von Schully
„Seid ihr mal still? Ihr spinnt doch, stellt euch mal vor jemand, der mich nicht so gut kennt hört euch und glaubt DAS wirklich!!“
Sues Freundinnen prusteten los und rollten mit den Augen.
Zu dritt bewohnten sie das kleine Zimmer der Jugendherberge, wo sie während ihrer Klassenfahrt untergebracht waren.
Sie gingen in die 10. Klasse und waren für 8 Tage an die Ostseeküste gefahren. Es war kurz vor den Sommerferien und da diese in diesem Jahr außergewöhnlich spät anfingen, war es schon warm genug, dass sie, natürlich nur unter Aufsicht der Lehrer, schwimmen gehen, am Strand faulenzen oder Sport treiben konnten.
Nun war es Abend. Die Jugendlichen sollten bereits auf ihre Zimmer gehen und in wenigen Minuten würden die Lehrer eine letzte Kontrolle machen, ob auch alle in den ‚richtigen‘ Zimmern wären.
Doch ansonsten sahen die Lehrer es zum Glück nicht allzu eng, wenn nachts noch Lichter brannten oder die Schüler sich leise unterhielten. Die begleitende Lehrerin war selbst noch ziemlich jung und der andere Begleiter, ein schon älterer Kollege, hatte bereits genug Erfahrungen gesammelt, um zu wissen, dass man sich als überstrenger Lehrer nur Feinde machte und nichts erreichte.
So also störten sich Sue und ihre Freundinnen trotz ‚Nachtruhe‘ wenig daran, dass ihr Zimmer direkt an das der Lehrerin grenzte und unterhielten sich bei leise aufgedrehter Musik.
Immer noch glucksten die zwei Mädchen und unterdrückten ihr Lachen darüber, dass Sue sich über ihre Rufe „Sue ist ‘ne Lesbe! Sue ist ‘ne Lesbe!“ so aufgeregt hatte. Und das, obwohl es ja eigentlich nur ein Scherz gewesen und nicht böse gemeint war.
Das wusste auch Sue und sie wunderte sich über sich selbst, dass sie augenblicklich so hochgegangen was. Sie war schließlich nicht lesbisch und außerdem fest davon überzeugt, dass auch sonst keine ernsthaft dachte, dass SIE Frauen lieben würde. Ein absurder Gedanke.
Nachdem sich Sues Freundinnen wieder beruhigt hatten, wurde schnell das Thema gewechselt und auch später in der Nacht kamen sie nicht mehr darauf zurück.
Als am nächsten morgen der Wecker klingelte, hatten alle drei dunkle Ringe unter den Augen und keinerlei Lust auf die bevorstehende Strandwanderung. Es nützte nichts. Gähnend und stöhnend standen sie auf, um nacheinander das Bad zu benutzen und dann in das nebenstehende Haus zum Frühstücken zu gehen.
Einige Mitschüler saßen bereits in den aufgereihten Tischen und schoben Müsli in ihren Schüsseln hin und her oder, wie vor allem die Jungs, Brötchen in sich hinein. Die drei ließen sich ebenfalls an einem der Tische neben ihren Klassenkameraden nieder und begannen zu essen.
Als Sue eine Hand auf der Schulter spürte, zuckte sie leicht zusammen. Sie drehte sich um und schaute direkt in das Gesicht ihrer Lehrerin.
Ihr Herz schlug ihr einen kurzen Augenblick bis in die Kehle, doch schnell fasste Sue sich wieder und überlegte fieberhaft, was ihre Lehrerin von ihr wollen könnte. Innerhalb Sekundenbruchteilen kam sie zu dem Schluss, dass sie jedenfalls nichts Verbotenes getan hatte und lächelte daraufhin ihre Lehrerin freundlich an: „Guten Morgen!“ „Guten Morgen, ihr! Wie ich sehe seid ihr noch erschöpft von euer nächtlichen Unterhaltung? Naja, dann habt ihr wenigstens noch ‘ne Weile was davon ;-)!“
Sues Herz rutschte ihr für einen kurzen Moment in die Magengegend. Konnte die Lehrerin etwas von dem gestrigen Gespräch aufgeschnappt haben? Nein, bestimmt nicht, bestimmt, hatte sie lediglich Gemurmel wahrgenommen.
Außerdem war ihnen die Lehrerin sichtlich nicht böse. Mit einem Lächeln wünschte sie noch „Guten Appetit!“ und ließ sich schließlich an einem Tisch etwas entfernt nieder, wo bereits ihr Kollege zu frühstücken begonnen hatte.
Als sie einige Stunden später en Strand entlang wanderten, schloss die Lehrerin sich der Gruppe Mädels an, unter der auch die drei Freundinnen waren, um sich in lockerem Ton mit den Jugendlichen zu unterhalten.
