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Roof Stories - Story 1 (komplett)

von cappuccino007


Roof Stories - Story 1

Über den Dächern der Stadt
On The Roof Tops

Sie hätte zuhause bleiben sollen. In ihrem warmen kuscheligen Bett. Mit einer heißen Schokolade in der Hand hätte sie sich von dem TV-Programm berieseln lassen können, so wie sie das für gewöhnlich am Donnerstagabend machte. Doch so watschelte Hanna nun den Gehweg entlang, während die Straßenbahn, in der sie gerade noch saß an ihr vorbei rauschte. Sie war keine zehn Meter gegangen, da spürte sie auf einmal wie ihr ein kalter Regentropfen auf die Nase fiel. Ein zweiter landete auf ihrer Stirn und rann ihr über die Augenbraue. Es dauerte keine Minute, da goss es auch schon wie aus Kübeln. Hanna, die keinen Regenschirm dabei hatte, warf sich mit einem genervten Stöhnen die Kapuze ihres Parkas über den hellbraunen Schopf, stopfte die Hände in die Jackentaschen und eilte zügiger über die nassen Pflastersteine.
Charly hatte sie also wirklich so weit gebracht. Hanna wusste, dass sie irgendwann mal dort vorbei geschaut hätte, aber sie war sich nicht sicher, ob heute wirklich der richtige Tag dafür war. Denn es war einer von diesen Herbsttagen die Hanna nicht mochte. Schon tagsüber hing eine dunkle fette Wolkendecke am Himmel, die nun ihre nasse Ladung über der Stadt nieder ließ. Die Tatsache, dass sie bis viertel nach Vier in der Schule gesessen hatte, half nicht zu ihrer Laune bei. Eigentlich hätte sie nur bis Vier gehabt, aber ihr Geschichtslehrer hatte mal wieder überzogen. Deshalb musste sie sich abhetzen um ja einigermaßen pünktlich zum Abendessen zu kommen und dann musste sie auch schon los. Dorthin. Ihren Eltern hatte sie gesagt, sie und ihre beste Freundin Miri würden ins Kino gehen.
Jetzt da sie auf dem Weg zu ihrem wahren Bestimmungsort war, wägte sie ab, ob sie nicht doch lieber umkehren sollte. Denn eigentlich war sie total K.O. und Hausaufgaben sollte sie auch noch machen und früher ins Bett wollte sie auch und… und… Hanna wusste, dass das Alles nur billige Ausreden waren, die ihr schon den ganzen Tag über im Kopf herumschwirrten. Es war ihr innerer Schweinehund, der versuchte sie zu überreden, doch wieder nach Hause zu fahren. Das hatte sie bereits in Betracht gezogen, als sie die Haustür hinter sich zu zog, als sie an der U-Bahn Station wartete und auch als sie in die Tram einstieg. Auch jetzt könnte sie noch umkehren. Sollte sie? Nein.
Charly hatte sie am Anfang der Woche erneut gefragt, ob sie mal vorbei schauen will. Mittlerweile war es die dritte Einladung gewesen. Beim ersten Mal war Hanna noch nicht bereit dafür gewesen. Beim zweiten Mal konnte sie nicht, weil sie auf der Geburtstagsfeier ihres Onkels eingeladen war. Das entsprach tatsächlich der Wahrheit, aber Hanna hatte das dumpfe Gefühl, dass Charly dies nur als eine weitere Ausrede von ihr auslegte. Ein drittes Mal wollte sie nicht verneinen. Zum Einen wäre ihr schlechtes Gewissen gegenüber Charly nur noch größer geworden und zum Anderen, weil sie es nun auch von sich selbst aus wollte. Zumindest irgendein Teil in ihr. Und auch wenn ihr ihre Schritte gerade schwer fielen, so wusste Hanna, dass sie sie in die richtige Richtung führten.
Die Beiden hatten vereinbart, dass Charly sie um viertel nach sechs unten vor dem Gebäude abholen würde. Dies beruhigte Hanna ein wenig, denn komplett alleine hätte sie sich dort wohl nie hin getraut. Charlotte Sattler, kurz Charly, hatte Hanna im Internet kennengelernt. Die zwei Mädchen hatten von Anfang an einen sehr guten Draht zueinander und mittlerweile schrieben sie seit etwa vier Monaten fast täglich. Sie waren sogar schon zusammen Kaffee trinken, im Kino und beim Sushi essen gewesen. Wie sich während den Gesprächen im Chat herausgestellt hatte, teilten die Zwei nämlich die gleiche Leidenschaft für diese asiatische Spezialität. Hanna mochte Charly wirklich sehr, deswegen vertraute sie ihr, dass ihr der heutige Besuch gefallen würde.
Laut Charlys Wegbeschreibung konnte es nun nicht mehr weit sein. Das hoffte sie zumindest, denn das Wasser stand bereits in ihren Schuhen und durchfeuchtete ihre Socken. In ein paar Meter Entfernung konnte sie auf der linken Seite hinter ein paar Bäumen einen Gebäudekomplex erkennen. Als sie näher kam, erkannte sie dort die Fassaden eines Schnell-Imbiss, eines kleinen Kiosk und in den oberen Stockwerken befanden sich wahrscheinlich Bürozimmer oder Arztpraxen. Das musste es sein. Hanna blickte den Gehweg entlang und dort, wo es zu dem Vorhof des Gebäudekomplexes hinein ging, stand ein Mädchen mit einem lilanem Regenschirm. Das war Charly.
„Hi!“, sagte Hanna freudig und nervös zu gleich.
„Hey Hanna! Schön dich wieder zu sehen!“, antwortete Charly glücklich und umarmte sie herzlich. Charlys leicht orangerotes glattes Haar floss ihr über die Schultern, die hellblauen Glubschaugen strahlten durch die viereckige Nerdbrille, die auf ihrer Nase saß und ihre vollen Lippen hatten sich zu einem warmen Lächeln geformt. Rein vom Aussehen her hätte man Charly wohl in die Schublade „Streber“ gesteckt, aber Hanna wusste, dass dieses Mädchen so Einiges auf dem Kasten hatte und zu einer ganz eigenen Spezies gehörte.
„Wie geht’s dir?“, fragte Charly.
„Soweit ganz gut. Bin nur klatschnass und mir ist kalt“, antwortete Hanna leicht zitternd aber lächelnd.
„Du bist genau in den Regenschauer geraten stimmt’s?“
Hanna nickte, „Kaum war ich aus der Tram draußen ging es los!“
„Haha, das ist doch immer so!“, sagte Charly und lachte. „Man merkt, dass der Herbst vor der Tür steht. Naja, wollen wir hoch ins Trockene gehen?“
Hanna, die ihre Hände wieder tief in die Taschen ihres Parkas geschoben hatte, blickte verlegen drein und hopste von einem Fuß auf den Anderen, „Hmm… okay…“, sagte sie zögerlich.
Charly lächelte besänftigend „Du musst echt keine Angst haben! Die Mädels da oben beißen nicht!“
„Hm…“, machte Hanna nur und schaute skeptisch den Gebäudekomplex hoch.
„Außerdem hab ich ihnen schon gesagt, dass heute eine Neue vorbei schaut.“
Hanna lachte nervös, „Ja toll! Dann hab ich ja gar keine andere Wahl als mit hoch zu kommen!”
