von Misao
Es war Montag, die sechste Stunde. Sie mochte Montage nicht besonders.
Das Wochenende war vorbei, die neue Woche begann und sie wusste nun, dass es noch sehr lange dauerte, bis es Freitag war. Bis es Freitag war und sie Nadja wieder sah. Sie war lesbisch. Und das machte geraden diesen Montag, gerade diese sechste Stunde nicht schöner.
Lisa hatte Max geschlagen.
Max hatte Lisa als schwul bezeichnet, da sie ihrer Schwester zum Abschied einen Kuss auf die Backe gegeben hatte.
Lisa wusste zwar nicht genau was das hieß, „schwul sein“, jedenfalls schien es nach dem Gespräch das sie mit ihr geführt hatte so, trotzdem fühlte sie sich beleidigt und schlug Max auf die Nase.
Lisa war schon immer sehr energisch gewesen und wusste sich oft nur mit Gewalt zu helfen, was sicherlich bereits ungewöhnlich für ein Mädchen war. Vielleicht mag es schon für ihre sexuelle Orientierung gesprochen haben und sie reagierte genau aus diesem Grund so heftig auf Max' Ausruf.
Es war jedenfalls nichts ernsthaftes passiert, die Nase war leicht geschwollen und blutetet, gebrochen war sie jedoch nicht.
Doch sie wollte diesen Fall nicht so behandeln, wie es normalerweise vorgeschrieben war. Eine Entschuldigung von Lisa an Max würde in diesem Falle nicht reichen, dass war sie sich schuldig, sich und allen anderen auch.
Sie wollte mit den Kindern reden. Ihnen erklären, was es bedeutete schwul oder lesbisch zu sein, was das Wort “Homosexualität” bedeutete. Sie wollte ihnen klar machen, dass diese Worte keine Beleidigungen waren, dass jeder Mensch, egal was oder wer er war, Respekt verdient hatte, das man Toleranz üben musste.Sie war sich klar, dass dies so früh wie möglich geschehen musste, um die Kinder moralisch auf ihr weiteres Leben vorzubereiten.
Um gute Menschen aus ihnen zu machen.
Das war ihre Aufgabe, ihre Pflicht. Deswegen durfte es mit einer Entschuldigung von Lisa an Max nicht getan sein.
Sie schrieb das Wort „Homosexualität“ an die Tafel. Dann drehte sie sich um, sah die Kinder an.
„Wer von euch kann mir sagen, was das bedeutet, Homosexualität?“
Kate meldete sich. Wie immer wartete sie nicht ab, bis sie aufgerufen wurde, sondern begann gleich zu erzählen: „Homosexualität bedeutet, dass Frauen Frauen lieben und Männer Männer. Lesbische Frauen mögen keine Männer und schwule Männer mögen keine Frauen, so ist das. Aber das ist nicht schlimm, sagt mein Papa, die Menschen sind nicht krank, sie sind nur anders. Mein Onkel ist auch schwul. Aber ich mag ihn ganz gerne, ich bin nämlich tolerant!“
Diese Erklärung stellte sie zwar nicht ganz zufrieden, aber sie war froh, dass das Kind wenigstens einigermaßen aufgeklärt war und seine Eltern ihm nicht einredeten, dass homosexuelle Menschen böse und kranke Leute wären, die falsche Dinge taten.
„Das ist schon sehr gut Kate, da hast du gut aufgepasst. Allerdings stimmt es nicht unbedingt, dass alle lesbischen Frauen Männer nicht mögen, und Schwule keine Frauen. Das mag es zwar auch geben, aber das ist sicherlich nicht immer der Fall. Aber du hast ganz Recht, Homosexualität ist nichts schlimmes, es ist keine Krankheit und sicherlich nichts falsches oder böses. Es ist wichtig, diese Menschen zu respektieren und genauso zu behandeln, wie ihr alle Anderen behandelt, denn sie sind nicht weniger oder mehr wert als ihr, nur weil sie anders sind.“
Da fiel ihr Blick auf Karl, der nachdenklich und still in der Ecke saß.
„Karl, hast du das verstanden? Du schaust so nachdenklich, hast du eine Frage?“
Karl runzelte leicht die Augenbrauen, seine Unterlippe schob sich sachte vor, so dass man es kaum Wahrnehmen konnte.
Er sah in diesem Moment sehr reflektiert und erwachsen aus, es war leicht zu vergessen, dass er erst 10 Jahre alt war.
„Nein, ich habe das nicht verstanden,“ sagte er leise und die Klasse begann unruhig zu werden, einige fingen an zu lachen, andere wollten schimpfen, aber er sprach schon weiter „Wenn Lisa Mädchen mag, dann ist sie nicht anders als ich. Ich mag auch Mädchen. Mein Papa mag auch gerne Mädchen, er mag meine Mama. Und meine Mama mag Jungen, so wie Papa, aber das ist normal, viele Mädchen mögen Jungen. Und Jungen die auch Jungen mögen sind so wie meine Mama und meine Mum ist toll. Ich verstehe nicht, wieso wir anders sein sollen.“ In diesem Moment beendete das klingeln die Stunde.
Einige Sekunden noch war es ruhig, alle sahen Karl an, dann fing das typische Lärmen an, dass sich am Ende eines Schultages in jeder Klasse breit machte.
Die Kinder packten ihre Sachen zusammen und verließen einer nach dem anderen den Klassenraum. Sie bekam davon nicht viel mit. Sie sah Karl an, der noch einige Sekunden sitzen blieb und dann ebenfalls anfing seine Sachen zu packen und aufstand, um den Klassensaal zu verlassen. Als er mit einem „Auf wiedersehen“ den Raum als Letzter verließ stand sie noch immer da und sah den Platz an, auf dem sich gerade Karl befunden hatte.
Und auch noch lange, nachdem er gegangen war stand sie so da und sah unverwandt auf seinen Platz.
Es war ihr, in dem Moment als Karl gesprochen hatte, bewusst geworden was Toleranz bedeutete.
Es war ihr in dem Moment bewusst geworden, dass ihre Moral keinerlei Bedeutung hatte.
Es war ihr bewusst geworden, dass sie sich selber belogen hatte.
Ihre Weltvorstellung war aus den Angeln gehoben worden.
Durch einen kleinen Jungen.
Einen Jungen namens Karl.
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Misao. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.