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Leuchtende Menschen (11)

von EimoH


Alle anderen waren schon in der WG und sie wurden mit Stimmengewirr, besorgten und irritierten Blicken und Umarmungen begrüßt. Lydia hatte kaum „Polizei“ herausgebracht, als sofort ein Kommunikationschaos ausbrach und sie sich erstmal koordinieren mussten, weil sie wollten, dass Nukas, Lydia und Luzi gut versorgt wurden und sich ausruhen konnten, aber auch niemand verpassen wollte, wenn sie erzählten, was passiert war. Sie erfuhren, dass bei den anderen alles gut funktioniert hatte und drei der vier Standorte also ein Erfolg gewesen und die Plakate wie geplant umgestaltet worden waren. Auch bei anderen hatte es zwischendurch Probleme gegeben, aber sie hatten sie lösen können. Einer Gruppe war der Kleister zu früh ausgegangen, aber eine andere Gruppe hatte aushelfen können. Und wieder eine andere Gruppe hatte einen lästigen Zuschauer gehabt, der unbedingt eine Diskussion über Polizei hatte führen wollen. Er wollte wohl nicht die Polizei rufen, sei aber wütend darüber gewesen, als ihm ein Gespräch verwehrt worden war. Langsam hatten sie sich in Alinas Zimmer koordiniert, Lydia, Nukas und Luzi waren mit Essen und warmen Getränken versorgt und alle hatten bequeme Plätze. Inaya hatte sich neben Luzi gesetzt und streichelte ihr Bein. Alle tauschten neugierige Blicke. Lola neben Cora begann zu sprechen und alle hörten ihr zu. „Ich denke, es ist wichtig, dass wir alle erzählen können, was wir erlebt haben und wie wir uns gefühlt haben. Ich würde den Vorschlag machen, dass wir eine Runde machen und jede Person kann von sich erzählen. Was haltet ihr davon?“ Aus allen Richtungen wurde genickt. „Ich würde anfangen und dann im Uhrzeigersinn, in Ordnung?“ Luzi war erleichtert, dass sie erst am Ende der Runde vor Nukas und Lydia an der Reihe war und dass Lola so bereitwillig den Anfang machte. Außerdem war sie neugierig zu hören, wie es bei den anderen Leuten gelaufen war. Einige berichteten ausführlich, andere nur knapp, aber alle erzählten, dass sie sehr nervös gewesen waren, wodurch Luzi sich gleich weniger unwohl fühlte. Und sie merkte, dass Lydia, Nukas und sie die krasseste Geschichte zu berichten haben würden. Als Inaya dran war, sagte sie nur, dass sie sich große Sorgen gemacht hatte und nun unheimlich froh war, dass alle wohlbehalten zurück waren. Dann war Luzi an der Reihe und sie musste sich kurz sammeln. Sie berichtete, dass anfangs alles glattgegangen war, bis sie von der Polizei entdeckt wurden. Sie erzählte, wie sie davongerannt war, und als sie berichtete, dass sie von einem Polizisten umgeworfen und auf dem Boden fixiert worden war, waren alle fassungslos und Inayas Hand drückte ihr Knie, als würde Inaya mit möglichst hohem Druck verhindern wollen, was Luzi passiert war. Dann sagte Luzi, was der Polizist zu ihr gesagt hatte, dass er sie für einen Mann gehalten und dann ihr Aussehen beleidigt hatte. Luzi spürte, wie die Scham ihr immer noch die Röte ins Gesicht trieb. Hände wurden vor Münder geklatscht und kurz entbrannten lauter Wutausrufe, Beleidigungen und Mitgefühlsbekundungen. Nukas legte wieder ihren Arm um sie und drückte sie kurz und in Lydias Blick lag so viel Entsetzen und brennendes Mitgefühl, dass sie es kaum aushielt, sie anzuschauen. Tränen, die seit dem erniedrigenden Spruch des Polizisten darauf gewartet hatten, geweint zu werden, rannen ihr über die Wangen und der Druck in ihrem Kopf ließ ein wenig nach. Lola brachte wieder Ruhe in die Runde und sagte, dass Luzi gern weitererzählen könne, wenn sie soweit war. Luzi holte Luft und erzählte dann rasch, dass ihr Handschellen angelegt worden waren, sie zu den anderen zwei und dann wieder zurück zu den Werbetafeln