Charly grinste von einem Ohr zum Anderen „Ich habe eben alles strategisch durchdacht!“
Sie packte Hanna am Arm und zog sie gut gelaunt mit sich, „Auf jetzt Fräulein Reiser, folgen Sie mir!“
Hanna wäre fast hingefallen, so euphorisch zog sie Charly mit sich. Jetzt gab es endgültig kein Zurück mehr. Die Beiden kamen in den Vorhof der Gebäudeanlage. Direkt in der Mitte befand sich ein Springbrunnen, der allerdings leer und abgestellt war. Auf der rechten Seite neben dem kleinen Kiosk gab es eine Supermarkt-Filiale. An den zwei Kassen hatten sich lange Schlangen gebildet und eine Kundin an der Vorderen legte gerade ihre Einkäufe auf das Fließband. Die zwei Mädchen eilten an dem trockengelegten Springbrunnen vorbei und wichen einem Mann aus, der gerade mit einer weißen Plastiktüte aus dem Schnellimbiss trat. Hanna, die ihr Abendessen vorhin gehetzt herunter schlingen musste und deshalb schon wieder Hunger verspürte, spähte durch das Schaufenster auf die gelbleuchteten Menü-Anzeigen. Aufgelistet waren alle möglichen Pizzen, diverse Nudelgerichte sowie verschiedene Salatkreationen. Natürlich war jedes Gericht mit einem detailliert bearbeiteten, Bild verziert, die Hanna das Wasser im Mund nur so zusammen laufen ließen. Doch ein zweites Abendessen war jetzt nicht drin. Hanna stolperte Charly mehr nach, als dass sie wirklich ging und als sie sah, dass sie geradewegs auf einen überdachten Hauseingang in der hinteren linken Ecke der Anlage zusteuerten, fing auch Hannas Herz das Stolpern an. Unter dem kleinen Dach angekommen zog sich Hanna ihre Kapuze vom Kopf und schüttelte ihre Haare zurecht während Charly ihren Regenschirm zusammen klappte. Danach öffnete sie die silbergerahmte Glastür und streckte wie ein Gentleman den Arm aus, „Darf ich bitten?“
Hanna trat ein, doch nun wurde sie nervös „Geh du ruhig vor!“, sagte sie zu Charly. Diese nickte und tat wie ihr angewiesen. Das Treppenhaus war in hellen Farben gestrichen und wirkte modern und sauber, jedoch war es nicht allzu groß, keine zehn Meter breit. Hanna kletterte leicht schwitzend hinter Charly die Stufen hoch und achtete in jedem Stock auf die jeweiligen Klingenschilder. Im ersten Stock befanden sich ein Zahnarzt und ein Allgemeinarzt. Im zweiten Stock hatte sich neben einem Judo auch ein Yoga Studio eingenistet.
„Hier ist ja ziemlich viel unter einem Dach!“, murmelte Hanna als sie im dritten Stock an einer Kanzlei vorbei kamen.
„Allerdings! Aber ist ziemlich cool, jeder kennt hier jeden, wir sind sowas wie eine kleine Nachbarschaft!“, antwortete Charly fröhlich. Sie spähte über ihre Schulter zu Hanna und sah ihr ihre Anspannung förmlich ins Gesicht geschrieben, „Nervös?“, fragte sie.
Hanna grinste verlegen, „Etwas.“
„Musst du nicht! Glaub mir, es wird dir gefallen! Wenn nicht, kannst du jeder Zeit wieder abhauen und als Entschädigung lad ich dich dann noch zum All-You-Can-Eat Sushi ein!“, bestimmte Charly glücklich.
„Du musst dir deiner Sache aber ziemlich sicher sein!“, sagte Hanna herausfordernd.
„Worauf du wetten kannst!“, gab Charly überzeugt zurück und zwinkerte.
Die Mädchen hatten nun fast das oberste Stockwerk erreicht und Hanna spürte wie die Aufregung in ihr von Sekunde zu Sekunde stieg. Es war eine seltsame Mischung aus Vorfreude und Angst. Vorfreude darauf, dass sie endlich Gleichgesinnte kennenlernen würde und gleichzeitig die Angst davor, wie sie auf sie reagieren würden. Außerdem würde sie sich durch diesen Besuch selbst noch ein Stück mehr eingestehen, dass sie anders gepolt war als die meisten ihrer Freundinnen. Dieser Besuch kam ihr auf eine gewisse Art und Weise wie ein Geständnis vor. Ein Geständnis über sich selbst. Auch das machte ihr Angst.
„Et voilà! Hier wären wir!“, sagte Charly freudig und blieb mit Hanna im letzten Stock vor einer großen weißen Türe stehen. Hannas Herzschlag pochte in ihren Ohren und für den Bruchteil einer Sekunde wurde ihr vor Aufregung schlecht.
„Das hier ist die Regenbogenpforte!“, verkündete Charly stolz und verwies mit einer eleganten Handbewegung wie man sie von Zauberern kannte, auf die Tür.
„Okay?“, sagte Hanna nur, da sie nicht genau wusste, ob auf diese Aussage noch etwas folgen würde.
Charly verflog das Grinsen aus dem Gesicht und sie antwortete schnell „Ja, keine Ahnung, wir fanden es nur irgendwie cool die Tür so zu nennen!“
„Okay.“, machte Hanna erneut und runzelte die Stirn.
Charly öffnete die Tür und ging hinein. Hanna atmete tief durch und folgte ihr.

Sie traten in einen kleinen Vorraum, der von buntem, sich abwechselndem Licht, das von einer Neonröhre an der Decke kam, beleuchtet wurde.
„Hier kannst du deine Jacke reinhängen wenn du magst!“, sagte Charly und deutete nach links. Dort standen mehrere Spinde, wie Hanna sie aus der Schule kannte. Charly schritt durch die etwa zwei Meter lange Garderobe und ging durch die Glastür auf der anderen Seite. Hanna schlich ihr nervös hinterher und plötzlich stand sie mitten drin. Schräg vor ihr befand sich eine große Bar aus dunklem Eichenholz, an dem rund herum junge Frauen auf Barhockern saßen und ausgelassen miteinander quatschten und einen Drink zu sich nahmen. In der dunkelblauen Wand hinter der Bar gab es eine Durchreiche, über der auf einem Regal Jack Daniels, Baileys und Co. thronten. Links hinter der Bar summte ein Kühlschrank mit alkoholfreiem Inhalt vor sich hin und erhellte eine Ecke der Theke. Hanna vernahm Musik, die aus irgendwelchen Lautsprechern drang, Gläser die klirrten und Stimmen und Gelächter, die in einem einzigen Wirrwarr verschmolzen. Eine der Damen an der Bar, sie hatte tätowierte Oberarme und einen Iro, musterte Hanna interessiert von oben bis unten. Die Barkeeperin, die gerade ein Glas abtrocknete, lächelte ihr unter ihrem weinroten Pony freundlich zu. Hanna wusste nicht ob sie dieses Lächeln erwidern sollte. Sie fühlte sich wie die einzige Darstellerin auf einer großen Bühne und hatte das Gefühl, als wären alle Augenpaare auf sie gerichtet. Da sie nun hier in der Tür stand, würden diese Mädchen beziehungsweise Frauen es wissen. Sie würden wissen, dass Hanna so war wie sie. Sie würden wissen, dass Hanna ebenfalls auf Frauen stand.
Aus dem Augenwinkel sah Hanna, wie Charly rasch um die Ecke huschte und eilte ihr nach. Sie schlängelte sich an mehreren besetzten Tischen vorbei. Hier und da blickte eine Dame kurz zu ihr hoch, Andere waren voll und ganz auf ihren Drink fixiert. Viele der hier Anwesenden Ladies erfüllte das Klischee, dass die meisten Leute wohl von Lesben haben: Kurze Haare, Tattoos und ein generell eher männliches Auftreten. Auch Hanna hatte dieses Klischee anfangs vor ihrem inneren Auge, solange bis sie auf Tumblr und Youtube diverse Bilder und Videos fand, die ihr diese Vorurteile ausradierten. Mittlerweile wusste Hanna, dass es neben der klischeehaften Butch alle möglichen Typen von Lesben und Bisexuellen gab. Da gab es zum Beispiel die Femmes, die, wie der Name schon sagt, eher weibliche Lesben waren, die Butches, vom Aussehen her sehr männlich wirkende Lesben und die Tomboys, die eine Mischung aus beidem darstellen. Hanna hätte sich selbst wohl zwischen Femme und eigener Kreation angesiedelt.
Sie bog ebenfalls um die Ecke und wäre fast in Charly reingelaufen, die dort vor einem Tisch in der Ecke stehen geblieben war. An dem Tisch saßen drei Mädchen. Zwei von ihnen Arm in Arm nebeneinander und eins allein auf der rechten Seite.
„Charly! Da bist du ja endlich wieder! Du kannst mich doch nicht so lange mit den zwei Turteltauben hier allein lassen!”, sagte die, die allein in der Ecke saß verzweifelt. Sie hatte kurzes schwarzes Haar, das streng nach vorne gekämmt war. Ein dicker schwarzer Strich umrahmte ihre grünen Augen und ihr Nasenring, das Nietenarmband so wie das Tattoo, dass sie am rechten Oberarm trug, verliehen ihr den Eindruck, dass man sich besser nicht mit ihr anlegen sollte. Ihr männliches Erscheinungsbild konnte jedoch nicht verbergen, dass sie ein unglaublich feminines Gesicht hatte.
