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Lange Tagelang

von Jupitra


Und dann verschlief sie das Tageslicht. Zunächst war es nur, weil die Nacht so lang gewesen war, weil die von Tanzen und Mitlachen und sorglos Tun ermüdeten Geister an einem dieser Sonntage, nicht die Vorhänge öffnen wollten. Und weil es so angenehm gewesen war, bis in den Abend hinein im Bett zu liegen und die ohnehin trägen Gedanken mit seichten Filmen zu betäuben. Nur aufzustehen, um einen Rest Eiscreme aus dem Gefrierschrank zu holen. Es war eine allumfassende Seelenrelaxanz gewesen, der perfekte faule Sonntag, nur rumliegen, atmen, die Welt Welt sein lassen. Trotz des leichten inneren Gefühls, zu wenig getan zu haben, nutzlos gewesen zu sein, einen Tag verschwendet zu haben, schlief sie in der Nacht ein, ohne zu bemerken, dass es jetzt vollends da war.
Am nächsten Morgen, dem späten Montagmittag, spürte sie eine innere Weigerung die Augen zu öffnen. Da war etwas, das nicht stimmt in ihr. Mit ihr. Als sei etwas in ihr zerbrochen. Über Nacht, ganz plötzlich. Ein vorsichtiges, mittels starken Willens erzwungenes Blinzeln verriet ihr auch nicht mehr, verändert nichts. Bewegungslos lag sie auf der Seite und betrachtete ihre Hände. Dann den Wäscheständer. Dann den Faltenwurf ihres Leintuchs. Und dann schloss sie ihre Augen wieder. Ohne in einen wirklichen Schlaf zu versinken, verbannte sie alle Gedanken aus sich. Versuchte jedes Gefühl in sich bis in die Gefühllosigkeit zu drücken.
Taub für ihr Leben, blind für ihre Welt, stumm für ihren Schmerz, verlor sie sich in einer Art selbsterwähltem Komazustand. Der Umhang aus unendlicher Schwere und Melancholie umhüllte sie, wie Zeitung, Luftpolsterfolie und Seidenpapier eine kostbare Vase. Das durch die geschlossenen Vorhänge dringende Restlicht des Tages schien durch den Raum zur Nacht zu wandern. Stunde um Stunde betrachtete sie nur regungslos ihre vier Wände, kaum fähig sich zu bewegen. Ihr Atmen, ein ungleichmäßiges Seufzen, ein stiller, unbewusster Wunsch nicht zu atmen, war kaum hörbar.
Die Schmelze von Tag und Nacht ließ kurz ihr Pflichtbewusstsein nach Luft schnappen und bereitete ihr ein stechendes Gefühl in Kopf und Brust. Ein verlorener Tag, fast wie abermillionen verlorener Chancen. Eine vorsichtige Träne bahnte sich ihren Weg von ihrem linken Augen, über ihren Nasenrücken und die rechte Wange hinab und bevor sie die Matratze berühren konnte, war sie wieder in einen unruhigen, tiefen Schlaf gefallen. Sie träumte von Angst und Leere. Sah sich auf einer endlosen, verschneiten Wiese stehen, auf der sie nichts umgab. Keine Bäume oder Sträucher, keine Hügel, kein Windhauch erhob sich über ihrer Ebene. Da war nichts, außer Kälte.
Im Dunklen wachte sie auf. Kurz vor halb fünf am Morgen. Sie drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Oder hatte sie ihre Augen geschlossen? Es war Dunkel, so oder so. In ihren Gedanken war die Kälte ihres Traums und fröstelnd zog sie ihre Decke enger um sich. Neben der Kälte fühlte sie einen dumpfen Schmerz und Angst. Lähmende Angst, sich nicht bewegen zu können. Angst vor dem Schmerz, Angst vor dem nächsten Atemzug, vor der nächsten Welle aus Grübeleien und Anforderungen. Und bevor die ersten Tagesstrahlen durch die Vorhänge dringen konnten, schlief sie wieder, bis zum Abend. Bis in die Dunkelheit.
Zusammengekrümmt und von einem ungreifbaren Weinkrampf geschüttelt, wachte sie auf. Sie vermisste die geträumten Arme, die sich um ihre Taille schlangen und ihr Wärme, Geborgenheit und Nähe gaben. Sie vermisste andere Lebewesen, aber zeitgleich war sie sicher nicht aufstehen, nicht sprechen, keine Anderen ertragen zu können. Tränen, Ängste und Einsamkeit erstickten jeden Gedanken im Keim. Das reine Koma war vorerst überwunden, nun kam die Operation am offenen Herzen bei vollem Empfinden. Stunden verstrichen in salzigen Tropfen und unterdrückten Schluchzern. Der allgegenwärtige, unlokalisierbare Schmerz. Die Wahrnehmung einer einzigen, riesigen inneren Zerrissenheit verstörte sie abgrundtief. Da war doch nichts gewesen. Nichts hatte es angekündigt, es war einfach gekommen. Breitete sich aus, wie eine Kaninchenpopulation in ihre Venen. Und je mehr zu Leben begangen, desto mehr starben auch wieder in ihr und beschwerten sie, zogen sie unter die Oberfläche eines Gewässers aus Düsternis und Irrealität. In langen Atemzügen und noch längeren Augenaufschlägen verschwammen Tage und Nächte. Alle Dunkelheit und jeder Lichtstrahl. Wie im Fieber schlief und wachte sie. Mal war da Kälte, mal unerträgliche Hitze, gefolgt von kaltem Schweiß und unruhigen Träumen. Kein Unterschied zwischen Traum und Wachen stellte sich mehr bei ihr ein. Vermischte Phasen aus Träumen, Gedankenspielen und Musik gestalteten ihren inneren Kampf. Vor ihrem Fenster zogen Regen, Schnee, Licht, Nebel und Nächte vorbei. Vor ihrem Seelenfenster war nichts. Vielleicht ein schwarzer Schatten. Eine Ahnung. Eine Hoffnung, eine Idee, dass da in Wirklichkeit Sonne sein musste.

Und irgendwann waren ihre Augen leer, ihr Körper, wie ein Kadaver in der Wüste vertrocknet und ihre Wange fühlte sich auf dem nassen Kopfkissen wund an. Die Finger ihrer rechten Hand umschlossen, kaum sichtbar, eine Idee diffusen Tageslichts. Und irgendwo, zwischen ihrer Seelen und ihrem Herzen, begann dieser diffuse Lichtstrahl sich auszubreiten.



copyright © by Jupitra. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.





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