von atayari
Die ganze Nacht habe ich kaum schlafen können. Habe mich von einer Seite auf die andere gewälzt, gejagt von meinen eigenen Gedanken. Will ich? Will ich nicht? Sollte ich überhaupt? Das Grübeln hat kein Ergebnis gebracht.
Immerhin ist mir irgendwann klar geworden, dass es so auch nicht weitergehen kann. Den Tag über habe ich dann versucht, zu vergessen, dass es sie gibt. Hat nicht funktioniert. Die zweite Nacht verlief dann nicht so viel anders als die erste. Ich habe schon viel zu viel geweint ihretwegen. Trotzdem habe ich dann beschlossen, es noch einmal darauf ankommen zu lassen. Mir noch diese eine Chance zu geben. Mir und ihr. Uns. Vielleicht.
„Komm vorbei heute Abend. Buchenweg 12.“ Mehr habe ich ihr nicht geschrieben. Sie hat mir keine Antwort geschickt. Ich habe trotzdem vorsichtshalber alles vorbereitet, falls sie doch auftaucht. Essen vorbereitet, die Wohnung geputzt und aufgeräumt, das Bett frisch bezogen, gemütlich geduscht, mir besonders viel Mühe gegeben, meine Haare zu machen. Mich fünf Mal umgezogen. So war ich wenigstens beschäftigt, während ich krampfhaft versucht habe, nicht zu warten. Dann habe ich mich gezwungen, mich mit einem Buch aufs Sofa zu setzen und es auch tatsächlich zu lesen. Nur nicht nachdenken.
Vor Schreck lasse ich fast das Buch fallen, als es dann tatsächlich an meiner Tür klingelt. Es ist halb sechs. Ich spüre, wie mir das Adrenalin durch die Adern schießt, einmal von unten nach oben und zurück, und meine Hände anfangen zu zittern. Ich merke, dass ich flach atme und überhaupt nicht mehr sicher bin, ob ich das hier alles wirklich will. Ich könnte auch einfach nicht aufmachen… Aber dann laufe ich doch in den Flur und drücke auf den Summer. Vielleicht ist sie es ja auch gar nicht?
Ich höre Schritte auf der Treppe und öffne meine Wohnungstür. Es ist tatsächlich Elisa. Ich beobachte, wie sie den letzten Treppenabsatz herauf kommt, und bin unfähig, irgendetwas zu fühlen außer Glück. Innerlich schimpfe ich mich dumm. Sie lächelt mich unsicher an. „Hallo.“, quetscht sie heraus. Ich öffne die Tür weiter, damit sie reinkommen kann, und schließe sie wieder hinter ihr. Sie hält ein komisches Bündel im Arm, das nach Blumen aussieht und in undurchsichtiges Papier verpackt ist. Abwartend schaut sie mich an, hat die Hände voll, weiß nicht, was sie machen soll. Ich rette sie nicht. „Das ist für dich!“, murmelt sie schließlich und versucht mir das Bündel in die Arme zu drücken. „Blumen?“, frage ich skeptisch und erschrecke darüber, wie frostig meine Stimme klingt. „Nein! Keine Blumen. Ich weiß doch, dass du Blumen nicht magst. Hier, guck rein!“ Sie streckt mir das Bündel entgegen. Zögerlich greife ich danach. „Pass auf, ist schwer!“, warnt sie mich. Ist es tatsächlich. Jetzt werde ich doch neugierig und nehme das Ding mit in die Küche, um es auf dem Tisch von seinem Papier zu befreien. Es ist ein ziemlich großer Blumentopf, gefüllt mit nasser, satter schwarzer Erde, und in der Mitte reckt sich ein klitzekleiner grüner Schössling mit ganzen drei Blättern dran mutig in die Höhe. Daneben liegen zwei Tafeln Schokolade. Eine weiße und eine schwarze mit 80% Kakao. Sie hat sich offenbar nicht nur das mit den Blumen gemerkt. Ich nehme es zur Kenntnis. Dann begutachte ich ratlos das kleine grüne Ding. „Was genau soll das sein?“, frage ich schließlich und merke zu spät, dass meine Stimme zwar weniger frostig als eben, aber dafür richtig spöttisch klingt. Irgendwie will ich sie gar nicht mehr verletzen, merke ich und nehme auch das zur Kenntnis. Sie schluckt. Ich sehe, wie ihre Augen unruhig einen Ort zum Verweilen suchen, mein Gesicht streifen, ohne meinem Blick begegnen zu können, und sich dann an dem kleinen grünen Ding festhaken. Sie knetet ihre Hände, weiß nicht, wohin mit sich. Ich nehme auch das zur Kenntnis und stelle fest, dass es mir leid tut, sie so zu sehen. Dass ich möchte, dass sie mich ansieht und lächelt. Ich sage nichts.