„Ach komm schon Vanny! So schlimm sind wir auch wieder nicht!“, sagte das Braunhaarige der zwei Mädchen, die im Vergleich zu ihrer Freundin braun gebrannt wie nach zwei Wochen Spanienurlaub aussah. Sie gab der großen Blondine mit dem süßen Häschengesicht sanft einen Kuss auf die rechte Wange und Vanny rümpfte die Nase, „Ja ne ist klar!“
„Also Leute, das hier ist Hanna!“, verlagerte Charly die gesamte Aufmerksamkeit auf einmal und deutete mit derselben magischen Handbewegung wie vorhin auf eben diese. Vanny und die anderen Beiden blickten sie interessiert an.
„Hanna ohne H am Ende!“, fügte Hanna hastig hinzu. Dies war ihre Macke. Bei jedem, bei dem sie sich vorstellte, fügte sie diese kleine grammatische Feinheit hinzu. Manchmal nervte es sie, dass sie das tat, aber sie konnte es auch nicht lassen. Sie trat an den Tisch und begrüßte jede mit einem Händeschütteln.
„Hi, ich bin Vanny!“, sagte das gefährlich aussehende Mädchen und Hanna knickte bei ihrem strammen Händedruck kurz zusammen.
„Und wir sind Nicki und Emma!“, stellte sich die Blondine und ihre Freundin vor.
„Freut mich!“, erwiderte Hanna lächelnd.
„Du wurdest von Charly gezwungen zu kommen, oder?“, fragte Emma und deutete mit dem Kopf zu einer stolz grinsenden Charly.
„Kann man so sagen!“, erwiderte Hanna mit einem kecken Lächeln.
„Sie war einfach zu schüchtern von sich aus herzu kommen, deswegen musste ich ihr einen Ruck geben!“, sagte Charly und haute Hanna von hinten motiviert auf den Rücken. “Aber jetzt bist du ja da und ich bin glücklich!“
„Das freut mich…“, keuchte Hanna mit schmerzverzerrtem Gesicht.
„Und wie geht es dir so?“, fragte Nicki.
„Soweit ganz gut, ich bin nur total nass!“
„Keine Sorge, wir mögen feuchte Mädchen!“, grinste Vanny verschmitzt.
Die Anderen fingen bedacht an zu kichern, Emma schüttelte nur den Kopf. Hanna brauchte eine Sekunde bis sie die Anspielung verstand, aber dann musste auch sie leise auflachen.
„Vanny!“, ermahnte Nicki diese.
„Was denn! Die Vorlage war einfach zu gut!“, verteidigte sich Vanny mit erhobenen Händen.
„Komm, zieh dir mal deine Jacke aus!“, sagte Charly und half Hanna aus ihrem Parka, „Möchtest du irgendwas zum Aufwärmen trinken? Kaffee? Tee?“
Hanna setzte sich und fragte neugierig „Habt ihr Bier?“
Vanny klopfte amüsiert auf den Tisch, „Die gefällt mir!“
Charly grinste ungläubig, „Ja wir haben Bier. Ich bring dir eins.“ Sie zog von dannen. Emma und Nicki wandten sich wieder einander zu und Vanny tippte hastig auf ihrem Smartphone rum. Da Hanna nicht die Einzige sein wollte, die stumm und still da saß, nahm sie sich ihre Klammer aus dem Haar und wuschelte sich durch den Schopf. Durch ihre hellbraunen Haarsträhnen sah sie, wie Emma und Nicki, die ihr gegenüber saßen miteinander kuschelten und sich verliebt küssten. Es war süß dies zu sehen, aber es war auch etwas ungewohnt. Klar, im Internet hatte Hanna schon oft Fotos von Mädchen gesehen, die sich küssten, aber in Echt war das doch nochmal was anderes. Für die Anderen hier war es Gang und Gäbe, dass sich zwei Mädchen irgendwo in einer Ecke küssten. Hanna empfand eine tiefe Freude bei dieser Selbstverständlichkeit und wandte sich mit einem Lächeln ab.
„Wer kommt denn heute noch alles?“, fragte Emma Vanny auf einmal.
„Pia hat mir vor einer viertel Stunde geschrieben, dass sie bald da ist, aber ob sonst noch wer kommt weiß ich auch nicht.“
Hanna machte sich gerade einen neuen Dutt auf ihrem offenen Haar, als von oben eine Bierflasche vor ihr auf den Tisch gestellt wurde.
„Oh Danke!“, sagte Hanna als Charly sich ebenfalls mit einer Flasche Bier neben sie setzte, „Wie viel bekommst du?“
Charly winkte ab, „Lass stecken. Wenn du in Zukunft öfter kommst, musst du es eh selbst bezahlen.“
Vanny nahm ihre Bierflasche in die Hand, „Also Prost!“
Die Anderen taten ihr gleich und stießen miteinander an.
„Boah ihr Säcke!“, rief auf einmal jemand und Hanna wandte sich erschrocken um. Ein blonder Junge mit Skateboard unter dem Arm und Rucksack auf dem Rücken kam auf sie zu. Zumindest dachte Hanna im ersten Moment, dass es ein Junge ist. Im Zweiten Moment erkannte sie, dass er Brüste hatte.
„Jetzt habt ihr ohne mich angestoßen!“, beschwerte sich das burschikose Mädchen.
„Du darfst eh noch kein Bier trinken!“, brüllte Charly zurück.
Die Skaterin streckte Charly die Zunge raus und ihr Blick fiel auf Hanna „Oh Hey! Du bist neu, oder? Ich bin Pia!“, sagte sie gut gelaunt und schüttelte Hanna heftig die Hand.
„Hi, ich bin Hanna. Hanna ohne H am Ende!“, sagte sie und war heilfroh, als Pia wieder los ließ.
„Bist du heute zum ersten Mal da?“
„Ja, Charly hat mich angeschleppt.“
Pia schaute neugierig von Hanna zu Charly und zurück, „Bist du Charlys Neue?“
„Hallo Pia, nein!“, schoss es sofort aus Charly heraus und Hanna wurde leicht rot, als sie sah, dass Alle sie neugierig anstarrten.
„Was denn? Hätte doch sein können!“, sagte Pia bedacht und trat mit einem militärischen Gruß ab zur Bar. Zwei Minuten später kam sie mit einer Cola zurück an den Tisch und quetschte sich neben Vanny auf die Bank mit dicken Lederpolstern, wie man sie aus Cafés und Restaurants in amerikanischen Filmen kannte. Dabei stieß sie mit ihren klobigen Skaterschuhen gegen Hannas Bein.
„Also, du neue Hanna du, erzähl mal ein bisschen was über dich!“, forderte Pia während sie diese über den Flaschenhals hinweg beäugte.
„Hmm…“, machte Hanna nur und hielt ihr Bier mit beiden Händen fest, „Also ich bin 18 Jahre alt, ich gehe noch zur Schule, ich spiele Klavier…“
„Wo hast du Charly kennengelernt?“, unterbrach sie Pia neugierig und starrte sie an, wie ein Kommissar den Verdächtigen beim Verhör.
„Auf Girls 4 Girls.“
„Haha, wo auch sonst!“, prustete Vanny los.
„Kennt ihr die Seite?“, fragte Hanna ungläubig.
„Wer kennt die nicht? Fast jede von uns ist da angemeldet!“, klärte Pia sie auf.
Hanna wirkte leicht überrascht. Emma zwinkerte ihr zu „Die meisten die du aus Girls 4 Girls kennst wirst du auch hier früher oder später mal treffen!“
„Gut zu wissen…“, sagte Hanna nur lächelnd.
„Na sieh mal einer an wer da ist!“, sagte Nicki auf einmal freudestrahlend und alle Köpfe wandten sich augenblicklich um. Ein hübsches Mädchen mit schwarzer Lederjacke trat an den Tisch. Ihr hellbraunes Haar hatte sie in einen schlampigen Dutt gestopft und ihre ziemlich teuer aussehende Handtasche baumelte locker an ihrem rechten Handgelenk, welches mit einer edlen, silbernen Kette verziert war. Dieses Mädchen machte den Anschein, als hätte sie Kohle und davon nicht nur ein bisschen. Durch ihre Knopfaugen und die Mäuschennase fühlte sich Hanna unweigerlich etwas an Mickey Mouse erinnert. Einerseits wirkte sie sehr sympathisch und niedlich, andererseits hatte sie aber auch etwas unglaublich Arrogantes an sich. Hanna konnte nicht einschätzen, was eher zutreffen würde.
