von gizmoline
Kapitel 1
„Guten Morgen Katja, aufstehen, die Schule fängt wieder an.“ „Ja Mama“, brumme ich und ziehe mir die Decke über den Kopf. Kann sie nicht irgendwann einmal damit aufhören? Ich bin kein kleines Kind mehr, ich bin 18 Jahre alt und trotzdem kommt sie mich wecken, obwohl mein Wecker in fünf Minuten sowieso geklingelt hätte. Ich finde es zwar echt toll, dass sie immer noch für mich da ist wenn ich sie brauche, aber dieses Bemuttern geht mir voll auf die Nerven. Das neue Schuljahr fängt ja mal wieder super an, wenn man schon so „liebevoll“ von der eigenen Mutter geweckt wird. Ich bin richtig froh, wenn ich dieses eine Jahr noch schaffe, dann habe ich mein Abi in der Tasche und kann studieren. Und so gut es mir zu Hause auch geht, aber ich will dann raus hier. Endlich mal ein bisschen selbständig sein, ohne dass meine Mutter mir ständig hinterher läuft. Ich kann sie ja teilweise verstehen, sie hat einfach Angst, dass ihr Kind flügge wird. Aber so ist es nun einmal im Leben, außerdem hat sie ja noch Dennis, meinen kleinen Bruder, der ist erst fünfzehn und wird ihr noch ein paar Jahre erhalten bleiben.
Aber jetzt muss ich erst einmal aufstehen. Ab ins Bad und die tägliche Morgenroutine, Zähneputzen, Waschen, Haare kämmen und Deo. Für Make-up und so etwas habe ich weder Zeit noch Lust. Ich hab mich noch nie wirklich dafür interessiert, ich bin der festen Überzeugung, dass Farbe an Wände oder an Autos gehört, aber bestimmt nicht in mein Gesicht. Entweder man mag mich, weil ich ich bin, oder man soll es lassen. Schnell noch Hose und Shirt anziehen, die Schultasche schnappen und ab in die Küche. Was gibt es Besseres als eine Tasse Kaffee zum Frühstück? „Willst du denn nichts Essen mein Kind?“, fragt meine Mutter. Mein Vater und mein Bruder sitzen am Tisch und müssen lächeln. Seit ich beschlossen habe, dass eine Tasse Kaffee problemlos ein Marmeladenbrötchen ersetzen kann, versucht meine Mutter verzweifelt mir zu erklären, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages ist. Und egal wie oft ich ihr sage, dass mir das vollkommen egal ist, sie versucht es immer wieder, was meinen Vater und meinen Bruder zum Lachen bringt.
„Willst du heute mit dem Auto fahren?“, fragt mich mein Vater und wedelt mit dem Autoschlüssel vor meiner Nase herum. Ich habe zwar in den Ferien meinen Führerschein gemacht, der ist bei uns auf dem Land echt zwingend notwendig weil man sonst hier festsitzt, aber ein Auto kann ich mir nicht leisten, wovon denn auch. „Ähm, musst du nicht zur Arbeit?“, frage ich ihn und kann es noch immer nicht glauben. „Hans nimmt mich mit, ich hab gedacht, ich mach dir eine kleine Freude.“ Ich gehe zu ihm und falle ihm um den Hals. „Du bist der beste Papa der Welt! Danke!“ Ich gebe ihm noch einen dicken Kuss auf die Wange und lächle strahlend meine Mutter an. „Auf Dennis, ich nehm dich mit“, sage ich zu meinem Bruder: „Vorausgesetzt du willst mit deiner großen Schwester zusammen gesehen werden.“ Er ist fünfzehn, mitten in der Pubertät und meist ist es ihm peinlich, wenn ich irgendwo dabei bin. Er hat Angst, dass seine Freunde denken könnten, ich würde auf ihn aufpassen. „Also ausnahmsweise ist das in Ordnung. Ich kann ja nicht zulassen, dass du das erste Mal alleine zur Schule fährst. Es sollte doch jemand dabei sein, der den Weg auch kennt“, sagt er und zwinkert mir zu. Ich boxe ihn auf die Schulter und bedanke mich für seine Aufmerksamkeit. Er fängt an, sich in seine Männerrolle zu finden, so beschützend wie mein Vater zu werden. Außerdem würde er nie zugeben, dass er gern mit seiner großen Schwester in die Schule fahren würde. Wir holen unsere Taschen und machen uns auf den Weg in die Schule.