„Das ist ein Mammutbaum.“, sagt sie schließlich. Dann schaut sie mir plötzlich doch in die Augen. „Mammutbäume wachsen sehr langsam. Aber dafür werden sie sehr sehr alt…“ Ihr Blick hakt sich an meinen Augen fest, Pupillen weit offen, und ich starre in ihre dunklen Augen und sehe darin gespiegelt, was ich fühle. Für den Bruchteil einer Sekunde sind wir eins. Blitze explodieren in meinem Kopf, ich muss den Blick abwenden, mich von ihr abwenden, ich ertrage es nicht. Irgendetwas in mir, in ihr…
Ich spüre ihre Hand an meiner Schulter, ihre andere Hand, die mich zu sich herum zieht, und ich explodiere unter ihren Händen, mein ganzer Körper steht in Flammen, ich taste nach ihr, ohne die Augen zu öffnen. Ihre Lippen treffen meine. So warm, so vertraut. Ich höre mich stöhnen, spüre Tränen über meine Wangen laufen. Es ist mir egal. Ich ziehe sie fest an mich, erwidere hungrig ihren Kuss, spüre sie erbeben, fühle, dass auch sie weint. Es ist egal.
Irgendwie landen wir in meinem frisch bezogenen Bett, können uns kaum schnell genug gegenseitig die Kleider vom Leib reißen. Ich ziehe sie an mich, auf mich, spüre meine Haut brennen, wo sie ihre berührt, spüre Hitzewellen durch meinen Körper schießen, sehe grellweiße Blitze explodieren in meinem Kopf, und ich will nicht, dass es aufhört. Meinen ersten Orgasmus übergehe ich einfach, ich will sie nicht loslassen, nicht mal für eine Sekunde. Ich spüre, dass sie es ebenso hält ein paar Minuten später. Nie genug Luft in meinen Lungen, niemals genug Nähe zwischen unseren Körpern, Hände überall, Stöhnen in meinen Ohren, Hitze in mir. Ich höre sie schreien. Dann auf einmal liegt sie neben mir, das Gesicht im Kissen vergraben, und schluchzt.
„Elisa… hey. Was ist los? Nicht weinen!“, versuche ich sie zu beruhigen. Sie zieht meine Hand über ihren Rücken. „Halt mich, Lia. Bitte. Lass mich nicht allein!“ Ich verstehe gar nichts, aber ich streichele ihren Rücken, und allmählich beruhigt sie sich ein bisschen. Nach einer Weile, als ihr Atem wieder gleichmäßiger geht, schmiegt sie sich mit dem Rücken an mich und verschränkt ihre Finger mit meinen. „Das, was damals passiert ist –“ „Nicht!“, unterbreche ich sie hastig. „Bitte, Elisa. Ich möchte es hören, was auch immer es ist, aber bitte, bitte, nicht jetzt. Nicht heute Nacht. Ja?“ Ich höre sie leise seufzen, und ihr Herzschlag unter meiner Hand wird unruhig. Für einen Moment habe ich Angst, dass die Magie von vorhin schon verflogen ist, dass sie jetzt aufstehen und gehen wird. Doch dann dreht sie sich um, stützt sich auf einen Ellbogen, schaut mir in die Augen und streichelt ganz ganz langsam, ganz ganz sanft mit ihrem Daumen meinen Hals, vom Ohrläppchen bis hinunter zum Schlüsselbein und zurück. Sofort bildet sich Gänsehaut auf meinem Arm und meinem ganzen Oberkörper. Sie sieht es und lächelt, ohne mit dem Streicheln aufzuhören. Irgendwann kann ich ihrem Blick nicht mehr standhalten, kann die Augen nicht offen halten. Sehnsuchtsvolle Seufzer entringen sich mir, und ich schmelze dahin unter ihrer sanften Berührung. Sie küsst mich auf die Wange, dann am Hals abwärts. Ihre Zungenspitze liebkost meine Haut. Irgendwo auf halber Strecke kann ich nicht mehr denken und will es auch gar nicht mehr. Es ist so schön. In diesem einen Moment gibt es kein gestern, kein morgen. Es gibt nur uns.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, liegt sie neben mir im Bett und guckt mich an. Ihre Augen streicheln meine Seele.