„Hey Bitches!“, sagte das Mädchen glücklich in die Runde.
„Hi Becky! Auch mal wieder da! Ich hab dich letzte Woche vermisst!“, sagte Charly und umarmte sie.
„Schon! Wo warst du?“, fragte Pia und umarmte sie ebenfalls.
„Hausarrest!“, murmelte Becky nur und verdrehte die Augen, während sie sich zu Emma und Nicki rüber beugte.
„Schon wieder?“, fragte Emma, „Warum diesmal?“
„Wieder betrunken aus einem Club geflogen?“, lachte Vanny hämisch aus ihrer Ecke.
Becky warf ihr einen giftigen Blick zu, „Nein diesmal nicht! Ich hatte eine Fünf in der Mathe Klausur. Ich musste das ganze Wochenende pauken. Als ob das was bringen würde!“
Becky hatte die Runde fast durch und beugte sich lächelnd zu Hanna, „Ah dich kenn ich noch nicht! Ich bin Rebecca, sag aber einfach Becky zu mir!“
„Hi, ich bin Hanna! Hanna ohne H am Ende!“
„Sagst du das eigentlich immer dazu?“, fragte Pia sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Meistens.“, gab Hanna peinlich berührt zu.
Becky ließ sich schwungvoll neben Charly nieder und ein Schwall von Parfüm kam Hanna entgegen. „Und was gibt es so Neues?“, fragte Becky strahlend in die Runde, währschwarze Handtasche auf den Tisch stellte. Mit ihren gefühlt hundert Fransen erinnerte diese Hanna mehr an einen Wischmopp, als an ein modisches Accessoires. Auf Hanna wirkte Becky eher wie die Art Mädchen, die sich von Lesben angewidert fühlten. Wenn sie sie auf der Straße getroffen hätte, hätte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen können, dass diese gut mit homosexuellen Mädchen klar kommt, geschweige denn selbst auf Frauen stand. Die Gruppe tauschte sich über die neuesten Geschehnisse und Gerüchte der Szene aus und Hanna hörte aufmerksam und zurückhaltend zu. Sie wartete nur darauf, dass irgendwer sie fragen würde, ob sie eine Freundin hätte, oder zumindest schon mal gehabt habe oder ob sie lesbisch oder bi wäre, doch diese Fragen blieben zu ihrer großer Überraschung aus.
„Und wie findest du es hier so?“, fragte Charly sie stattdessen auf einmal leise von der Seite her und Hanna zuckte kurz zusammen, „Ja bis jetzt ist es eigentlich echt cool!“
Charly zwinkerte ihr zufrieden zu, „Habe ich doch gesagt!“
Hanna lächelte nur und wanderte mit ihrem Blick rüber zur Bar.
„Sind das jetzt alle von euren Mädels die hier sind?“, fragte sie Charly.
„Nein, nein! Das ist immer unterschiedlich. Es kommen nicht immer Alle. Mal sind wir mehr, mal weniger. Die meisten lernt man mit der Zeit kennen, aber es kommen auch immer wieder ganz neue Gesichter dazu. Gut die Hälfte von den Damen, die heute da sind habe ich noch nie davor gesehen.“, erklärte Charly und zuckte mit den Schultern, „aber die wichtigsten und coolsten Leute hast du schon kennengelernt!“
„Das ist die Hauptsache!“, grinste Hanna. Sie drehte ihren Kopf noch einmal flüchtig zur Bar, doch diesmal blieb ihr Blick dort hängen. Die Baseball Cap trug sie verkehrt herum auf dem aschschwarzen Haar, das bis zur Schulter reichte. Die Lederjacke glänzte matt und die eng anliegende Jeans setzte ihren Po und ihre Beine in Szene. Lässig lehnte sie an der Bar und plauderte mit der Barkeeperin, die ihr gerade ein Wasser einschenkte. Da sie mit ihrem Rücken zu dem Tisch der Mädels stand, konnte Hanna ihr Gesicht nicht sehen, doch aus irgendeinem Grund wollte sie genau das. Hier gab es viele Mädchen mit Cap oder Mütze, aber von keinem wurden ihre Augen so magnetisch angezogen, wie von dem mit dem grau-weißen LA Dodgers Fanartikel. Ihre Sneakers sahen sportlich und schon etwas mitgenommen aus. Hanna konnte die Marke nicht erkennen, tippte aber auf Nike. Nach etwa fünf Minuten klopfte die Cap Trägerin zweimal auf die Theke und drehte sich dann um. Hannas Herz machte einen kleinen Hüpfer. Es war nicht das Piercing am Mund, das sie faszinierte, auch nicht die Piercings am Ohr, oder die perfekten Konturen ihres Gesichts, nein, es waren ihre Augen. Denn obwohl Hanna sie aus gut fünf Metern Entfernung beobachtete, erkannte sie ganz deutlich dass diese in einem kräftigen Saphirblau strahlten. Es schien, als würde irgendeine seltsame Aura dieses Mädchen umgeben. Eine Aura, die alles andere in diesem Raum verblassen ließ. Hanna zuckte zusammen als Charly neben ihr auf einmal los brüllte, „Ich glaub ich sehe nicht richtig! Jess ist da!“
Die Cap-Trägerin, der Hannas Blick seit den letzten paar Minuten folgte, drehte sich plötzlich in ihre Richtung. Neben ihr fing Charly wie verrückt das Winken an und die Dame mit den leuchtenden Augen hob ebenfalls kurz die Hand. Danach zupfte sie sich ihre Lederjacke zurecht und steuerte geradewegs auf einen Tisch in der Ecke zu.
„Wer ist das?“, fragte Hanna und versuchte nicht allzu neugierig zu klingen.
„Das ist Jess.“, antwortete Charly fast ehrfürchtig.
„Sie ist die Coolste überhaupt!“, mischte sich auf einmal Pia begeistert ein.
„Jess hat immer ein offenes Ohr für Einen. Egal um was für ein Problem es geht, sie ist für einen da.“, fügte Emma hinzu.
„Für Manche von uns ist sie sowas wie eine große Schwester.“, erläuterte Vanny und Emma nickte zustimmend. Jess hatte sich zu zwei Damen am Tisch in der Ecke, einer Blondine mit Under-Cut und einer Brünetten, herunter gebeugt und unterhielt sich angeregt mit ihnen.
Hanna fand es erstaunlich und witzig zugleich, dass sie vom ganzen Tisch her Erläuterungen über Jess bekam, obwohl sie eigentlich nur Charly gefragt hatte.
„Eigentlich kommt sie nur manchmal her, deswegen wundert es mich gerade, dass sie heute hier ist.“, murmelte Charly.
Just in diesem Moment wandte sich Jess von den zwei Damen ab und trat auf den Mädchentisch zu. Hanna drehte sich nervös um und spürte wie Jess nur wenige Augenblicke später genau hinter ihr stehen blieb. Mit der einen Hand stütze sie sich auf Hannas Stuhllehne ab, mit der anderen auf Charlys. Der Duft von Männerparfüm kroch Hanna in die Nase und sie bekam davon eine leichte Gänsehaut.
„Hallo beisammen!“, begrüßte Jess die Runde fröhlich. Ihre Stimme klang rau und sanft zu gleich. Es war eine von diesen Stimmen, die man unter tausend anderen heraushört. So wie eine wundervolle Melodie, die man auch nach Jahren noch erkannte. Alle begrüßten sie und Hanna kam sich leicht blöd vor, denn sie war die Einzige von den Mädels, die Jess nicht anschauen konnte, da diese direkt hinter ihr stand. Wenn sie es versucht hätte, hätte sie sich ziemlich verbiegen müssen und das hätte zum einen wohl unglaublich blöd ausgehen und zum anderen ziemlich weh getan. Auch wäre es für Jess wohl gruselig gewesen, auf einmal von unten von einem grünen Augenpaar angestarrt zu werden. Deshalb verweilte Hanna in ihrer Position und versuchte in ihrer Bierflasche die Reflexion von Jess zu erkennen.
„Dass man dich auch mal wieder hier sieht!“, sagte Charly strahlend.