Dennis verschwindet ganz schnell, nachdem ich eingeparkt habe, er will dann doch nicht mit mir gesehen werden. Und ich mache mich auf den Weg zu meinem Klassenzimmer, es ist das gleiche Zimmer, das wir am letzten Schultag vor den Sommerferien verlassen haben. Ich gehe rein und sehe wieder die altbekannten Gesichter. Es ist die Zusammenstellung wie in den beiden Jahren davor, 23 Schüler, zwei Drittel davon Mädels und der Rest Jungs. Es wird sich schon angeregt über die Ferien unterhalten, die Grüppchen, die sich in jeder Klasse bilden, stehen zusammen und erzählen was sie in den Ferien unternommen haben. Ich setze mich an meinen Platz - es ist ein stilles Gesetz, dass jeder wieder dort sitzt, wo er vor den Ferien saß – und beobachte meine Mitschüler. Es ist wie jedes Jahr, die Gruppen unterhalten sich und ich bin alleine an meinem Platz. Ich bin nun mal der Außenseiter der Klasse. Eigentlich bin ich gar kein richtiger Außenseiter, ich werde nicht gemobbt oder beschimpft oder so. Ich will einfach nur nichts mit den Anderen zu tun haben. Sie gehen mir auf die Nerven, ich finde einfach keinen Anschluss, weil ich mich nicht für deren Leben interessiere. Mir ist es zu doof, mich mit den Mädels über Make-up oder Klamotten zu unterhalten, ich würde viel lieber mit den Jungs über Autos und Technik quatschen, aber das finden die Jungs doof. Also erinnere ich mich an ´Dinner for One´und denke mir: „The same procedure as every year.“
Die Schulglocke klingelt und alle setzen sich an ihren Platz. Ich bin die Einzige, die alleine an einem Zweiertisch sitzt, aber das ist gut so, so habe ich meine Ruhe und keiner nervt mich. Die Zimmertür geht auf und unsere Klassenleiterin Frau Hermann kommt herein, im Schlepptau ein neues Gesicht. „Guten Morgen Klasse. Dies ist nun Ihr letztes Schuljahr hier bei uns und Sie sind auf der Zielgeraden. Damit Ihnen nicht zu langweilig wird, habe ich Ihnen heute eine neue Mitstreiterin mitgebracht!“, sagt sie als Begrüßung. Die Neue steht neben ihr und mustert unsere Klasse. Sie hat schulterlanges, braunes Haar und grüne Augen, ein Piercing in der rechten Augenbraue und eines in der Unterlippe. Sie trägt ein weißes Shirt, das sie in ihre blaue Jeans gesteckt hat und Turnschuhe. Und sie hat einen regenbogenfarbenen Gürtel in ihrer Jeans, der so gar nicht zum Rest ihres Outfits passt. Aber jedem das Seine, ich muss so ja nicht herumlaufen. Was mir aber noch mehr auffällt ist, dass sie so selbstbewusst vor der Klasse steht. Aufrecht, die Schultern nach hinten, die Hände ganz lässig in den Hosentaschen. Ich könnte nicht so locker sein, wenn ich in eine neue Klasse komme, ich wäre total nervös und aufgeregt. Aber sie steht einfach nur da und verschafft sich einen Überblick über die Gesichter, die sie neugierig anstarren.
„So meine Damen und Herren, dann soll sich unser Neuzugang doch einmal vorstellen. Bitte Emma, Sie haben das Wort“, sagt die Klassenleiterin und geht einen Schritt zur Seite, damit die Neue im Mittelpunkt steht. Wir werden schon seit der zehnten Klasse gesietzt, obwohl ich das irgendwie doof finde. So alt fühle ich mich noch gar nicht, aber uns wurde erklärt, dass das ein Zeichen des Respekts uns gegenüber sei.
„Also, ich bin Emma und bin 19 Jahre alt“, beginnt sie, und ich bin noch mehr von ihrer Selbstsicherheit fasziniert. Ich an ihrer Stelle wäre schon längst rot angelaufen. „Ich komme aus der Großstadt, bin Einzelkind, meine Eltern sind geschieden und meine Mutter und ich sind hierher gezogen, weil meine Mutter hier einen Job gefunden hat.“ So ist das also, sie kommt aus der Großstadt. Sie wird sich ganz schön wundern, wie verschlafen die Gegend hier ist. Die
Disco´s die es hier gibt, haben nur Freitag und Samstag offen, es gibt keine wirklich guten Kneipen hier und auch sonst sieht es freizeitmäßig ziemlich schlecht aus. Wir haben ein kleines Kino, das die aktuellen Filme aber meist erst ein bis zwei Monate nach der offiziellen Erscheinung spielt und für alles Andere braucht man ein Auto oder einen Fahrer. „Ich gehe gerne mit Freunden weg, spiele Online-Games oder lese ein Buch“, fährt sie fort. Wie ich schon gedacht habe, sie wird sich hier ganz schön umstellen müssen. Mit Freunden weggehen ist hier gar nicht so einfach, außerdem wird sie hier erst mal neue Freunde finden müssen. „Und bevor irgendwelche Gerüchte aufkommen oder Vermutungen über mich angestellt werden, ich bin lesbisch. Also spart euch euer Getuschel hinter meinem Rücken und sagt mir lieber ins Gesicht, was ihr denkt!“, beendet sie ihren Vortrag.
Wow, das hat gesessen. Der Klassenleiterin steht der Mund offen, die Mädels tuscheln miteinander und die Jungs kichern hinter vorgehaltener Hand. Hier bei uns auf dem Land ist das schon ein bisschen ungewöhnlich, man hat zwar schon von Homosexuellen gehört oder sie im Fernsehen gesehen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, schon einmal persönlich jemandem begegnet zu sein. Aber Emma stört das überhaupt nicht, sie steht einfach nur ganz lässig vor der Klasse und wartet auf Reaktionen. Und ich bin gerade ein bisschen neidisch auf sie, weil sie so selbstbewusst da vorne steht und ihr anscheinend egal ist, dass in der Klasse Unruhe wegen ihr herrscht. „Nun ja Emma, wie Sie sehen, ist unser Platzangebot hier begrenzt“, sagt die Lehrerin, nachdem sie sich wieder gefangen hat, und deutet auf den Platz neben mir. Emma nimmt ihre Tasche und macht sich auf den Weg, als mir bewusst wird, dass sie sich ja neben mich setzen wird. Die Blicke folgen ihr und ich kann sehen, dass einige über mich lachen, weil Emma sich neben mich setzen muss. Na super, und ich laufe natürlich knallrot an, was die Stimmung in der Klasse noch anheizt. Es ist nicht, weil sie lesbisch ist, das ist mir vollkommen egal. Meine Eltern haben mich schon immer zu tolerantem Verhalten erzogen und ich glaube auch kaum, dass sie mich anbaggern wird. Aber ich weiß, dass die Anderen ihre Späße mit ihr treiben werden, und das auch auf meine Kosten, weil sie nun mal neben mir sitzt. Ich hasse das, ich bin immer so schüchtern und schon bei einer Kleinigkeit werde ich rot. Aber ich kann es nun mal nicht ändern und jetzt ist es sowieso schon egal.