Dass sich allmählich die meisten anderen von der Gruppe entfernten, weil sie entweder nicht als Streber, der sich bei der Lehrerin einschleimt, gelten wollten oder es einfach interessanter fanden, zwischen den Jungs durch den Sand zu spazieren, bemerkten weder Sue noch die junge Lehrerin.
So kam es, dass die beiden schon bald allein nebeneinander her schlenderten.
Obwohl ihnen mit der Zeit die Themen ausgingen, über die sich ein Schüler mit seinem Lehrer unterhalten kann, kam es nicht dazu, dass sie die anderen Gruppen einholten und sich ihnen anschließen konnten. Also gingen sie weiterhin, nun schweigend, nebeneinander her, ohne dass die Stille zwischen ihnen unangenehm wurde.
Genau das verwirrte und wunderte Sue, aber zugleich freute sie sich darüber.
„Sue?!“ Es war die Stimme der Lehrerin, die das Schweigen brach. „Ja?“ Obwohl Sues Antworte gelassen klang, schlug ihr Herz Loopings. Was war bloß mit ihr los? Was war das eigentlich für eine komische Situation? Sie sollte eigentlich bei ihren Freundinnen sein, anstatt hier neben ihrer Lehrerin hergehend feuchte Hände zu bekommen.
Nach kurzem Zögern sprach die Lehrerin weiter: „Sue, ...ähm.. ich will dir wirklich nicht zu nahe treten und wenn du nicht mit mir darüber reden möchtest, dann musst du es auch ganz bestimmt nicht...“, sie schien auf eine Reaktion seitens Sue zu warten, doch als nichts kam fuhr sie fort. „Gestern Abend...da haben ich etwas mitbekommen...ich... ich habe bestimmt nicht gelauscht, wirklich nicht...ich ..“, sie verstummte. Sue drehte sich zu ihr um und sah ihr auffordernd direkt in die Augen. Jetzt wollte sie wissen, was die Lehrerin gehört hatte, obwohl sie es sich schon fast denken konnte.
Die junge Frau schien ein wenig verschüchtert und bereute es anscheinend schon jetzt, dass sie überhaupt damit angefangen hatte. Doch jetzt musste sie weitersprechen, es gab kein Zurück mehr. „Ich habe eine deiner Freundinnen rufen hören, du wärst lesbisch und ...naja... ich wollte fragen, was da dran ist...!“ Sue brauste auf. Was sollte das denn jetzt? Dass die Lehrerin so direkt darauf zu sprechen kam, damit hatte sie nicht gerechnet.
„Ich wüsste nicht, was Sie das etwas angeht!“ Beinnahe vergaß Sue, dass sie immer noch eine Lehrerin vor sich hatte. Doch die Lehrerin schien nicht verärgert über Sues Tonfall. Im Gegenteil, sie schien bemerkt zu haben, dass sie es vorsichtiger hätte angehen müssen: „Tut mir leid, Sue! Ich weiß, dass es mich eigentlich nichts angeht...“ Sue war kurz davor zurückzufauchen: „Dann fragen Sie doch nicht!“, doch rechtzeitig konnte sie sich stoppen und atmete statt dessen tief durch. Als die Lehrerin merkte, dass Sue sich selbst beherrschen musste, zog sie es vor eine Weile zu schweigen.
Also gingen sie weiter schweigend nebeneinander her und wurden dabei fast unmerklich immer langsamer. Der Rest der Klasse entfernte sich immer weiter, doch Sue war das nur recht. Sie wollte nicht, dass ihre Klassenkameraden mitbekamen, worüber sie sich mit ihrer Lehrerin unterhielt.
Als sie beinahe schon standen, spürte Sue die Hand ihrer Lehrerin auf ihrem Arm, die sie leicht zurückhielt. Sie drehte sich zu ihr um und kämpfte unter dessen mit einem Kloß, der sich in ihrer Kehle bildete.