Jess kniff ihr scherzhaft in den Nacken, „Ja na klar! Ich muss doch mal schauen wie es meinen kleinen Stinkern so geht!“
„Oh das ist aber süß von dir!“, sagte Vanny.
„Schon oder? Außerdem gibt es einen besonderen Anlass heute hier zu sein.“
„Und der wäre?“, fragte Nicki neugierig.
Jess legte den Zeigefinger an den Mund, „Top Secret!“
„Ach komm Jess, deinen Stinkern kannst du es doch sagen!“, versuchte Pia die Antwort aus ihr herauszulocken, doch die Capträgerin blieb hart, „Nein, manche Sachen sind eben auch für euch geheim. Ihr seht noch früh genug um was es geht. Ich muss jetzt noch was erledigen. Wir quatschen später nochmal!“
Hanna spürte wie das Gewicht von ihrer Lehne glitt und sie blickte Jess vorsichtig nach. Diese war schon wieder im nächsten Gespräch verwickelt. Sie kam Hanna vor wie ein Rockstar, den jeder kannte und der bei allen beliebt war. Vom Aussehen her hätte dieser Vergleich sogar ein wenig gepasst. Kaum war die sagenumwobene Jess vom Tisch verschwunden, verflog der Zauber rund um ihre Person auch schon wieder und die Mädchen begannen aufs Neue zu quasseln. Hanna nahm an diesen Unterhaltungen jedoch nicht teil, sondern blickte immer noch zu Jess.
„Vergiss es!“, flüsterte Vanny ihr auf einmal zu und Hanna wandte sich erschrocken um, „Hm?“
Vanny deutete mit ihrem Kopf zum dem vermeintlichen Rockstar und zwinkerte.
„Was?“, fragte Hanna lächelnd und versuchte eine unschuldige Miene aufzusetzen, doch sie wusste genau, dass Vanny sie dabei ertappt hatte, wie sie Jess nach gesehen hatte.
„Ach komm!“
Hanna versuchte immer noch so zu wirken, als hätte sie keine Ahnung auf was Vanny hinaus möchte, doch diese grinste sie nur eindringlich an, „Glaub mir, an der haben sich schon einige die Zähne ausgebissen. Also vergiss es lieber. Nur so als Ratschlag.“ Danach mischte sie sich wieder in das Geplauder der Anderen ein und Hanna widerstand dem Drang noch einmal zu dem Mädchen mit den Saphiraugen zu spähen.

Das Bier machte sich bemerkbar und sie fragte Charly wo die Toilette sei. Der Weg dorthin führte sie wieder an der Bar vorbei und mit Unbehagen bemerkte sie, dass die tätowierte Dame von vorhin sie erneut musterte. Sie spürte wie ihr Blick ihr folgte, als Hanna an ihr vorbei huschte und sie hoffte inständig, dass diese Frau sie nicht noch im Laufe des Abends ansprechen würde. Hanna schritt zügig durch einen großen Türrahmen und bog nach links zur Toilette.
Drinnen angekommen ließ sie sich erst mal mit dem Rücken gegen die Tür fallen und atmete tief durch. Sie schloss die Augen und dachte nach. All diese Mädchen waren aus demselben Grund hier. Weil sie auf Mädchen standen. Hanna dachte immer, sie wäre die Einzige in der Stadt, die so fühlt und ohne es zu merken, machte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breit. Schon nach dieser kurzen Zeit freute sie sich, dass sie hierhergekommen war. Ihr Wohlbefinden wurde jäh durch den stechenden Druck auf ihrer Blase zerstört und sie öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf die Ablage hinter dem Spülkasten und sie staunte nicht schlecht, als sie die dort duzende Packungen Tampons und Binden entdeckte. „Läuft…“, murmelte Hanna leise. Ihre Periode war gerade erst zu Ende gegangen, aber es war gut zu wissen, dass man hier im Fall der Fälle versorgt war. Nachdem sie sich ihre Hände gewaschen hatte, betrachtete sie sich im Spiegel über dem Waschbecken. Wieder hingen ihr ein paar hellbraune Haaren in ihrem ovalen Gesicht und ihr Dutt saß leicht schief auf dem offenen Schopf. Sie zog und rückte ihn zurecht und strich sich anschließend die Strähnen aus dem Gesicht. Danach wischte sie sich die leicht verlaufene Schminke unter den Augen weg und atmete noch einmal tief durch. Ja doch, sie sah einigermaßen annehmbar aus.
Erleichterung machte sich in ihr breit, als sie die tätowierte Dame auf dem Rückweg nicht mehr an der Bar sitzen sah. Als sie um die Ecke bog blieb sie jedoch abrupt stehen, denn der Tisch den sie vorfand war leer. Nicht einmal ihre Flasche stand mehr dort. Hanna blickte sich leicht verwundert um, doch nirgendwo konnte sie Charly oder jemand anderen von der Gruppe entdecken. Sie runzelte die Stirn und zückte ihr Handy, aber Charly hatte ihr keine Nachricht gesendet. Sie konnte sie doch nicht einfach so alleine lassen! Hanna trat leicht ratlos umher, als auf einmal jemand rief, „Charly und die Anderen sind hoch gegangen!“
Hanna wirbelte herum und sah, dass die Barkeeperin sie anlächelte.
„Ahh okay... und was genau meinst du mit hoch?“
„Rauf aufs Dach!“, antwortete die Rothaarige. Hanna bemerkte, dass auch diese einen Stecker unterhalb am Mund hatte, genau wie Jess.
„Aufs Dach? Da kann man rauf?“, fragte Hanna verdutzt.
„Ja. Hat dir Charly das noch gar nicht gezeigt?“
Hanna schüttelte nur unwissend den Kopf.
„So Eine! Das ist das Beste an unserem ganzen LLoft!“, erklärte die Dame begeistert.
„LLoft?“, fragte Hanna verwirrt.
„Ja, so heißt dieses Ding hier. Das LLoft, Lesbian Loft. Uns ist nichts Besseres eingefallen!“, lachte Rosalie verlegen. „Du musst einfach nur die letzte Treppe hoch und dann kannst du gar nicht mehr aus!“
„Okay, dann schau ich mal rauf! Danke für die Auskunft!“, sagte Hanna und schnappte sich ihren olivfarbenen Parka, den Charly über ihre Stuhllehne gelegt hatte. Die Barkeeperin beobachtete sie, während sie ihn anzog und sagte auf einmal, „Du bist neu hier oder?“
Hanna richtete sich die Kapuze und lächelte verlegen, „Ja, ich bin zum ersten Mal da.“
Die Dame streckte ihr freudig die Hand über die Theke hinweg entgegen, „Coole Sache! Ich heiße Rosalie und bin hier die Barkeeperin.“
Hanna schüttelte ihr die Hand, „Hi, ich bin Hanna, ohne H am Ende!“
Und sie tat es schon wieder.
„Das ist aber ein schöner Name!“
Sagt die, die wie eine Blume heißt, dachte sich Hanna und sagte nur „Dankeschön!“
Rosalie schaute sie lächelnd an und Hanna fiel auf, dass sie etwas unglaublich Warmes und Gütiges in ihren Augen hatte.
„Also ich geh mal hoch!“, unterbrach Hanna den Moment der Stille und hob die Hand.
Rosalie nickte nur, „Ja tu das!“

Im Treppenhaus war es um einige Grad kälter als in dieser Wohnung, oder wie auch immer Hanna das nennen sollte, wo sie gerade herkam. Vorhin war ihr gar nicht aufgefallen, dass es noch eine weitere Treppe gab, die nach ganz oben führte. Kaum hatte sie die ersten Marmorstufen davon erklommen, hörte sie Stimmen von oben und nur wenige Sekunden später bogen zwei Mädchen um die Ecke. Wieder machte Hannas Herz einen kleinen Hüpfer, als sie erkannte, dass Jess eine der Beiden war. Die Andere war die Blondine mit dem Under-Cut mit der Jess vorhin am Tisch gequatscht hatte. Hanna wusste nicht ob es vielleicht an dem Licht im Treppenhaus lag, aber die hellblonde Dame wirkte etwas blass im Gesicht. Sie machte den Eindruck, wegen irgendetwas äußert nervös und angespannt zu sein und sich gleich übergeben zu müssen. Hanna war am überlegen, ob sie die Zwei grüßen sollte, doch diese schienen sie nicht einmal zu bemerken als sie an ihr vorbei gingen.