gefahren wurde, und dass ihre Personalien aufgenommen und ihr mit einer Klage wegen Sachbeschädigung gedroht wurde. Sie hatte aufgehört zu weinen und ihre Stimme war wieder fester. Schließlich erlaubte sie sich zu erzählen, wie nervös sie gewesen war, etwas Falsches zu tun oder zu sagen, dass sie aber die ganze Zeit eher vor Schock als vor Willenskraft geschwiegen hatte. Wieder sah sie sich in der Runde um und begegnete lauter liebevollen Gesichtsausdrücken. Wie zur allseitigen Bestätigung sagte Lola, dass sie unheimlich stark gewesen war und dass es auch oft genug passiere, dass Leute redeten, weil es nun mal sehr schwer war, die Aussage zu verweigern. Luzi war so erleichtert, dass sie fast vergessen hätte zu erzählen, dass sie zwischendurch schier verzweifelt war, als ihr aufgefallen war, dass sie nur zwei Katheter bei sich gehabt hatte. Sie musste kurz erklären, wozu sie die Katheter brauchte, damit alle sie verstanden, und auch dann sagten ihr Leute aus allen Richtungen, dass sie beeindruckt waren, wie stark und mutig Luzi gewesen war und sie konnte es gar nicht fassen, weil sie sich so dumm und unfähig fühlte. Auch das sagte sie und ihr wurde wieder aus allen Richtungen bestätigt, dass sie verstanden wurde, aber falsch lag, denn alle fanden, dass sie das toll und souverän gemacht hatte. Ihr Knie war mittlerweile ganz schwitzig, weil Inaya es so fest drückte und sie sah auch Tränen in den Augen ihrer guten Freundin. Dann war Nukas an der Reihe und berichtete, wie sie weggerannt war und es geschafft hatte, Kleister und Pinsel in einem Hinterhof in einer Mülltonne zu entsorgen. Dann hatte sich dummerweise ihr Weg mit dem Lydias gekreuzt, weil die Umgebung so ungünstig für die Flucht gewesen war und genau dann waren sie von einer Polizeistreife aufgegriffen worden. Die Polizist*innen bei ihnen waren allerdings nicht so aufbrausend und überhaupt nicht so gewaltvoll gewesen wie bei Luzi. Sie hatten sie angeschrien und ihnen gedroht, waren dabei aber nicht körperlich geworden. Nukas sagte, dass sie auch ganz schön große Angst gehabt hatte, was nun mit ihnen passieren würde, und dann unglaublich erleichtert gewesen war, dass sie gehen konnten, nachdem sie ihre Personalien abgegeben hatten. Luzi fühlte sich immer erleichterter und sah gespannt zu Lydia, als diese zu erzählen begann. Sie schloss sich Nukas und ihr in vielen Dingen an und erzählte dann, wie sie gesehen hatte, dass es Luzi anscheinend nicht gut ging. Sie sagte, dass sie sich große Sorgen gemacht und so hilflos gefühlt hatte, weil gezwungen worden war, Abstand zu halten, und ihr nicht hatte helfen können. Luzi musste wegsehen und sah zu Boden. Luzi hatte Lydia falsch eingeschätzt. Vielleicht waren die Blicke, die so oft aus Lydias Richtung kamen, keine feindlichen gewesen, wie sie angenommen hatte. Sie hatte sich Sorgen gemacht. Lydias Erzählung handelte fast nur von ihr. Sie biss sich auf die Lippe und sah zu Boden. Damit hatte sie nicht gerechnet. Als Lydia geendet hatte, begann eine Diskussion darüber, dass Luzi unbedingt über die Gewalt und Erniedrigung Beschwerde einreichen musste. Alle regten sich sehr auf und Luzi genoss die Solidarität in der Gruppe sehr. Dann aber meldete sich Lydia zu Wort und widersprach dem hitzigen Elan, der sich hochzuschaukeln begonnen hatte. „Ich glaube, wir müssen vorsichtig sein, Luzi.“ Sie sah sie an. „Es ist auf keinen Fall so, dass ich kleinreden möchte, was der Polizist dir angetan hat. Glaub mir, ich hasse die Polizei und was ich für diesen Polizisten empfinde, dafür, was er getan hat, geht über Hass hinaus und auch den anderen, dass er einfach so daneben stand.