauftreten, denkt sie sich. Ein Spiel. Hüpf, Mädchen, hüpf. Noch ein kleiner Sprung. Gewagter. Lachen. Trotz der Menschen auf der Straße. Sie schwingt ihre Haare unter dem schönen weißen Hut, dreht sich und lacht.
Schön. Herbst eben. Das Rauschen der Blätter, das Zusammenstoßen der großen langen Äste, das Knarren des mächtigen Stammes, Stimmen, Autogeräusche und ihr Lachen. Ihre Geräusche, das klappern der Schuhe, vieler Schuhe und innerlich spielt sie Klavier. Ja, sie spielt Klavier. Das war ein lustiges Stück. Jetzt. Jetzt ein geschmeidiges, trauriges. Ihr wird gleich kälter zumute und sie mummelt sich in ihren schönen, weichen, schwarzen Schal, der sich an ihre Haut schmiegt. Zieht die Jacke enger an sich, geht langsamer. Bedachter, schaut immer noch auf den Gehweg, auf ihre klappernden Schuhe. Keine Blätter treten, keinen Baum verletzen.
Das Stück wird schneller, rasanter, imposanter. Sie fängt an schneller zu laufen, fängt an zu rennen. Fühlt sich immer leichter werdend. Sie scheint zu fliegen! Rennt und rennt, rennt!Und wie sie fliegen, ihre Haare! Im Wind des tiefsten Herbstes. Ein Akkordeon gesellt sich zu ihrem Klavier und sie rennen beide schneller und schneller durch die Notenblätter. Weiter, immer weiter, um die Ecke, schneller, Mädchen, schneller!
Sie bemerkt die alte Frau nicht, auch sie geht ihren Weg. Sie wirbelt um die Frau herum, schaut zurück, den Hut festhaltend, lächelt entschuldigend. Die Frau lächelt auch. Einige Sekunden Stillstand, dann geht es weiter. Außer Atem, sie spürt ihre Lungen, jeden einzelnen Atemzug. Es macht ihr bewusst, dass sie etwas tut, dass sie lebt. Ja, das ist leben!Tränen laufen ihr über die Wangen, schneller, Mädchen, schneller!
Immer weiter, auch nur Tränen des Glücks, so eine Schönheit sehen zu dürfen. Peinlich berührt schnell die Tränen weggewischt. Jetzt wird langsamer gelaufen!
Sie stellt sich vor, wie es wäre einen Regenschirm zu haben. Stellt sich vor wie sie ihr Schirmchen schultert und es drehen lässt. Ein spitzbübisches Lächeln dazu und ein altes 60er Jahre- Lied aus alten Boxen, weiche Männerstimme. Sie fängt an, ein bisschen zu hüpfen, gleichmäßig. Mit ihrem Schirmchen, und dem Lächeln.
Auf einmal ein starker Wind, er reißt ihr den Schirm aus den Händen, oh, wie er fliegt!
Sie will hinterher, läuft. Wo fliegt er hin? Wie weit noch. Sie lacht. Fühlt sich genauso frei wie ihr Schirm. Nein, freier noch. Sie wird ja nicht vom Wind bestimmt. Rechts zickzack, links um die Kurve. Eine Runde über die Straße, ein hupendes Auto, ein Mann der nicht versteht, warum sie so schnell, so ungewohnt läuft, rennt. Nicht etwa hektisch, nein, aber auch nicht gleichmäßig. So wie sie Lust hat und so wie ihr Schirmchen fliegt. Noch ein heftiger Windstoß, der Regenschirm ist hinfort. Von einer Wand aus nach Herbst riechenden Blättern umhüllt, verliert sie ihren Hut. Ihren schönen weißen Hut. Nein, das will sie nicht. So will sie ihren Weg nicht haben. Das Klavierspiel wird hektischer, das Akkordeon hat sich schon lange wieder verabschiedet.
Auf einmal Ruhe. Nur einzelne Töne. Neckisch. Ihr Hut macht einen Satz. Nur einen kleinen. Liegt dann ganz unschuldig da auf dem Gehweg. Soll sie ihn überlisten und ganz langsam, nichts ahnend anpirschen oder doch lieber rasant hinpreschen und ihn an sich reißen.Nein, lieber schnell, ganz schnell, rennt sie. Aber der Hut scheint schlauer. Nein, der Wind.Er lässt den Hut noch einen Satz machen. Wollte er sie ärgern? Langsame Klänge werden zu einer großräumigen Melodie. Traurig. Nein, das hatte sie nicht vorhergesehen. Leicht kräuselten sich ihre Lippen, sie kniff die Augen zusammen. Jetzt nicht traurig sein.
Vielleicht überlegt es sich der Wind ja doch noch einmal und lässt den Hut wieder auf ihrem Kopf aufkommen, spielend. Erst hoch, höher, wieder runter, wedelnd und schwubs, da ist er wieder. Ja, so wird sein, sein müssen. Es ist ja ihr Hut.
