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Stories » Detail

(N i c h t ) h i e r

von Jojoko


Januar:

Wie immer bin ich die letzte, die den Lehrsaal verlässt. Sogar Alexa ist schon gegangen. Sonst wartet sie meistens auf mich. Ich schultere meine Tasche, wasche mein Glas aus. Sie betritt den Raum. Der Teppichboden verschluckt ihre Schritte. Ich habe sie nicht kommen hören. Ich sehe vom Waschbecken auf, in ihr Gesicht. Diese braune Haarsträhne fällt ihr wieder ins Gesicht & sie lächelt wieder dieses bezaubernde Lächeln. Wie immer. Ich kenne ihr Lächeln. Schon seit eineinhalb Jahren. Doch es verwundert mich immer wieder. Noch nie habe ich ein solch ehrliches Lächeln gesehen.
Sie blättert in unserem Tagebuch, nimmt eine Seite aus der Klarsichtfolie. Ich kann das Geräusch ihres Kugelschreibers auf dem Papier vernehmen.
Mein Glas ist längst trocken. Ich trockne es weiter ab, den Blick in den Spiegel über dem Waschbecken gerichtet. Ich sehe an meinem Spiegelbild vorbei, sauge das Schwarz ihres Kleides auf. Jede einzelne Rockfalte kenne ich, jede einzelne Falte der gestärkten Haube & trotzdem studiere ich sie immer wieder. Jeden Tag.
Wie gerne würde ich über ihren seltsam hübschen Mund streichen, ganz sanft…
Ich schäme mich für meine Gedanken. Vielleicht.
Sie ist schön. Wunderschön. Anders schön als Lena. Lenas Lächeln ist nicht immer ehrlich.
Sie reißt mich aus meinen Gedanken, verlässt den Raum wieder, lächelt & wünscht einen schönen Tag. Ich stelle das Glas auf meinen Platz zurück, lösche die Lichter im Klassenraum.
Die Türe zu ihrem Büro steht meistens offen. Jetzt auch. Meine Schritte werden langsamer. Als ich an ihrem Zimmer vorbei gehe, sieht sie vom PC auf, lächelt wieder.
Wo bist du?, frage ich innerlich & sie antwortet nicht.
Ich bin doch hier, aber wo bist du?
Im Vorbeilaufen streift meine Hand ihren Mantel, der ordentlich an der Garderobe hängt. Wie immer. Routine. Lächerlich.
Mein Briefkasten ist Leer. Wieder kein Brief von Lena…

Februar:

Im Stationszimmer ist es relativ laut. Wie immer. Sr. Hellen telefoniert, Dr. Hiner informiert sich über den Neuzugang, Sr. Anka kontrolliert Tablettenschieber, führt Selbstgespräche nebenher… Ich ziehe Heparinspritzen auf. Fünf Milliliter, keine Luftblasen. Die letzte Spritze. Kanüle drauf, fertig.
“…eigentlich wollte ich zu Scarlett.”
Diese Stimme. Ich erkenne sie sofort. Es ist ihre Stimme. Ruckartig drehe ich mich um. Wenn sie mich anlächelt, ist mein Lächeln auch ehrlich & sie lächelt mich an.
“Schön, sie zu sehen!”, begrüße ich sie. Wir gehen auf den Gang.
“Ich freue mich auch, sie zu sehen, Scarlett!”
Du freust dich, mich zu sehen?! Ehrlich? So ehrlich wie dein Lächeln?
Sie will mir nur mitteilen, dass ich zum Theoriebeginn, nächste Woche, mein Anatomiebuch mitbringen soll, doch vorher erkundigt sie sich nach meinem Befinden. Dabei ist sie ernst. Ich mag ihre Art. Sie sorgt sich viel zu sehr um uns, ihren ersten Kurs. Als sie uns während der umfangreichen Lernzielkontrolle über die Lunge beaufsichtigte, hatte ich sogar ein schlechtes Gewissen, einen Spickzetteln auch nur in der Hosentasche zu haben. Benutzt habe ich ihn nicht. Eine Vier habe ich geschrieben. Ich mag die Momente nicht, in denen sie uns die korrigierten Arbeiten aushändigt. Das ist der einzige Moment, in dem ich mir wünsche, sie würde mich nicht ansehen. Dann wird mir bewusst, wer sie ist & wer ich bin. Dann wird mir bewusst, dass sie eine Frau ist & ich nur ein Mädchen. Dann wird mir bewusst, dass sie keiner begehren darf, wie es ihre Tracht verdeutlicht. Wenn sie mir die Hand gibt, sind wir Meilen voneinander entfernt.
Wo bist du?
Wenn sie mich anlächelt, bin ich traurig. Sie lächelt alle so an. Nicht nur mich. Ich bin egoistisch.
Sie verabschiedet sich von mir, lächelt noch einmal zum Abschied & dreht sich um. In drei Tagen werde ich sie wieder sehen. Eigentlich sollte ich mich freuen.
Freue ich mich?
Sie läuft den Flur entlang, ich schaue ihr nach.
Dreh dich noch mal um! Bitte. Nur ganz kurz, nur einen Moment…
Sie läuft weiter, dreht sich nicht um, verschwindet um die Ecke & ihr schwarzer Rock jagt ihr verspielt hinterher.

März:

Vollmond. Ich liege in meinem Bett. Schlaflos. Das helle Mondlicht wirft Schatten an die Wand. Ich schließe die Augen wieder. Meine Hand streicht sachte über meine Haut. Ich sehe nicht Lena. Meine Finger zeichnen Spiralen. Ich sehe sie. Meine Hand rutscht tiefer. Ich sollte Lena sehen. Mein Atem wird schneller. Ihr Lächeln.
Wo bist du?
Ein heftiger Impuls, ein atemloser Moment. Warme, feuchte Hand. Warum ist es nicht deine Hand? Warum bist du so weit weg, auch wenn du vor mir stehst & mich anlächelst?! Warum kann Lena nicht so lächeln wie du…
Ich schäme mich, flüstere “Lächerlich!” in die Nacht.
Ich bin alleine.
Wo bist du?
Sie ist nicht hier. Sie war nie bei mir.
Wo bist du?
Auch Lena ist nicht hier. Nur Fantasie. Überall im Raum schwebt Fantasie & ich ergebe mich ihr.

April:

Der Zug fährt ein. Ich stehe am Gleis fünf. Lena ist zurück. Sie freut sich. Ich freue mich. Lena fällt mir in die Arme, küsst mich. Ich bin ehrlich. Im Moment denke ich nicht an sie, ich freue mich wegen Lena. So wie es sein sollte.

Mai:

Es ist Morgen. Samstagmorgen. Lena liegt neben mir im Bett. Ihre Haare kitzeln mein Gesicht. Sie streichelt meinen Arm. Ich starre zur Decke.
“Wo bist du, Scarlett?”, fragt sie plötzlich.
“Ich bin doch hier.”
“Nein, du bist nicht hier!”
& sie hat Recht. Das wird mir jetzt bewusst. Jetzt erst. Nicht sie ist es, die nicht hier ist, ich bin es, die nicht hier ist!
“Warum lächelst du?”, fragt Lena.
“Weil ich jetzt hier bin.”Vielleicht…



copyright © by Jojoko. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.



Kommentare


Klasse
Woman_1966 - 04.10.2006 14:30
feedback: POSITIV
Du hast einen extravaganten Textaufbau, das gefällt mir...
Vor allem dein umschreibender Stil, bezüglich der empfundenen Begierde ist wundervoll…
graphein - 03.10.2006 15:55

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