“ Sie schluckte und Luzi war von Lydias Intensität überrascht. „Aber diese Situation ist kompliziert. Dieser Polizist hat einen Fehler gemacht und so wie er dir schon einreden wollte, dass du dich gewehrt und Widerstand geleistet hast, scheint ihm das auch bewusst zu sein, wenn er schon anfängt, sich seine Verteidigung zu stricken.“ Luzi nickte und hörte ein Schluchzen neben sich. Sie sah zu Inaya und nun liefen ihr Tränen der Wut über das Gesicht. Inaya entschuldigte sich leise und wischte sich über die Augen. Lydia fuhr fort: „Die bewährteste Verteidigung der Polizei ist Angriff und ich kann mir vorstellen, dass sie dir eine Klage für Widerstand gegen die Staatsgewalt oder Angriff auf einen Polizisten anhängen wollen, wenn du offiziell Beschwerde oder eine Klage einreichst.“ Nukas pflichtete ihr bei. „Ja, und so leicht wie die Poster von den Werbeplakaten abgingen, könnte ich mir vorstellen, dass sie so gar keine Klage gegen uns erheben, weil es keinen Schaden mehr gibt. Vielleicht versuchen sie was zu finden wie Beleidigung der Polizei, aber ich kann mir gut vorstellen, dass auch einfach nichts kommt. Ich will dich nicht irgendwie beeinflussen, um meinen eigenen Arsch zu retten, gar nicht. Wenn du klagen willst, bin ich dabei! Aber wenn nicht mal mehr der Tatbestand der Sachbeschädigung besteht, kann es sein, dass die Polizei umso härtere Geschütze auffährt, um ihre Gewalt zu rechtfertigen.“ Es herrschte kurz betretene Stille. „Ich verstehe. Ich danke euch. Ich danke euch allen für eure Solidarität, wirklich.“ Sie sah in die Runde. „Ich bin noch so aufgewühlt, ich will gerade eigentlich gar nichts entscheiden.“ „Und das musst du auch nicht.“, sagte nun Lola. „Wir sind als Gruppe in diese Aktion gegangen und wir werden als Gruppe ihre Folgen durchstehen. Was haltet ihr davon, erstmal ein paar Tage abzuwarten und die Aufregung sich legen zu lassen und uns dann wiederzutreffen, um zu besprechen, wie wir weiter verfahren?“ Es herrschte allgemeine Zustimmung und Luzi schloss sich ihr erleichtert an. Mehrere Leute boten Lydia, Nukas und ihr Hilfe und Beistand an und dann sagte Nukas, dass sie nun erstmal ein Bier brauche. Ein paar Leute machten sich auf zum Späti, um Getränke zu holen. Es war schon spät, aber es schien allen gut zu tun, zusammen zu sitzen und zu quatschen. Inaya und Luzi sprachen miteinander und Inaya konnte immer noch kaum glauben, was Luzi passiert war. Dann kamen die Leute auch schon wieder mit Bier und Limos und sie stießen an auf eine doch größtenteils erfolgreiche Aktion und auf die Stärke, die Lydia, Nukas und sie heute bewiesen hatten. Der Alkohol tat gut für ihre Nerven und Luzi merkte, dass fast aller Schock und Schmerz und Scham der heutigen Erlebnisse von ihr abgefallen waren. Sie unterhielt sich mit unterschiedlichen Leuten und fühlte sich zunehmend wohl und sicher. Sollte die Polizei doch Klage gegen sie erheben, dann würden sie gemeinsam eine Lösung finden. Die Leute hatten sich zu Einzelgesprächen in der Küche und Alinas Zimmer verteilt und die Stimmung hatte sich beruhigt. Da begann Lydia quer durch den Raum ein Gespräch mit Luzi, dem einige Andere lauschten. „Du hast doch vor ein paar Wochen von leuchtenden Menschen erzählt, erinnerst du dich, Luzi?“ Luzi konnte es kaum glauben, dass Lydia dieses seltsame und unangenehme Gespräch ansprach, nickte aber. „Hast du ein Beispiel für leuchtende Menschen?“, fragte Lydia. Luzi sah sich um und stellte beruhigt fest, dass Lola nicht im Zimmer war. Dann überlegte sie kurz. Ihre Gedanken waren benebelt von Erschöpfung und Alkohol und sie brauchte einen Moment, um sich zu erinnern. „Ich dachte zum Beispiel an Menschen wie Sophie Scholl. Selbst auf Bildern scheint sie irgendwie von innen heraus zu leuchten.