Sie setzt sich wortlos neben mich und packt ihre Sachen aus. Unsere Klassenleiterin teilt uns gerade unseren neuen Stundenplan mit, als Emma die Hand hebt, weil sie eine Frage hat. „Ja bitte, Emma?“, fragt Frau Hermann. „Wie sieht es denn mit Ethikunterricht hier aus?“ „Also theoretisch gibt es den auch, aber die Nachfrage ist sehr gering. Wollen Sie nicht lieber auch in den Religionsunterricht?“, fragt Frau Hermann. Emma fängt an zu lachen. „Sie glauben doch nicht wirklich, dass ich mich als Lesbe in den Religionsunterricht setze, um mir von irgendeinem Lehrer erzählen zu lassen, dass es nur Adam und Eva gibt und dass ich doch lieber wieder normal sein sollte?“ Jetzt läuft zur Abwechslung mal Frau Hermann rot an, weil sie mit der Situation überfordert ist. Es wird ziemlich unruhig in der Klasse, weil unsere Klassenleiterin gerade nicht mehr weiß, was sie sagen soll. „Ich werde mich darum kümmern, Emma. Ich sage Ihnen morgen Bescheid, ob es genügend Interesse für den Ethikunterricht gibt. Ansonsten werden Sie wohl jede Woche zwei Freistunden haben.“ „Ich will auch in den Ethikunterricht“, sage ich ganz plötzlich und bin über mich selbst erschrocken. Ich weiß gar nicht, warum ich das gerade gesagt habe. Aber irgendwie hat Emma Recht, ich will auch nicht mehr in den Religionsunterricht, ich habe schon länger das Gefühl, dass die Ansichten der Kirche veraltet sind und ich einfach mal Etwas neues kennenlernen will. Andere Religionen, andere Kulturen, andere Lebensweisen. Emma schaut mich an und lächelt. Und ich laufe schon wieder rot an, weil mich die ganze Klasse anstarrt. Na super, jetzt habe ich meinen Ruf weg.
Um eins ist der erste Schultag schon vorbei. Ich schlendere zum Auto, setze mich hinein und warte auf meinen Bruder, der auch kurz danach auftaucht. Wir fahren nach Hause und unsere Mutter wartet schon mit dem Essen auf uns. „Na, wie war die Fahrt in die Schule?“, fragt sie, während sie das Essen auf den Tisch stellt. „Nun ja, Katja weiß zwar nicht, wo das Gaspedal ist, weil sie so langsam fährt, aber sonst war es schon ganz in Ordnung“, sagt mein Bruder und streckt mir frech die Zunge raus. Aber zum Glück weiß ich ja, wie er es meint. Ich nehme mir ein paar Nudeln und gieße Soße darüber, die Spaghetti meiner Mutter sind einfach die besten Spaghetti der Welt. „Und wie war euer erster Schultag?“, fragt sie zwischen zwei Bissen. “Das Übliche eben. Neuer Stundenplan, neuer Lehrplan, und sonst nichts Besonderes. Und wir haben eine neue Mitschülerin bekommen“, antworte ich und schiebe mir die nächste Gabel Nudeln in den Mund. „Du meinst wohl diese Lesbe?“, fragt mich mein Bruder. Ich schaue ihn entgeistert an und werde mal wieder rot. Und zu allem Überfluss verschlucke ich mich auch noch an meinen Nudeln. Mir schießen die Tränen in die Augen und ich muss husten, weil ich das Gefühl habe, dass ich ersticke. Nachdem mir meine Mutter ein paar Mal fest auf den Rücken geklopft hat und es mir etwas besser geht, hakt sie bei Dennis noch einmal nach. „Wie hast du das vorhin gemeint mit der Lesbe?“ Sie schaut ihn ganz komisch an und wendet sich dann an mich. „Ach, die Neue hat gesagt, dass sie auf Frauen steht. Aber die ist ganz harmlos, ich glaube die wollte uns Landeier nur mal schockieren.“ Meine Mutter zieht ihre Augenbraue hoch, das macht sie immer, wenn sie über etwas nachdenkt. „Bist du sicher Kind? Nicht dass sie irgendetwas mit dir anstellt?“, fragt sie mich besorgt. „Ach Mama, mach dir nicht so viele Gedanken. Erstens hast du uns immer beigebracht, tolerant zu sein und zweitens bin ich erwachsen. Mir passiert schon nichts.“ Meine Mutter schüttelt den Kopf: „Toleranz hat auch ihre Grenzen. Wenn jemand andere Kleidung trägt oder komische Musik hört, ist das ja Alles in Ordnung. Aber ich bin nicht damit einverstanden, wenn zwei Frauen oder zwei Männer irgendetwas miteinander haben. Pfui!“ Sie steht auf und räumt ihren Teller in die Spüle. Mein Bruder schaut mich verwundert an und ich kann nur mit den Schultern zucken. Das hätte ich nun wirklich nicht von meiner Mutter erwartet. „Na dann pass mal auf dich auf, Schwesterherz. So weit ich weiß, sitzt sie neben dir. Nicht dass sie dich im Unterricht befummelt“, sagt er und streckt mir wieder die Zunge raus. „Na warte nur, bis ich dich erwische“, antworte ich und laufe ihm hinterher, als er die Treppe hoch rennt. Ich erwische ihn gerade noch, bevor er seine Zimmertür schließen kann. Ich drücke sie auf, schnappe ihn mir und nehme ihn in den Schwitzkasten. „Gnade, Gnade, Erbarmen bitte“, bettelt er, als ich seine Haare durcheinander strubble. Ich schubse ihn auf sein Bett und setze mich neben ihn. „Sag mal, was war denn gerade mit Mama los?“, frage ich ihn, als er wieder zu Atem gekommen ist. „Keine Ahnung, so etwas habe ich von ihr nicht erwartet. Sie war doch immer diejenige, die gesagt hat, wir sollen anderen Menschen gegenüber offen sein.“ „Ja, das habe ich eigentlich auch gedacht. Aber irgendwie hat ihr das gerade überhaupt nicht gepasst.“ „Mach dir mal keinen Kopf, Schwesterchen, sie war bestimmt nur überrascht, dass es bei uns auf dem Land auch so etwas gibt.“ Ich zwicke ihm noch einmal in den Arm: „Für den dummen Spruch vorhin“, und gehe in mein Zimmer an den Computer.