„Und was ist wenn es total in die Hose geht?“, sagte das blonde Gespenst mit schriller Stimme.
„Das wird es nicht! Es wird super laufen Helen!“, ermutigte Jess sie und klopfte ihr auf die Schulter. Ihre Gesprächspartnerin musste sich jedoch am Geländer festhalten, da sie vor Nervosität etwas wackelig auf den Beinen unterwegs war. Hanna spähte ihnen aus dem Augenwinkel nach, als sie am oberen Treppenende angelangt war und sah, dass sie anscheinend runter zum Eingang des Hauses gingen.
Sie bog um die Ecke und stutzte kurz, als sie nur noch einen Notausgang vor sich sah. Da konnte sie doch bestimmt nicht raus, ohne dass irgendein Alarm losgehen würde? Aber Rosalie hatte ja gesagt, sobald sie oben wäre, könne sie nicht mehr aus. Und da war weit und breit kein anderer Ausgang als dieser. Hanna schob ihre Hände wieder in die Jackentaschen und steuerte unsicher darauf zu. Als sie näher kam, konnte sie durch das Glas erkennen, dass ein paar Mädchen auf dem Absatz vor der Türe saßen. Es war also doch legal diesen Ausgang zu benutzen. Sie hatte etwas Mühe die Tür zu öffnen, denn diese war schwerer als sie aussah. Die kalte Abendluft schlug ihr ins Gesicht und sie spürte wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Sie war auf einer Dachterrasse gelandet, auf der hier und dort vereinzelt ein paar kleine runde Tische mit Stühlen drum herum standen. Das einzige Licht kam hier von einer Leuchtröhre über der Tür. Zu ihren Füßen saßen Charly, Vanny, Becky und Pia, allesamt mit ihren Flaschen und einer Zigarette in der Hand. Etwa zwei Meter abseits von ihnen entfernt, hatten sich Emma und Nicki zusammen gekuschelt und blickten in die dunkle Nacht.
„Da seid ihr ja! Ihr könnt doch nicht einfach so abhauen ohne mir Bescheid zu sagen! Ich kenn mich hier doch noch gar nicht aus!“, beschwerte sich Hanna gespielt sauer.
Charly paffte aus, „Ich hab Rosalie doch gebeten, dass sie dir sagen soll wo wir sind!“
„Das hat sie auch, sonst wäre ich jetzt ja nicht hier!“
„Also ist doch alles gut!“, grinste Charly, „Ich hab übrigens dein Bier mitgenommen!“
„Trotzdem!“, beharrte Hanna mit einem Anflug von Lachen in der Stimme, und nahm ihre Flasche, „Danke! Was macht ihr hier eigentlich?“
„Rauchen und über die unendliche Weite der Galaxie philosophieren. Aber in erster Linie rauchen.“, erklärte Vanny vom Boden her.
Hanna lachte, „Das mit dem Rauchen ist keine schlechte Idee!“ Sie kramte eine Marlboro Schachtel aus ihrer linken Jackentasche und fischte sich einen Glimmstängel heraus, „Hat jemand von euch Feuer?“
Becky zückte augenblicklich ihr rosanes Feuerzeug und hielt es Hanna hin. „Dankeschön!“
„Sie trinkt und sie raucht. Dieses Mädchen gefällt mir immer besser!“, kommentierte Vanny grinsend, während Hanna sich die Zigarette anzündete. Diese lächelte nur bedacht und nahm einen kräftigen Zug ihres kleinen Nikotinstängels. Genüsslich paffte sie den Rauch in den Nachthimmel und erst jetzt bemerkte sie, was für eine Kulisse sich vor ihr erstreckte. Von hier oben hatte man einen guten Überblick über das Viertel. Hier reihten sich Altbauten und moderne Gebäude aneinander. In der Ferne erkannte Hanna große Bürogebäude, die wie gewaltige Christbäume die Nacht erleuchteten. Baukräne ragten auf westlicher Seite wie groteske Figuren in den dunklen Himmel. In dieser Gegend wurde so gut wie immer irgendein neues Gebäude hochgezogen oder umgebaut. In östlicher Richtung, etwa zwanzig Minuten von hier, lag die Innenstadt. Mit ihren Einkaufspassagen, den alten Bauten und ein paar Grünanlagen, war sie ein beliebtes Ziel für viele Touristen. Miri und sie hielten sich auch oft dort auf, allerdings nicht aus kulturellem Anlass, sondern meistens wenn sie mal wieder auf einer ganztätigen Shoppingtour unterwegs waren. Hanna war überwältigt von dem Lichter- und Dächermeer, das sich vor ihr erstreckte „Wow, was für ein Ausblick!“
Die Anderen nickten nur zustimmend. Hanna nahm einen weiteren Zug und reckte dann den Kopf gen Himmel. Ein Hubschrauber flog gerade über sie hinweg und mit zugekniffenen Augen erspähte Hanna fünf Sterne, die in dieser klaren Nacht auf die Mädchen herab leuchteten, „Und den Sternenhimmel sieht man hier auch! Fantastisch!“

„Die Sterne, die begehrt man nicht, man freut sich ihrer Pracht und mit Entzücken blickt man auf in jeder heitern Nacht“, philosophierte Charly auf einmal von unten her und Vanny wandte sich genervt zu ihr um, „Warum musst du immer solche komischen Zitate bringen?“
„Weil ich es kann!“, entgegnete diese und die Piercingträgerin wusste nicht, was sie darauf antworten sollte und zog an ihrem Glimmstängel.
„Dürft ihr hier überhaupt rauf?“, fragte Hanna und blickte immer noch begeistert auf das Panorama.
„Ja schon. Die Angestellten von den ganzen Arztpraxen und was hier sonst noch so untergebracht ist, gehen in ihren Mittagspausen auch immer hier rauf.“ erklärte Charly und Hanna nahm einen weiteren Zug. Pia streckte ihre Hand nach Vannys Bier aus, „Gib mal einen Schluck!
Die schwarzhaarige Butch schob ihr die Flasche hin und Becky schaute streng drein, „Uhh, pass bloß auf Pia, nicht, dass Rosalie dich erwischt!“
Pia wischte sich genervt den Mund mit dem Handrücken, „Ach, die soll sich mal nicht so anstellen mit dem Jugendschutzgesetz! In ein paar Monaten bin ich eh sechszehn!“
Dass Pia noch so jung war überraschte Hanna. Sie fand es bemerkenswert, dass diese mit fünfzehn schon den Mut hatte hierher zu kommen. Hanna hätte sich das in dem Alter noch nicht getraut. Vanny, die ihre Bierflasche wieder zurück erobert hatte, spähte zu Emma und Nicki herüber. Emma hatte ihren Arm um Nickis Schulter gelegt und Beide küssten sich verliebt. Nicki strich ihrer Freundin sanft über die Wange, und deren Lippen formten sich zu einem liebevollen Lächeln.
„Ihr immer mit eurer Scheiß Liebe da drüben!“, pöbelte Vanny das verliebte Pärchen an. Dieses wandte sich synchron zu ihr um und fing an zu grinsen. Um Vanny zu provozieren küssten sie sich erneut, übertrieben sinnlich und innig. Ihre Münder hatten etwas von zwei aneinander klebenden Bonbons, die man nicht mehr auseinander brachte.
„Ihr seid so ätzend!“, beschwerte sich die Piercingträgerin und wandte sich wieder den partnerlosen Anwesenden zu.
„Also ich find die Zwei süß.“, sagte Hanna glücklich.
Mit dem Anflug eines Lächelns gab Vanny zu „Sie sind zum Kotzen süß. Das ist ja das Problem!“ Hanna konnte in Vannys Augen so etwas wie Neid, oder besser gesagt Sehnsucht erkennen und sie fragte, „Wie lange sind die zwei schon zusammen?“
„Seit drei Jahren.“, antwortete Charly und blickte ebenfalls zu den Beiden.
„Und sie sind immer noch so verliebt wie am ersten Tag. Das ist so krass!“, murmelte Becky, deren dunkle Knopfaugen mittlerweile ebenfalls den Weg zu den Beiden gefunden hatten.