“ Luzi hickste und ein paar Leute lachten. Lydia blieb aber ganz ernst und nickte. Es schien sie aber auch ein wenig Anstrengung zu kosten, sich zu konzentrieren. Die große, ernste Lydia, die so einschüchternd aussah, grinste sie verlegen an und Luzi konnte sich kaum sattsehen an diesem Anblick. Lydia sagte dann: „Ich glaube, ich sehe das anders.“ Luzi war total perplex. Einerseits schien Lydia ernsthaft über ihre Worte nachgedacht zu haben und andererseits wollte sie nun auch noch darüber diskutieren. Sie sah im Augenwinkel, wie Inaya über ihren Gesichtsausdruck feixte und hätte ihr am liebsten einen bösen Blick zugeworfen, doch sie war zu neugierig darauf, was Lydia sich zu ihren verschwurbelten Gedanken über leuchtende Menschen gedacht hatte. „Ich glaube nicht, dass bestimmte Menschen leuchten. So viele haben gebrannt in Widerstandkämpfen und wenige leuchten so, dass sie gesehen werden. Es ist nicht das Leuchten der Menschen, sondern der Blick, der das Leuchten sieht. Und ich glaube, nicht bestimmte Menschen leuchten sondern alle in bestimmten Momenten. Im Widerstand, ja, da leuchten viele. Ich glaube, Mut leuchtet und wärmt auch.“ Luzi merkte, wie sich eine kleine Schwankung in Lydias Stimme geschlichen hatte, die dem Alkohol geschuldet war. „Aber Widerstand in Angst ist nicht weniger wert, weißt du?“, fuhr Lydia ungemein ernst fort, „Manchmal ist der Widerstand im Verborgenen auch sehr erfolgreich, gefährlicher vielleicht auch und weniger heroisch. Und nur, weil wir manches Leuchten übersehen, glaube ich trotzdem, dass es da ist.“ „Oh Gott“, kam es laut von Nukas, die am Anfang von Lydias Erläuterungen ins Zimmer gekommen war und nun knallrot im Türrahmen stand. „Versuchst du gerade, auf sehr poetische Art meine schreckliche Beleidung von dem Abend gegenüber Luzi wiedergutzumachen?“ Lydia schaute verdutzt und das Ganze war so komisch, dass Luzi sich einfach nicht mehr zurückhalten konnte und laut loslachen musste und alle stimmten mit ein. Sie kriegten sich kaum wieder ein und nun konnte Luzi auch noch den allerletzten Rest ihrer Anspannung fallen lassen. Später auf dem Nachhauseweg fragte Inaya fast vor Neugier platzend, was es mit diesem Gespräch auf sich hatte und Luzi erzählte es ihr verhalten lachend, denn es war ihr immer noch ein wenig peinlich. „Können wir heute Nacht beieinander schlafen?“, fragte Luzi schließlich, als sie fast zuhause waren. Inayas Handy klingelt und mit einem Nicken ging sie ran. „Hey Marie.“ Marie hatte sich anscheinend die Nacht lang Sorgen gemacht und war nun erleichtert zu hören, dass es allen, vor allem Inaya, gut ging. Marie wäre gern noch vorbeigekommen, aber Inaya sagte, dass sie zu erschöpft sei und sie sich morgen sehen konnten. Nach dem Telefonat fragte Luzi, ob Inaya nur ihretwegen Marie abgesagt habe, aber Inaya antwortete, dass es so am besten war und zog sie in ihren Hauseingang. Beide waren völlig erschöpft und Inaya litt immer noch unter starken Schmerzen, deswegen kuschelten sie sich schnell in Inayas Bett. Luzi hatte Inaya noch eine zweite Wärmflasche gemacht und sie seufzte vor Erleichterung. „Wärme ist das Beste.“, seufzte sie in ihr Kissen. Eine Welle der Müdigkeit fuhr über sie, als sie so in dem gemütlichen Bett lagen und Luzi fielen die Augen zu. Nach einem Moment der Ruhe flüsterte Inaya: „Findest du, dass nur Lola leuchtet?“ „Nein, ich glaube Lydia hat Recht. Es kommt drauf an, wen man anschaut. Du leuchtest auch ganz oft. Richtig hell. Am hellsten.“, flüsterte Luzi zurück. „Und Lydia?“ Luzi überlegte und ihre Gedanken drifteten über in den Schlaf. Sie riss sie zurück und antwortete: „Lydia auch. Hab es erst gar nicht so gesehen.“ Bevor sie endgültig in den Schlaf fiel, hörte sie Inaya verschlafen sagen: „Du weißt, dass du auch leuchtest, ja?“



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