Na super, in der ersten Stunde steht Sozialkunde auf dem Stundenplan. Es ist kurz vor acht, die Schule hat noch nicht einmal angefangen und der Tag ist schon wieder im Eimer. Ich hasse dieses Fach, es ist so trocken und so öde und geht einfach nicht in meinen Kopf hinein. Und ich muss es noch ein ganzes Jahr aushalten. „Morgen“, reißt mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Es ist Emma, die sich gerade neben mich setzt. Die ganze Klasse kichert schon wieder und ich fühle, wie mir das Blut ins Gesicht schießt. Können die nicht einfach aufhören, mich nervt das ganz gewaltig und das, obwohl es erst der zweite Schultag ist. „Morgen“, antworte ich: „Ich heiße übrigens Katja.“ „Ich weiß“, sagt sie und packt ihre Sachen aus. Es klingelt und unser Sozialkundelehrer Herr Walter kommt herein, Frau Hermann direkt hinter ihm. „Emma, Katja, würden Sie beide bitte mitkommen? Ich muss etwas mit Ihnen klären.“ Wir stehen auf und folgen Frau Hermann nach draußen, wieder vom Kichern der Klasse begleitet. „Also meine Damen, Sie hatten sich gestern nach dem Ethikunterricht erkundigt. Es sieht so aus, dass zu wenig Interesse daran besteht. Das hat zur Folge, dass Sie beide jeden Mittwoch in der dritten und jeden Freitag in der ersten Stunde frei haben. Sie müssen sich aber dennoch auf dem Schulgelände aufhalten, da wir während der Schulzeit die Aufsicht über Sie haben. Sie können sich frei bewegen, die Bibliothek nutzen oder den Computerraum. Aber bitte verhalten Sie sich ruhig, um den laufenden Unterricht im Haus nicht zu stören.“ Sie geht weiter, aber dreht sich noch einmal kurz um: „Und Emma, bitte lassen Sie den Kaugummi verschwinden, bevor Sie wieder in die Klasse gehen!“ Emma schaut Frau Hermann an und schluckt den Kaugummi einfach hinunter.
Ich schaue auf die Uhr und sehe, dass ich ja schon fünf Minuten vom Sozialkundeunterricht geschafft habe. Ich atme einmal tief durch und mache mich auf den Weg zu meinem Platz, Emma folgt mir. Schon wieder wird nur gekichert, und auf meinem Platz liegt ein gefalteter Zettel. Ich öffne ihn und könnte platzen vor lauter Wut. „Unser neues Liebespaar“ hat irgendwer darauf geschrieben. Emma nimmt mir den Zettel aus der Hand und schaut ihn sich an. Plötzlich steht sie auf und läuft vor in Richtung Tafel. Unser Lehrer steht dort und schreibt den neuen Lehrplan an, als Emma sich vor die Klasse stellt. „Wer war das?“, fragt sie und hebt den Zettel hoch. Es herrscht betretenes Schweigen in der Klasse, das ganze Getuschel und Gekicher ist verstummt. Herr Walter dreht sich um und versucht zu verstehen, was hier vorgeht. „Emma, dürfte ich Sie bitten...?“ „Nein“, unterbricht ihn Emma schroff. „Emma, was ..?“, beginnt er, als Emma sich zu ihm umdreht. „Wenn Sie tolerieren, dass in Ihrem Unterricht Minderheiten diskriminiert werden, dann dürfen Sie mich um alles Mögliche bitten, Herr Walter. Wenn Sie dem Ganzen jedoch Einhalt gebieten wollen, dann rede ich jetzt weiter“, sagt sie ganz ruhig zu ihm. Herr Walter steht da und bringt kein Wort heraus. Emma dreht sich wieder zur Klasse um: „Also, da hier in der Klasse ja anscheinend nur Feiglinge sitzen, wird wohl keiner zugeben, dass er den Zettel geschrieben hat. Ich möchte nur eines klar stellen, ihr könnt mich verarschen, so oft und so lange ihr wollt. Das interessiert mich überhaupt nicht, das bin ich schon gewohnt. Aber lasst eure Klassenkameradin in Ruhe, sie kann nichts dafür, dass ich neben ihr sitze. Wir sind weder ein Liebespaar, wie ja anscheinend einige von euch denken, noch sind wir Freunde. Wir sitzen einfach nur nebeneinander. Und wenn ihr keine anderen Hobbys habt, als eine Unschuldige für meine sexuelle Orientierung zu bestrafen, dann tut ihr mir wirklich leid. Ihr solltet euch echt mal überlegen, dass Menschen wie ihr es uns so schwer macht, so zu sein und zu leben, wie wir sind. Mich würde wirklich mal interessieren, wie ihr euch in meiner Situation fühlen würdet!“ Die ganze Klasse schweigt, einige schauen nur auf ihren Tisch und keiner gibt auch nur einen Ton von sich. Emma dreht sich zu Herrn Walter um: „Es tut mir leid, dass ich Ihren Unterricht gestört habe, aber das musste gesagt werden!“ Sie geht an ihren Platz zurück, packt ihre Sachen und verlässt wortlos das Klassenzimmer. Herr Walter sieht ihr nach ohne sie aufzuhalten. „Na hoffentlich sind wir die Lesbe jetzt los!“, sagt irgendeiner in der Klasse. „Ruhe!“, brüllt Herr Walter. Ich habe ihn in den letzten zwei Jahren noch kein einziges Mal schreien gehört. „So etwas will ich nie wieder hören, verstanden?“, sagt er und lässt seinen Blick durch die Klasse schweifen. Der Rest der Stunde ist so schnell vorbei wie auch der Rest des zweiten Schultags, keiner erlaubt sich, mich auch nur schief von der Seite anzusehen und der Platz neben mir bleibt leer.