„Wow!“, war das Einzige, was Hanna herausbrachte. In der heutigen Zeit fand sie drei Jahre für so ein junges Pärchen durchaus eine Leistung. Vor allem, wenn sie an ein paar Leute aus ihrem Bekanntenkreis dachte, die ihre Partner wechselten, wie andere ihre Unterhosen.
Genau in diesem Moment erhob sich das Traumpaar und schritt Händchen haltend Richtung Tür, „Wir gehen mal wieder runter zu den Anderen!“, sagte Emma. Die anderen nickten nur, als wollten sie damit bestätigen, dass ihr Abgang genehmigt wäre. Als die schwere Türe langsam hinter den Turteltauben zu fiel, ließ Vanny einen traurigen Seufzer von sich, „Ich will auch mal wieder eine Freundin!“
„Was heißt hier mal wieder? Endlich mal!“, nörgelte Pia, „Ihr hattet immerhin schon alle mal eine!“
Becky räusperte sich mit hochgezogenen Augenbrauen, „Nein?“
„Ja okay nicht alle, aber die meisten!“, verbesserte sich Pia und wandte sich an Hanna, „Hast du eine Freundin?“
Im ersten Moment fühlte diese sich gar nicht angesprochen, weil ihr noch nie jemand diese Frage gestellt hatte. Für sie war es schon komisch genug, wenn man sie nach einem Freund fragte. Die Vorstellung eine feste Beziehung mit einem Mädchen zu führen schien ihr deshalb noch mehr als eine Millionen Lichtjahre entfernt. Pias graue Augen, die sie von unten her stur anstarrten, ließen jedoch nicht von ihr ab und sie antwortete, „Nein, habe ich nicht.“
„Aha, also auch ein Single!“, grinste Pia sie an.
Hanna nickte zustimmend und dachte sie hat das Schlimmste hinter sich, doch da hatte sie die Rechnung ohne die pfiffige Blondine gemacht, denn diese fragte nur einen Wimpernschlag später, „Was bist du eigentlich?“
„Wie meinst du?“, fragte Hanna verwirrt und runzelte die Stirn.
„Na, bist du lesbisch, bi, straight, eigentlich ein Junge?“
Das Mädchen in dem Parka verschluckte sich vor Lachen und musste heftig husten. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und spürte wie ihre Augen feucht wurden. Im ersten Moment musste sie wirklich lachen, dann aber versuchte sie damit ihre Unsicherheit zu überspielen. Da war sie also, die Frage, mit der Hanna schon die ganze Zeit gerechnet hatte. Nachdem sich ihre Lungen wieder beruhigt hatten, gab sie fast schon zu, „Ich bin lesbisch!“
Es klang, als hätte jemand Fremdes in einiger Entfernung diese Worte gesagt, doch es war sie selbst gewesen. Es waren nur drei kleine Worte, in einer Sprache, die sie schon seit ihrer Kindheit beherrschte, doch trotzdem war es so verdammt schwer sie über die Lippen zu bringen. Das war das zweite Mal, dass sie diese Worte laut ausgesprochen hatte. Das erste Mal war, als sie sich bei Miri outete. In der Vergangenheit konnte sie ihrer besten Freundin immer alles problemlos sagen, aber bei diesen drei Worten, hatte sie damals einen Knoten in der Zunge gehabt. Für Hanna war es schwer genug gewesen, sich selbst einzugestehen, dass sie lesbisch war, aber das nun auszusprechen, und das auch vor Fremden, das war noch schwerer. Und es würde bestimmt noch einige Zeit dauern, bis es leichter werden würde.
„Interessant!“, nickte Pia interessiert.
„Und ihr so? Charly ist bi, das weiß ich, aber der Rest von euch?“, wollte Hanna im Gegenzug wissen.
„Gay!“, antwortete Pia stolz und klopfte sich auf die Brust.
Becky fuselte sich konzentriert den Haargummi aus ihrer Mähne, „Ich find Mädels zwar interessant, bin aber nicht ganz sicher ob ich wirklich bi bin, deswegen würde ich mich jetzt mal in die Sparte neugierig stecken.“
„Ich bin auch lesbisch! “, antwortete Vanny.
Pia erhob sich plötzlich, und strich sich ihre karierte Short zu Recht, „Kurz, wir mögen alle Brüste! Mir wird’s ein bisschen zu frisch hier oben, kommt irgendwer mit rein?“
Charly paffte aus, „Selbst Schuld wenn du bei den Temperaturen noch mit T-Shirt und kurzer Hose rumläufst!“
Die Skaterin verdrehte genervt die Augen, „Kommt jetzt jemand mit oder nicht?“
Die vier Anderen blickten sich an und schüttelten die Köpfe.
"Okay dann gehe ich halt alleine runter!", nörgelte Pia und verabschiedete sich.
Hanna nahm Pias Platz im Sitzkreis ein und für einen Moment herrschte Stille.
„Gib mir auch mal einen Schluck von dem Bier!“, unterbrach Becky diese und stibitzte Charly ihre Flasche aus der Hand.
„Hey Becky nein! Das darfst du nicht!“, brüllte diese sofort.
„Warum nicht? Ist sie auch noch zu jung?“, scherzte Hanna.
„Nein, das nicht, aber Alkohol sollten nur die Leute trinken, die ihn auch vertragen!“, belehrte Charly und hob moralisch den Zeigefinger.
Becky ließ mit einem empörten Blick die Flasche sinken, „Hey! Ich vertrage Alkohol!“
Die rothaarige Brillenträgerin blickte sie streng an, so wie einen die besten Freunde anschauen, wenn sie genau wissen, wie sehr man in eine Person verliebt ist, aber immer noch versucht es zu leugnen. Becky ließ sich von diesem Blick leicht einschüchtern und gab zu „Vielleicht nicht unbedingt immer in den Mengen die ich gelegentlich zu mir nehme, aber so generell schon!“
„Gelegentlich?!“, lachte Vanny, „Du bist auf fast jeder Party stockbesoffen!“
„Das stimmt doch gar nicht!“, entgegnete Becky.
„Oh, und wie das stimmt! Und dann knutscht du auch noch immer mit allmöglichen Leuten rum, die du gar nicht kennst!“, setzte Vanny noch einen drauf.
Becky sah ein, dass es keinen Sinn mehr machte, ihre gelegentlichen Alkoholeskapaden zu leugnen oder schön zu reden und murmelte nur leise, „Hallo! Jetzt hör auf! Hanna kriegt noch total den falschen Eindruck von mir!“
„Nein, sie erfährt nur die Wahrheit über dich!“, korrigierte Vanny mahnend und Hanna musste sich ihr Grinsen verkneifen.
„Wie war es eigentlich letztens auf deiner Familienfeier Vanny?“, wechselte Charly das Thema.
Diese lachte auf und blickte zu Boden, „Nett. Das Essen war fantastisch. Es war cool mal wieder meine Cousins und Cousinen zu sehen und meine eine Oma redet immer noch nicht wieder mit mir.“
„Oh man…“, jammerte Charly nur und schüttelte den Kopf.
Hanna blickte Vanny fragend an, „Warum redet sie nicht mehr mit dir?“
Vanny fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe, „Naja seitdem ich mich vor einiger Zeit bei ihr geoutet habe, bin ich für sie mehr oder weniger gestorben.“
Die grünen Augen von Vanny, die vorher lebhaft gestrahlt hatten, waren nun matt und leer als sie Hanna ansahen „Was? Im Ernst? Warum?“, entgegnete diese bedrückt.
Vanny formte ihre Mundwinkel kurz zu einem traurigen Lächeln „Meine Oma ist sehr konservativ und altmodisch eingestellt musst du wissen. Christlich noch dazu. Ich hatte immer Angst, es ihr zu sagen, weil ich schon befürchtet habe, dass sie sehr abgeneigt sein wird. Allerdings hatte ich die Hoffnung, dass es vielleicht doch nicht ganz so schlimm wird, weil ich ja ihre Enkelin bin. Pustekuchen. Ihr ist fast das Gebiss rausgefallen, als ich es ihr gesagt hab.“
„Wie genau hat sie reagiert?“, wollte Hanna wissen und Vanny fuhr fort, „Wenn man sich outet kommt doch oft der Satz, das ist doch nur eine Phase, stimmt‘s? Meine Oma hat diesen Teil gleich komplett ausgelassen und hat sofort gemeint, es ist eine Krankheit und ich solle doch eine Therapie beginnen um wieder gesund zu werden.“
Hanna starrte sie nur sprachlos an.
