von metropolis93
(Nicht im Hier und Jetzt, aber trotzdem nach wahren Begebenheiten)
Sie zögert lange bei der Beantwortung der Frage, warum sie ist, wie sie ist; schaut gedankenverloren in die Ferne. Weit weg zu etwas, was lange zurückzuliegen scheint und dennoch nie ganz von ihr gewichen ist. Leise und bruchstückhaft beginnt sie zu erzählen, führt mich in ein fernes unbekanntes Land vor langer Zeit.
„Es ist eine große Chance“, hatte ihr Bruder gesagt, als sie von dem Angebot erzählte. „Es ist eine große Ehre“, sagte ihr Vater mit einem Blick, der deutlich machte, wie die Entscheidung auszufallen hatte. Ein Nicken, ein letztes Zögern, mit dem Gedanken, dass ihr das eigentlich alles ziemlich suspekt war, aber letztendlich ging es doch wie immer darum, das Gesicht zu wahren. Und unter diesem Gesichtspunkt war es klar, dass sie das ihr, einem Mädchen aus einfachsten Verhältnissen, angebotene Stipendium unbedingt annehmen musste. Schon allein um der Familie willen, woran sie auch dachte, als sie in der fremden Verkleidung aus weißer Bluse und Faltenrock der misstrauisch dreinblickenden Schulleiterin versprach, die Chance zu nutzen. Die Schulleistungen stimmten, die christliche Tat passte gut zum Image der Institution und der gesenkte Blick der zukünftigen Schülerin, die fehlerlos sämtliche gefragten Gebete und Psalme rezitieren konnte, zeugte vom Verständnis des Seitenhiebes auf den Haarschnitt (derselbe wie ihr Bruder) als „nicht tolerierte Devianz“. Mit einem Kloß im Hals und vorschriftsmäßig geflochtenem Haar begann im folgenden Schuljahr ihre lange Zeit in der als Kaderschmiede der konservativen Elite gedachten Institution. Die ersten Jahre waren einfach. Das Befolgen strenger Regeln kein Problem. Konformität und Fleiß sicherten den guten Willen der Nonnen, von denen einige entgegen der streng auf Distanz bedachten Regeln fast schon Mitleid mit dem „armen Mädchen“ hatten. Tatsächlich war das Funktionieren nur eine Frage der täglich zu erneuernden Lippenbekenntnisse zu festen Uhrzeiten und des Gehorchens, zu beichten gab es damals noch nichts. Erst später setzte allmählich die Erkenntnis über den Widerspruch in ihr selbst ein; den Kontrast zwischen der als tugendhaft geltenden Demut in der ewig fremden Verkleidung, als die sich die Schuluniform entpuppte und der Freiheit in den kostbaren Stunden mit den alten Freunden aus dem Viertel. Fußball, Raufereien und nächtliche Ausflüge in geborgten Klamotten waren viel weniger eine Scharade als die Rolle, die sie sonst wie eine gute Schauspielerin spielte. Noch berauscht vom Sommer in Freiheit das jähe erste Aufblühen von Gefühlen. Das Gewahrwerden. Eine einmalige Unvorsichtigkeit des Hinwendens und sich Öffnens gegenüber der Falschen, eine gedankenlose Naivität, mit der sie sich selbst ans Messer lieferte. Gehorsam und Demut boten keinen Schutz mehr vor den nun bohrend starrenden Augen, die zwangen, ans Licht zu befördern, was sie sich kaum selbst im Schutz der Dunkelheit einzugestehen wagte. Der Hirte bemüht sich um jedes vom Weg abgekommene Schaf, es ist alles nur zu deinem Besten und jetzt sage mir die Wahrheit. Eine Wahrheit, deren erzwungenes Geständnis lange Stunden Knien auf dem unbarmherzig kalten Steinboden, hämisches Johlen der anderen, quälend persönliche Fragen und vor allem misstrauische Blicke aller bedeutete. Ein letztes Mal half das Korsett der Disziplin, kaschierte einen vermeintlichen Fehltritt in pubertärer Verwirrung und half beim Überstehen der letzten Jahre in der Institution.
Ein leichtes Lächeln umspielt ihre Lippen, als sie von den ersten Momenten in Freiheit erzählt, dem langersehnten Ablegen der verhassten Verkleidung und den radikalen Veränderungen. Und ich beginne zu verstehen, warum sie von allen Abstand hält und am liebsten ihre Augen und ihre Gefühle hinter der Sonnenbrille versteckt. Die gegelte Stachelfrisur und die Jeans lassen den Gedanken an ein früheres Dasein als angepasstes Schulmädchen geradezu lachhaft absurd erscheinen, aber die Vorsicht und der Zynismus erscheinen mir nun wie ein letztes, nur langsam verklingendes Wiederhallen einer dröhnenden Kirchenglocke.
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metropolis93. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.