Zu Fuß mache ich mich auf den Heimweg, mein Vater kann mir leider nicht jeden Tag das Auto überlassen. Aber es ist schönes Wetter und der Weg ist nicht so weit. An der Bushaltestelle sehe ich plötzlich Emma sitzen. Sie hat sich mit dem Rücken an der Glasscheibe angelehnt, die Füße auf die Bank gestellt und raucht eine Zigarette. Ob sie wohl die ganze Zeit schon hier gesessen hat? Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht merke, wie ich immer weiter auf sie zu laufe, bis ich plötzlich vor ihr stehe. „Hi“, sage ich, was anderes fällt mir gerade nicht ein. Emma mustert mich von oben bis unten ohne etwas zu sagen. „Hast du vielleicht Lust auf einen Kaffee?“, frage ich. „Weil?“, ist ihre Antwort. Ja, warum will ich sie eigentlich auf einen Kaffee einladen? Darüber habe ich mir selbst noch keine Gedanken gemacht. „Als Dankeschön, weil du mir heute Morgen geholfen hast“, sage ich. „Lass mal lieber. Wenn die uns zusammen sehen, wird es nur noch schlimmer. Glaub mir, ich weiß wovon ich rede.“ Ich stehe da und weiß nicht, was ich sagen soll. „Dann bis morgen früh“, fällt mir nur noch ein. „Bis Morgen“, sagt sie und zündet sich eine neue Zigarette an. Ich stehe etwas unschlüssig da und weiß noch nicht, ob ich wirklich gehen soll. „Ist noch was?“, fragt sie, als sie mein Zögern bemerkt. „Ich hab da nur mal eine Frage. Dein Gürtel, der ist so bunt und passt eigentlich gar nicht zu den anderen Klamotten.“ Sie sieht mich an und lächelt: „Gib mal Regenbogenfahne bei Google ein und schau was dabei raus kommt.“ Mehr sagt sie nicht. Ich drehe mich um und gehe nach Hause.
Nach dem Essen setze ich mich an den Computer, Hausaufgaben haben wir ja zum Glück noch keine zu machen. Ich bin richtig neugierig, was bei der Internetsuche herauskommen wird. Ich mache den Browser auf, gehe auf Google und gebe ´Regenbogenfahne´ein. Der erste Treffer ist bei Wikipedia: Die Regenbogenfahne, eine Form des Regenbogens als Symbol, dient in vielen Kulturen weltweit als Zeichen der Toleranz, Vielfältigkeit, der Hoffnung und Sehnsucht. Ah ja, das ist ja schon einmal interessant. Punkt 3 ist noch aussagekräftiger: Die Regenbogenfahne als Symbol der Lesben- und Schwulenbewegung. Jetzt weiß ich, warum sie diesen bunten Gürtel trägt. Und ich bin neugierig, ich möchte mehr wissen. Wie man als Lesbe lebt, wie man fühlt, wie man in der Welt zurecht kommt, vor allem auch, wenn man so dämliche Klassenkameraden hat, wie ich. Und ich möchte wissen, wie ich mich das nächste Mal vielleicht selbst wehren kann.
Ich sitze den halben Nachmittag vor dem Computer und erfahre so viel über Emma. Naja, nicht direkt über Emma sondern allgemein über Homosexuelle. Wie schwer es teilweise für sie ist, sich selbst zu akzeptieren, wie schwer es ist, von der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Und ich kann verstehen, dass Emma so offen auf andere zugeht. Nur durch Aufklärung kann man den Leuten näher bringen, dass Homosexuelle genauso ein normales Leben führen wie Heterosexuelle. Ich kann mir auch vorstellen, wie Emma sich manchmal fühlt. Wenn ich mich schon so angegriffen fühle, obwohl ich hetero bin, muss es für sie noch mal ein Stückchen schwerer sein.
„Na, suchst du dir jetzt wohl eine Freundin?“ Mein Bruder steht hinter mir, ich habe ihn nicht einmal gehört, weil ich so in das Thema vertieft war. „Ach lass den Quatsch doch mal. Ich wollte mich nur einmal informieren, weil es heute in der Schule ziemlichen Stress gab“, antworte ich ihm. Er schaut mich fragend an und ich erzähle ihm in Ruhe die ganze Geschichte. „Tut mir leid Schwesterchen, ich bin so ein Idiot. Ich habe sogar noch Öl ins Feuer gegossen und dich damit aufgezogen.“ Ich sehe ihm an, dass er deswegen wirklich ein schlechtes Gewissen hat. „Ach Kurzer, ist schon in Ordnung. Du bist erst fünfzehn und musst noch viel lernen!“ „Hey, ich bin fast sechzehn!“, antwortet er: „Und ich bin erwachsener, als du denkst, Schwesterchen!“ Er hat Recht, er ist weiter, als ich es in seinem Alter war. Er macht sich jetzt schon über so viele Sachen Gedanken, da hätte ich in seinem Alter nie darüber nachgedacht. „Lass uns zu Abend essen.“ Ich nehme ihn am Arm und schiebe ihn aus meinem Zimmer hinaus.
Der dritte Schultag und endlich mal ein bisschen Hoffnung. In der dritten Stunde habe ich frei, weil ich ja eigentlich Ethikunterricht machen wollte, der aber zwecks mangelndem Interesse nicht stattfindet. Als ich das Klassenzimmer betrete, sitzt Emma an ihrem Platz und ich freue mich darüber. Ich setze mich neben sie, packe meine Sachen aus und lege ihr ein Blatt hin. Sie schaut kurz darauf und schaut dann mich an: „Du hast es wirklich gegoogelt?“ Vor ihr liegt eine Seite des Artikels bei Wikipedia über die Regenbogenfahne. „Klar, meinst du ich habe nur so gefragt? Mich hat es wirklich interessiert.“ „Danke“, sagt sie, faltet das Blatt zusammen und steckt es ein. „Na sieh einer an, die Lesbe flirtet mit unserer Katja!“ Max, der größte Angeber aus unserer Klasse, kann mal wieder seinen Mund nicht halten. Ich sehe, wie Emma sich anspannt, aber ich lege meine Hand auf ihre. „Lass mich mal“, flüstere ich ihr zu, ich nehme all meinen Mut zusammen und schaue Max in die Augen. „Immerhin kann sie besser flirten als du Luftpumpe!“ Volltreffer, Max läuft rot an, dreht sich um und sagt kein Wort mehr. Emma schaut mich verwirrt an, ich zucke mit den Schultern und wir beide fangen an zu lachen. Ich glaube, wir könnten doch noch Freunde werden.