Aber er bewegt sich nicht, kein bisschen. Einen ganz langen Augenblick liegt er da schon. In seiner weißen Pracht. Jetzt ein Versuch, noch einer? Ja? Langsam, einen Fuß vor den anderen setzend schleicht sie sich an ihn ran. Jetzt keinen falschen Schritt, nur nicht zu schnell. Ihn nicht erschrecken! Und da hat sie ihn! Einfach an der Krempe gepackt, ihren Hut.
Schnell auf’s Haar gepresst und weiter geht es. Die wunderschöne in herbstliche Farben getauchte Straße. Wie damals, als sie ihre Finger in die vielen verschiedenen Farbtöpfe tauchte und Dinge so malte, wie sie für sie aussahen, nicht wie sie wirklich wirkten. Keine wirklichen Farben. So schien es, Blätter willkürlich mit rot, dazwischen mal grün und mit orange beschmiert. Oh, ein Farbtropfen, ihre Fingermalerein vermischen sich.
Ihr orange verschwimmt mit dem wunderbarem leuchtgrün und ihr braun mit ihrem rot. Andere, wunderschöne Farben entstehen. Leichte Glockentöne dazu, wunderschön, immer noch gepaart mit dem leichten Akkordeonspielen. Ruckweise, dazwischen leuchtend hell ihre Glocken. Sie hob die Hand, bewegte ihre einzelnen Finger in ihren rostroten Fingerhandschuhen. Schob sie vor das Gesicht mit ausgestrecktem Arm und begann die Blätter des mächtigsten, beeindruckendsten Baumes ihr gegenüber stehend zu bemalen. Der Zeigefinger ihrer rechten Hand machte da einen Strich, oh, und da noch einen Klecks, und die Blätter färbten sich nach ihrem Sinn. Wie sie alles wunderschön leuchtend machen konnte! Erst zögerlich und dann mit immer selbstbewussteren, dickeren, größeren Strichen. Nicht mehr zaghaft und schmal. Ein Tropfen, noch einer, und oh, noch einer. Ins Gesicht. Mitten hinein, auf die Stupsnase. Und dann goss es, wie mit einem großen Gartenschlauch von oben herab.
Schnell drehte sie sich um, so abwegig war die Überlegung gar nicht. Aber da stand kein Opa, mit Lächeln und seinem Gartenschlauch, die zarten Pflanzen gießend. Nein, das kam von ganz oben. Sie schaute unwillkürlich hoch. Als ob dort zu sehen wäre, wer denn da gießen würde. Niemand zu sehen. Nur lange, lange, nasse Striemen, die ihre ins Gesicht platschten, liefen, in den Kragen, sie nass machen wollten. Aber nein, denen würde sie ein Schnippchen schlagen! Ja ja! Sie streckte den nassen Bindfäden die Zunge heraus, vielleicht um sie doch einmal zu schmecken und eigentlich, um ihnen den Kampf anzusagen. Der Schalk sprühte aus ihren großen grünen Augen und da lüftete sie auch schon ihren Hut und lief los.
Der Hut wedelten hinter ihr her, umklammert von ihrer kleinen Hand. Schneller und schneller ging es immer noch die Straße hinauf. Lange würde es nicht mehr dauernd. Nur noch ein Stückchen. Sie zog ihren weißen Hut zu sich ran, streckte ihn im Laufen nach vorne und wieder zurück und wieder einen Kreis nach vorne, als würde sie sich vorstellen, nach einer gelungenen Aufführung mit dem Hut durch die Reihen zu gehen und Beifall in Form von Geld einzusammeln. Sie hatte genug Applaus geerntet, genug Regenfäden gesammelt und stülpte sich ihr Hütchen wieder auf das Haar. Die Blätter wedelten, das Klavier lieferte sich ein Rennen mit dem Akkordeon und dazu ihr Schuhklappern bei jedem ihrer Schritte.
Sie ging mit, mit mit dem Klavier, lieferte sich mit den beiden ein hartes Duell.
Zickzack nach rechts, in den Hauseingang, schauen, nach rechts, nach links. Wieder rausgeschossen kommen, zum nächsten. Der Regen prasselt auf die Straße. Oh, wie die glänzt! Schnell rennt sie auf den schwarzen Spiegel, denn im nächsten Moment könnte er schon wieder nicht mehr spiegeln. Da steht sie, Regen geht auf sie nieder, Geräusche ihrer Kleidung unter der Nässe. Und sie, sie steht einfach nur da und schaut nach unten. Überwältigt von diesem Anblick, gepaart mit der Musik in ihrem Kopf. Wunderschön. Sie sieht sich nach unten schauen, sieht die Bäume mit ihren ausladenden Ästen hinter sich. Sieht die Lichter aus den Fenstern der Häuser, welche zur Straße hinaus nur für sie schienen.
Sah aber nicht das Auto. Spürte es nur, wie sie heute auch den Regen gespürt, die Blätter bemalt und dem Wind nachgejagt war. Spürte den nicht mehr freundlichen, schwarzen Straßenbelag. Spürte nicht mehr ihre Beine, ließ das Köpfchen nur zur Seite rutschen, sah ihre kleine Hand, wie sich die Finger in den Handschuhen bewegte. Und hörte, wie sich Klavier, Glocken, Akkordeon, Regen und Blätterrascheln vereinigten und das Stück ein Ende nahm.
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iamamiwhoami. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.