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Während ich seufzend Elisas herumstehendes Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine räume und dabei mit dem Fuß ihre Schuhe unter den Tisch kicke, fällt mein Blick auf den Mammutbaum in seinem neuen roten Topf. Gestern Mittag habe ich ihn umgetopft. Fast vierzig Zentimeter ist er schon hoch, und wenig erinnert noch an das kleine Ding mit den drei Blättern, das er vor zwei Jahren mal war. Wie oft schon hatte ich Lust, ihn einfach mitsamt seinem Topf und all seiner symbolträchtigen Präsenz aus dem Fenster zu werfen!! Aber was hätte das schon geändert? Mammutbäume sind zäh.
Mein Handy piepst. „Sorry für das Chaos! Ich liebe dich. Elisa“ Wider Willen muss ich lächeln. Sie kennt mich zu gut… „I love you, too.“, tippe ich, mit einem augenrollenden Smiley dahinter, dann schalte ich die Spülmaschine ein, nehme meinen Tee mit ins Wohnzimmer und mache es mir auf dem Sofa bequem. Mein Blick fällt auf das Bild, das sie mir gestern geschenkt hat. Ein Foto aus unserem letzten Urlaub vor ein paar Monaten. Glückliche, braun gebrannte Gesichter, glitzerndes Meer und blauer Himmel. „Danke für Dich!“, steht darunter. Freude macht meinen Bauch warm. Irgendwie haben wir es geschafft. Irgendwie ist doch alles gut geworden. Aber für Elisa war es schwer am Anfang, und manchmal ist es auch heute noch schwer. Für sie. Für mich.
Sie hat mir dann am nächsten Morgen doch noch erzählt, was passiert ist damals. Von dem Streit mit ihrer Freundin, der so banal anfing und sich so sehr hochgeschaukelt hat. Von dem Geräusch der zuknallenden Haustür, von den Tränen, von der Wut. Von dem Moment, als die Polizei anrief und ihr mitteilte, ihre Freundin habe einen Unfall gehabt. Von dem Moment, in dem sie begriff, dass sie sie nie wieder sehen würde.
Von dem Obduktionsbericht, der ergab, dass sie verblutet war an einem Milzriss. Alleine in ihrem Wagen. Kein Reh, kein Glatteis. Keine Bremsspuren außer denen ihres eigenen Wagens. Keine Lacksplitter.
Sie wird niemals Antworten bekommen auf all ihre Fragen. Sie wird niemals aufhören, sich Vorwürfe zu machen. Sie wird niemals leben können ohne „Hätte-wäre-wenn“. Ich kann ihr nicht helfen, obwohl es nichts Schöneres für mich gibt, als sie glücklich zu sehen.
Wir haben lange gebraucht, um miteinander zur Ruhe zu kommen. Für mich ist es nicht immer leicht, im Schatten einer toten Freundin zu leben. Für mich ist es auch nicht immer leicht, das Chaospaket zu lieben, das Elisa ist. Umgekehrt ist es für sie nicht leicht, mich und meine „Rationalität“ zu ertragen, wie sie das nennt. Außerdem ist es für sie nicht immer leicht, die Schatten der Vergangenheit niederzukämpfen. Sie erträgt es kaum, mich gehen zu sehen. Unter dieser Panik leiden wir beide, weil sie in Kontrollzwang umschlägt, sobald sie nicht weiß, wo ich bin. Nicht, weil sie mir nicht vertraut. Sondern um zu wissen, dass es mir gut geht. Sie hat drei Jahre lang niemanden näher an sich heran gelassen, um diese Angst nicht mehr ausstehen zu müssen. Um nicht zu riskieren, noch einmal einen solchen Verlust hinnehmen zu müssen.
Wir haben es trotzdem geschafft.
Manchmal überrasche ich sie, wie sie in der Küche vor dem kleinen Mammutbaum steht. Ihm die Erde lockert oder festdrückt, über seine Blätter streichelt oder ihn einfach nur anguckt. Dann weiß ich, sie denkt das gleiche wie ich. Mammutbäume wachsen langsam. Aber dafür werden sie sehr, sehr alt…
THE END
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atayari. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.