„Was machen wir jetzt?“ fragt Emma. Es ist Religionsunterricht und wir beide haben ja frei. „Was hältst du von dem Kaffee, den ich dir gestern ausgeben wollte? Hier gibt’s zwar nur den Automaten, aber besser als gar nichts.“ „Klingt nicht schlecht, aber ich würde auch gerne eine Rauchen. Gibt es hier irgendwo eine Ecke, wo man nicht gleich erwischt wird?“ Das altbekannte Thema, Rauchen ist auf dem Schulgelände nicht erlaubt, aber die Schüler schleichen sich gerne davon. „Ich kenne da schon eine Ecke, außerdem ist jetzt überall Unterricht, da ist die Gefahr sowieso sehr gering.“ Emma grinst mich an und nimmt ihren Kaffee aus dem Automaten. Wir gehen nach draußen und Emma bietet mir eine Zigarette an. Ich nehme sie dankend an, ab und zu rauche ich auch einmal eine. „Sag mal, du warst heute morgen so schlagfertig. Was war das denn?“ Ich zünde meine Zigarette an: „Nun ja, ich habe gestern nicht nur die Regenbogenfahne gegoogelt. Ich habe auch nachgelesen, was ein Coming-out ist, wie man als Homosexueller in der Gesellschaft zurecht kommt und solche Sachen. Mich hat das einfach alles interessiert, und ich bin von einem Thema zum anderen gekommen. Aber nicht dass du jetzt denkst, dass ich lesbisch bin, ich bin zu hundert Prozent hetero“, erzähle ich ihr. Wir gehen weiter und setzen uns auf ein paar Steine.
„Das habe ich auch einmal gedacht“, sagt Emma. „Was hast du auch gedacht?“, frage ich nach, ich stehe gerade voll auf dem Schlauch. „Dass ich hetero bin“, antwortet sie. „Also eigentlich habe ich gar nicht über meine Sexualität nachgedacht, ich hatte nicht mal einen Freund. Irgendwie hat mich das nie wirklich interessiert, ich wollte Spaß haben, wollte einfach mein Leben genießen und war mit meiner Clique unterwegs. Ich hab mir nie Gedanken über einen Freund gemacht, allerdings auch nie über eine Freundin. Ich hab nur gedacht, dass eine Beziehung meinen Freiheitsdrang behindern würde.“ Sie trinkt einen Schluck von ihrem Kaffee und ich hänge an ihren Lippen. Ich finde die Geschichte gerade wahnsinnig interessant. „Nun ja, zu meinem siebzehnten Geburtstag hat meine Clique eine kleine Party am Badesee für mich organisiert. Also wirklich klein, nur acht Leute oder so, ein Grill, ein bisschen Bier, zwei Zelte und Musik. Wir saßen zusammen und hatten jede Menge Spaß, wir haben bei allen möglichen Liedern mitgesungen, waren baden und haben gegrillt. Irgendwann zu später Stunde ist dann einer von den Jungs darauf gekommen, eine Wette abzuschließen. Er hat mit mir gewettet, dass ich mich nicht traue, meiner besten Freundin einen Zungenkuss zu geben. Ich wollte natürlich keinesfalls die Wette verlieren und hab mit meiner besten Freundin geredet. Sie hatte auch kein Problem damit, schließlich haben wir uns super verstanden, also haben wir vor versammelter Menge rumgeknutscht. Für sie war das einfach nur Spaß und eine gute Gelegenheit, um die Jungs zu ärgern. Aber ich habe damals ganz anders empfunden, für mich war dieser Kuss unbeschreiblich schön und ich wollte nichts anderes mehr. Ich habe mir danach lange Gedanken über diesen Kuss gemacht. Ich wusste nicht, ob ich es so schön empfand, weil es meine beste Freundin war, oder weil es eine Frau war. Ich war ziemlich verwirrt und wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte. Ich hab dann mit meiner besten Freundin darüber geredet, auch wenn ich Angst hatte, dass sie schockiert sein könnte, aber sie war echt toll. Sie hat mich verstanden und mir geraten, mich im Internet umzusehen, ob ich dort mit Anderen meine Erfahrungen austauschen könnte. Dort habe ich mich dann lange mit einer jungen Frau unterhalten, habe mit ihr über meine Gefühle geschrieben und bin bewusster durchs Leben gegangen, um herauszufinden, ob ich auf Frauen stehe. Etwa ein halbes Jahr nach meinem Geburtstag war ich mir dann sicher, dass ich lesbisch bin.“
„Und wie kommst du damit klar?“, frage ich nach. „Eigentlich super. Es hat zwar einige Zeit gedauert, bis ich mir selbst eingestanden habe, dass ich wirklich auf Frauen stehe, aber ab da war es mir dann egal, was Andere über mich denken. Es gibt zwar immer wieder mal Momente, in denen ich gerne jemand anderes wäre, zum Beispiel wenn einer wie Max kommt, aber das gehört nun mal dazu.“ Sie zündet sich noch eine Zigarette an und wartet, ob ich etwas dazu sagen will. „Ich will ja nicht zu neugierig sein, aber haben sich deine Eltern deswegen scheiden lassen?“, frage ich sie. „Was? Nein, Quatsch. Die Ehe war vorher schon kaputt, sie haben sich einfach auseinander gelebt. Als ich mich vor meinen Eltern geoutet habe, war vorher schon festgestanden, dass sie sich scheiden lassen.“ „Und wie kommen sie damit klar?“ Ich habe so viele Fragen, die ich ihr am liebsten alle auf einmal stellen würde. „Die haben da gar kein Problem damit. Sie wissen, dass man es sich nicht aussucht, ob man hetero ist oder nicht. Sie wollen einfach nur, dass ich glücklich bin, egal ob mit einem Mann oder einer Frau.“ Ich schaue ihr in ihre grünen Augen, die gerade so viel Wärme ausstrahlen. „Und hast du eine Freundin?“, ich bin ganz erstaunt, dass ich mich traue, sie zu fragen. „Nein, ich hatte eine. Oder auch nicht. Es hat einfach nicht gestimmt zwischen uns beiden und nach zwei Wochen haben wir es dann beendet. Seitdem habe ich nichts Festes, wenn dann nur ab und zu mal einen One-Night-Stand.“ Ich bekomme gerade ganz heiße Ohren, ich habe noch nie wirklich mit jemandem über Sex gesprochen. Ich hatte zwar zwei Freunde, aber da ist nichts gelaufen. Sie wollten beide schon nach wenigen Tagen mit mir schlafen, aber mir ging das zu schnell.