„Sue.. ich wollte dir noch etwas anderes sagen! Ich... ich werde nur noch wenige Wochen bei euch bleiben, weil ich eine feste Stelle an einer Schule in einem anderen Bundesland bekommen habe!... Ich finde es zwar schade, dass ich euch dann nicht mehr sehe und so... aber die Chance kann ich mir nicht entgehen lassen!“ Sue war verwirrt. „Warum erzählen Sie mir das?“ Kurz nachdem sie die Worte gesprochen hatte, wurde ihr bewusst, wie unfreundlich sie klangen, doch jetzt war es zuspät und die Lehrerin schien es nicht einmal bemerkt zu haben. „Weil ich dich mag! Und weil ich mich gerne jetzt schon von dir verabschieden würde, weil ich nicht glaube, dass ich sonst noch einmal eine Gelegenheit haben werde, dich alleine zu sprechen.“ Sue runzelte die Stirn. Ihre Lehrerin: „Und weil ich glaube, dass es dir leichter fällt mit mir über dieses Thema zu reden, wenn du weißt, dass ich eh nicht mehr lange deine Lehrerin sein werde. Ich frage dich danach schließlich nicht als eine Lehrerin, sondern eher... ähm... persönlicher...“ Sue zog ihren Arm zurück und drehte sich weg. Sie wusste selbst nicht warum, aber aus irgendeinem Grund zog sich etwas immer fester um ihre Kehle und erschwerte ihr das Atmen. „Suuue... bitte..! Du musst mir nicht einmal antworten, aber bitte schau mir wenigstens in die Augen!“ Für einen kurzen Moment schaffe Sue es den Blick aufzurichten und schaute der jungen Frau vor sich in die Augen. Was sie darin sah verwunderte sie zutiefst. Keine pädagogische Neugierde, kein plattes Interesse, ob sie es schaffen würde, Vertrauen zu ihrer Schülerin aufzubauen, um somit eine Selbstbestätigung zu erleben. Nein, was Sue in den Augen ihrer Gegenüber sah war etwas anderes. Sie konnte es zunächst nicht einordnen, aber sie sah, dass der Lehrerin es scheinbar wirklich um Sue und weniger um sich selbst ging. Sie sah eine Art Verständnis und Wohlwollen in den Augen und hatte augenblicklich das Verlangen sich der jungen Frau anzuvertrauen, in ihren Armen zu liegen und mit ihr über alles zu sprechen. Doch gleichzeitig wuchs der Kloß in Sues Kehle auf unerträgliche Größe an und sie spürte, wie ihre Augen zu brennen anfingen. Sie wusste, dass sie jeden Augenblick zu Heulen anfangen würde und sie wollte nicht, dass ihre Lehrerin die Tränen in ihren Augen sah. Schnell drehte sie sich weg. Sie hörte die Stimme ihrer Lehrerin, die einen Schritt auf sie zugekommen war: „...Es stimmt also...und ich habe das Gefühl, dass dich das ziemlich belastet! Mir scheint es sogar, dass du mit fast niemandem darüber reden kannst?... Ich würde gerne mit dir darüber reden.“ Die Lehrerin stand jetzt direkt neben Sue, die sogar ihren Atmen im Nacken spüren konnte. Sue wusste nicht mehr, was sie machen sollte. Sie hatte sich schon zu lange unbewusst gegen ihre eigenen Gefühle gewehrt und jetzt spürte sie, wie die Mauer, die sie zum Schutz um ihr eigenes Herz aufgebaut hatte, langsam erst bröckelte und schließlich endgültig in sich zusammen fiel.
Als ihre Lehrerin sie sanft zu sich umdrehte und ihr in die Augen sah, war die junge Frau vor Sue plötzlich nicht mehr nur eine Lehrerin. Sue spürte, dass sie sich nach Nähe sehnte. Nach Nähe zu eben dieser Frau vor sich. Doch gleichzeitig wusste sie, dass es falsch war, was die dachte und fühlte. Aber auch ihre Lehrerin musste sich dessen bewusst sein und so legt Sue es in die Hand der Älteren von ihnen beiden und wehrte sich nicht mehr gegen das, was in ihrem Inneren vor sich ging. Ihren Tränen, die sich seit langer Zeit in ihr aufgestaut hatten, ließ sie nun freien Lauf.
Während sie nun in den Armen der jungen Frau lag, fühlte sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder geborgen und als sie ihren Kopf von der sie haltenden Brust zurück nahm und in die Augen blickte, die sanft auf ihr ruhten, wusste sie, was die Lehrerin dazu bewegt hatte sie auf das Gehörte anzusprechen. In den Augen lag nun mehr, als nur Verständnis. Liebe.
Kurz darauf fühlte Sue, wie sich die weichen Lippen um ihren Mund schlossen. Alles begann sich zu drehen, doch es war das Schönste, was sie jemals erlebt hatte. Ihr ganzer Körper bebte vor Glück.
Trotzdem war ihr bewusst, dass dies nur ein sehr kurzes Glück sein würde. Sie wusste, dass, wenn sie sich von einander lösen würden, es für immer sein würde. Es war der erste und gleichzeitig der letzte Kuss, der beiden Frauen, deren Lebenswege doch so weit auseinander gehen würden. Trotzdem nahmen beide den Schmerz der baldigen Trennung für das kurze Glück hin.
Einige Minuten später lief Sue wieder neben ihren Freundinnen durch den Sand und die junge Lehrerin hatte sich ihrem Kollegen, der vorauseilte, angeschlossen.
Nicht nur die Lehrerin, sondern auch Sue achtete darauf nicht noch einmal in eine Situation zu kommen, in der sie allein waren, da sie wusste, dass dies das Beste für beide wäre.
So waren sie also wieder nur Lehrerin und Schülerin und als sich die junge Frau an Ende des Schuljahres endgültig von allen verabschiedete, ließ sich Sue ihre tiefe Trauer nicht anmerken.
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Schully. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.