„Aber du wirst es ganz schön schwer haben, hier bei uns jemanden zu finden. Du bist die erste Lesbe, die ich persönlich kenne.“ Emma lacht: „Täusch dich da mal nicht, es gibt mehr hier in der Gegend, als du denkst, aber die Wenigsten haben ein Schildchen umhängen auf dem steht, dass sie lesbisch sind.“ Ich schaue sie an und da fällt mir etwas ein: „Deswegen hast du den Gürtel dran, oder?“ Sie nickt: „Ja und Nein. Ja, damit andere Bescheid wissen. Und Nein, ich trage den Gürtel auch so, weil ich einfach zu meiner sexuellen Orientierung stehe. Manche machen das so.“ „Na dann wünsche ich dir mal viel Erfolg bei der Suche hier.“ Emma schaut mich ernst an: „Und wenn ich doch Keine finde, vielleicht kann ich dich ja überreden.“ Mir rutscht das Herz in die Hose und ich schaue sie ganz verwirrt an, bis ich merke, dass das ein Scherz von ihr war. „Erschrocken?“ fragt sie mich frech. „Ja, schon ein bisschen“, antworte ich und atme auf. „Keine Angst, ich falle nicht über alles her, was nicht bei drei auf dem Baum ist.“ Wir sitzen eine Weile schweigend nebeneinander und ich lasse mir alles, was ich gerade gehört habe, noch einmal durch den Kopf gehen. „Weißt du“, sagt Emma: „Du brauchst wirklich keine Angst vor mir haben. Es ist ein Irrglaube, dass wir jede Frau anbaggern, die uns über den Weg läuft. Es stimmt zwar, zumindest bei mir, dass ich gerne mit Frauen flirte, auch wenn sie hetero sind, aber ich habe da keine Hintergedanken dabei. Ich mache den Frauen einfach nur ein paar Komplimente, weil es schön ist zu sehen, dass sie das freut. Außerdem wäre ich ja voll bescheuert, wenn ich jede Frau anbaggern würde und meine Energie verschwenden würde, obwohl sie hetero ist.“
„Sieh einer an, die zwei Turteltäubchen machen es sich gemütlich.“ Ich drehe mich zur Seite und sehe Max, wie er mit seinen Jungs auf uns zu kommt. Und mir fällt auf, dass Emma und ich die vierte Stunde verpasst haben. „Jetzt bin ich wieder dran“, Emma sitzt hinter mir und flüstert mir ins Ohr. Sie legt ihre Arme um mich und ich bin plötzlich ganz angespannt. „Vertrau mir“, flüstert sie, legt ihren Kopf auf meine Schulter und schaut Max herausfordernd an: „Wenigstens weiß ich, wie man eine Frau verwöhnt.“ Seine Augen blitzen kurz auf und er will den Angriff nicht auf sich sitzen lassen. „Du hast doch keine Ahnung! Wahrscheinlich hattest du nur noch keinen Kerl, der es dir richtig besorgen konnte!“ Max ist richtig wütend und wird unverschämt. Aber Emma ist noch nicht fertig mit ihm: „Wenn du es schaffst, eine Frau zum Orgasmus zu bringen, ohne deinen kleinen Schwanz einzusetzen, dann kannst du gerne noch mal mit mir reden. Bis dahin geh mir bitte aus den Augen!“
Emma hat gewonnen, die Jungs hinter Max können sich vor lauter Lachen nicht mehr halten und Max ist sprachlos. „Wir gehen, mit so Einer gebe ich mich nicht ab!“ sagt er zu seinen Jungs und läuft wutentbrannt davon. Emma lässt mich los und ich entspanne mich wieder. „Ich hoffe, ich bin dir gerade nicht zu nahe getreten?“ Sie schaut mich an und ich sehe, dass sie ein schlechtes Gewissen hat. „Nein, passt schon. Ich war nur ein bisschen überrascht.“ „Dann ist ja gut. Du weißt aber schon, dass du jetzt in meiner Schublade steckst?“ fragt sie. „Wie meinst du das?“ „Nachdem du heute Morgen gesagt hast, dass ich besser flirten kann als Max und ich gerade meine Arme um dich gelegt habe, denkt jetzt jeder, dass du auch lesbisch bist. Und die, die es noch nicht wissen, denen wird es Max schon unter die Nase reiben.“ Ich hole tief Luft: „Weißt du, dass mir das vollkommen egal ist? Die sollen doch denken, was sie wollen. Die haben mich noch nie wirklich interessiert!“, antworte ich ihr. „Ich mag dich, du bist mir echt sympathisch. Und ich glaube, wir können gute Freunde werden“, sage ich und nehme sie in den Arm.
Ich liege auf meinem Bett, höre Musik und denke über den heutigen Tag nach. Mir hat es richtig gefallen, dass wir Max so fertig gemacht haben. Aber er hat es ja auch nicht anders verdient, immerhin hat er angefangen. Aber das Gespräch mit Emma geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Die Geschichte, wie sie gemerkt hat, dass sie lesbisch ist, gibt mir zu denken. Könnte es sein, dass ich vielleicht auch? Nee, das kann nicht sein. Ich habe noch nie irgendwelche Gefühle für eine Frau empfunden. Aber auch nicht wirklich welche für Männer. Ich weiß nur, dass ich Emma ein bisschen bewundere, weil sie so selbstbewusst ist, und jedem die Stirn bietet. Ein Klopfen an der Tür reißt mich mal wieder aus meinen Gedanken. „Katja?“, es ist mein kleiner Bruder: „Kann ich rein kommen?“ „Klar doch“, antworte ich. Die Tür geht auf und er verdreht die Augen, weil er meine Musik hört. Unser Musikgeschmack ist komplett verschieden, aber wenn er mit mir quatschen will, muss er da durch. „Kann ich dich mal was fragen, Katja?“ Ich bin ganz erstaunt, er fragt mich sonst doch nie etwas, er regelt und schafft alles alleine. Ob er fragen will, ob ich ihn zu seinen Kumpels fahre? „Klar, fragen kannst du mich alles. Es kann nur sein, dass dir die Antwort nicht gefallen wird.“ Er tritt nervös von einem Bein aufs andere und ich klopfe mit meiner Hand auf mein Bett, damit er sich hinsetzt. „Ich hab da was in der Schule gehört“, fängt er an, und mir ist klar, worauf das hinauslaufen wird. Genau auf das, was Emma mir erklärt hat.
„In der Schule erzählen sie, dass zwischen Emma und dir was läuft“, er ist ganz verlegen und ein bisschen rot im Gesicht. „Was meinst du denn? Stimmt es was die anderen erzählen?“, stelle ich meine Gegenfrage. „Ich weiß nicht. Ich will nicht, dass du böse auf mich bist.“ Jetzt bin ich ein bisschen verwundert: „Warum sollte ich böse auf dich sein?“ Er spielt mit seinen Fingern, den Blick starr auf seine Hände gerichtet. „Na wenn ich dir jetzt sage, dass ich es zwar nicht weiß, aber mir gut vorstellen kann, dass es stimmt, dann reißt du mir bestimmt den Kopf ab.“ Ich sehe, dass er immer noch auf seine Hände schaut: „Wenn du´blöde Kuh´ zu mir sagt, dann wäre ich vielleicht böse auf dich. Aber jetzt erklär mir mal bitte, wie du darauf kommst, dass es stimmen könnte.“ Er schaut mich an, unsicher und verlegen: „Du hattest bis jetzt zwei Freunde und die haben dich nicht wirklich interessiert. Auch so interessierst du dich nicht für Männer. Aber seit du Emma kennst, blühst du richtig auf, Schwesterchen. In den letzten drei Tagen ist ein ganz anderer Mensch aus dir geworden. Du setzt dich für Emma und ihre Homosexualität ein und ich habe gehört, dass du Max ganz schön Kontra gegeben hast.“ Ich muss lachen, das mit Max war wirklich gelungen, ich glaube, dass er erst mal ganz schön die Schnauze voll hat. „Ja, das mit Max stimmt so. Und du hast Recht, dass ich mich nicht für Männer interessiere, zumindest bis jetzt noch nicht. Du hast auch Recht damit, dass ich mich für Emma einsetze. Aber zwischen ihr und mir läuft wirklich nichts, Kurzer. Und falls ich auf Frauen stehen sollte, so ist mir das noch nicht bewusst.“ Er schaut mich an und wirkt zufrieden. „Ich bin zwar dein kleiner Bruder, aber wenn du mal jemanden zum Reden brauchst, ich bin immer für dich da“, sagt er und geht wieder.
Er lässt mich hier auf meinem Bett sitzen und mich mit meinen Gedanken alleine. Wenn sich mein Bruder vorstellen kann, dass ich lesbisch bin, wieso kann ich es mir nicht vorstellen? Das liegt wahrscheinlich einfach daran, dass hetero bin, deswegen kann ich es mir nicht vorstellen. Oder habe ich mir einfach noch keine Gedanken darüber gemacht? Ich weiß nicht, Emma schaut wirklich gut aus, das kann ich nicht abstreiten, aber schaue ich sie genauer an als Männer? Oder liegt es einfach nur daran, dass sie neu in der Klasse ist und ich die anderen Gesichter alle schon kenne? Ich weiß, dass ich sie lieber mag als den Rest in meiner Klasse, aber zu denen hatte ich ja noch nie richtig gehört. Und ich finde einfach toll, dass Emma so selbstbewusst ist. Oh Mann, kann ein einzelner Mensch wirklich so viele unbeantwortete Fragen im Kopf haben, wie ich sie gerade habe? Ich bräuchte wirklich jemanden zum Reden, aber ich glaube nicht, dass mein Bruder dafür geeignet ist. Ich muss mit jemandem Reden, der meine Fragen auch beantworten kann. Ich könnte ja mal ins Internet gehen, aber da weiß ich nicht, mit wem ich chatten soll. Ich sollte einfach Emma fragen, sie kennt sich ja am Besten damit aus.
(Anmerkung von mir:
Ich habe die letzten Kapitel gelöscht, weil ich die Geschichte noch ein bisschen ergänzt habe, noch etwas umgeschrieben habe und nun versuche, den Roman an verschiedene Verlage zu schicken. Bitte habt Verständnis dafür, sollte der Roman wirklich verlegt werden, so teile ich euch das hier mit!)
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gizmoline. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.