„Ich habe ihr gesagt, dass es keine Krankheit ist, sondern dass ich eben so bin, dass ich eben Frauen liebe. Sie meinte, so lange dass so ist, wird sie kein Wort mehr mit mir wechseln. Ich glaube, sie wollte mich damit in gewisser Weise erpressen, denn sie weiß, dass ich sie sehr gern hab und mich somit zwingen meine Homosexualität abzulegen um weiterhin in Kontakt mit meiner lieben Omi bleiben zu können. Tja, da hat sie aber falsch gedacht.“
„Das tut mir total leid!“, flüsterte Hanna nur und auch Charly und Becky wussten nicht so recht, was sie dem hinzufügen sollten. Auf Hanna hatte Vanny im ersten Moment sehr selbstbewusst und in gewisser Weise bedrohlich gewirkt, aber jetzt saß sie da wie ein schwaches, trauriges Häufchen Elend. Ob sie sich jemals bei ihren Großeltern outen würde, wusste Hanna noch nicht. Zunächst einmal musste sie ihren Eltern beibringen, dass sie wohl irgendwann eine Frau und keinen Mann heiraten würde.
„Muss es nicht. Natürlich tut es weh, wenn jemand von deinen Verwandten so reagiert, aber andererseits brauche ich auch niemandem in meiner Familie, der mich nicht so akzeptiert wie ich bin.“, schloss Vanny und spülte mit einem Schluck Bier ihren Schmerz herunter, „Aber das ist ja nur die eine Oma. Meine Andere ist total tolerant, was das Thema betrifft. Ihr ist es egal in wen oder was ich mich verliebe, solange ich glücklich bin. Denn das ist das was sie für mich will, dass ich glücklich bin.“ Vanny lächelte Hanna ermutigend an, wie sehr sie ihre Geschichte mitgenommen hatte.
„Diese Oma mag ich definitiv mehr!“, scherzte Charly.
Vanny nickte ihr zu. Im selben Moment wurde hinter ihnen die Tür aufgestoßen und Pia klammerte sich erschöpft an der Klinke fest, „Leute, kommt schnell runter! Das müsst ihr sehen!“, keuchte sie vollkommen aus der Puste.
„Hat es was mit Freibier zu tun?“, wollte Vanny wissen.
„Was? Nein!“, entgegnete Pia verwirrt.
„Dann muss ich es auch nicht sehen!“, erwiderte Vanny und drückte ihren Klimmstängel auf dem Steinboden aus.
„Doch musst du! Ich glaube Helen will Rosalie einen Antrag machen!“, sagte Pia und vor Aufregung quollen ihr schon fast die Augen aus dem Kopf.
Die anderen Vier wandten sich mit versteinerten Mienen einander zu. Nur eine Sekunde später sprangen sie auf und stürmten gemeinsam mit Pia ins Treppenhaus.

Dort war Musik zu hören, allerdings nicht die aus der Wohnung, die man nur lauter gedreht hatte. Es klang vielmehr wie Live-Musik. Die fünf Mädchen rauschten die Treppenstufen hinunter, so schnell waren sie unterwegs. Hanna stütze sich sicherheitshalber am Geländer fest, während Pia und Vanny jeweils ab der Hälfte der Treppe heruntersprangen.
„Da geht ja voll der Punk ab!“, brüllte Vanny in der Luft.
„Ja! Das müsst ihr unbedingt sehen, was die da grad abziehen!“, rief Pia freudestrahlend.
Die Mädels eilten durch die Regenbogenpforte und sie staunten nicht schlecht, als sie sahen was in der Wohnung abging. Rosalie stand mit den Händen vor dem Mund vor der Bar und ihr Gesicht war schon fast so rot wie ihre Haare. Helen stand vor ihr, ein Mikrofon in der Hand und sie sang mit voller Leidenschaft und einer unglaublich schönen, sanften Stimme. Es dauerte ein paar Sekunden, dann erkannten die Mädchen, dass es sich bei dem Lied um „Marry me“ von Bruno Mars handelte. Helen sang den Song nicht nur, sie lebte ihn. Und sie sang ihn nicht nur mit der Stimme, nein, sie sang ihn mit ihrem Herzen. Hinter Helen standen vier Leute, die ihr die Band machten: Zwei junge Damen, die Background sangen, ein gutaussehender Mann mit südländischem Touch, der auf einem Cajón trommelte und ebenfalls mitsang und Jess, die Helen mit der Gitarre begleitete. Alle übrigen Gäste hatten sich von ihren Tischen erhoben und klatschten und sangen begeistert mit. Vorhin hatte Helen noch den Eindruck gemacht, als würde sie keinen einzigen Ton herausbringen können und nun sang sie mit einer solch kraftvollen Stimme, die den ganzen Raum erfüllte. Der Mann auf dem Kasten hatte die Augen geschlossen und fühlte den Rhythmus. Auch die vier Mädchen sangen leise mit und Hannas Blick wanderte zu Jess. Ihre Gitarre glänzte genau so schwarz wie ihre Haare und ihre geschmeidigen Finger glitten so sanft über die Saiten, als würde sie diese streicheln. Es war, als wäre sie Eins mit dem Instrument. Eigentlich war es klar gewesen, dass Jess Gitarre spielte, dachte Hanna. Keine Ahnung warum, aber irgendwie war es einfach klar gewesen. Sie wippte mit ihrem Bein im Takt und obwohl sie nicht als Backgroundstimme agierte, bewegten sich ihre Lippen und sie sang das Lied für sich selbst mit. Der Vergleich mit einem Rockstar, war nun noch passender. Der eigentliche Star des Auftritts war Helen, doch Hanna konnte ihren Blick nicht von der Gitarristin mit der Cap lassen. Alles um sie herum blendete sich aus und sie sah nur noch Jess und ihre schwarze Gitarre. Sie war von diesem Anblick schlicht und einfach verzaubert und sie empfand ein Kribbeln im Bauch, als sie sah, wie sich Jess lächelnd auf die Unterlippe biss.
„Das ist so cool!“, kreischte Becky den Anderen zu und hüpfte freudig auf und ab.
Den letzten Ton sang Helen mit besonders viel Gefühl, aber mit einem leichten Zittern in der Stimme. Die Band verstummte und riesiger Applaus brach aus. Die hellbonde Leadsängerin fuhr sich nervös durchs Haar und gab ihr Mikrofon an Jess ab. Sie atmete tief durch und trat auf Rosalie zu, die mittlerweile schon Tränen in den Augen hatte.
„Oh Gott das ist so spannend!“, flüsterte Pia und klammerte sich an Charly fest.
„Psst!“, machte diese nur.
Helen griff nach den Händen ihrer Freundin und schaute ihr tief in die blauen Augen. „
„Rosalie“, begann sie, wieder mit dieser dünnen, zittrigen Stimme, die das genaue Gegenteil zu dem kraftvollen Organ darstellte, mit dem sie gerade performed hatte, „es kommt mir wie gestern vor, als wir uns hier das erste Mal gesehen haben. Du trugst dein knielanges nachtblaues Kleid und nach nur wenigen Minuten war es um mich geschehen. Ich habe all meinen Mut zusammen genommen als ich auf dich zu ging um mich vorzustellen. Auf dem Weg zur dir bin ich allerdings fast hingeflogen, weil meine Schnürsenkel aufgegangen waren. Das war so peinlich!“
Ein paar der Anwesenden kicherten leise und Rosalie schmunzeln kurz.
„ Und nun sieh uns an, seit acht Jahren sind wir glücklich zusammen und ich verliebe mich jeden Tag aufs Neue in dich. Jeden Tag ein bisschen mehr. Deine Augen, deine Stimme, dein Lächeln, das ist Alles was ich brauche um glücklich zu sein. Du machst mich vollkommen. Es heißt, für jeden Menschen gibt es da draußen einen Seelenverwandten. Du bist meiner. Doch du bist nicht nur meine Seelenverwandte, du bist auch die Liebe meines Lebens. Und deshalb wollte ich dich fragen, ob du mir die Ehre erweisen würdest den Rest meines Lebens an meiner Seite zu verbringen.“
Helen ging in die Knie und Pia wippte aufgeregt hin und her während sie über beide Ohren grinste, „Ich hab es euch doch gesagt! Ich hab es euch doch gesagt!“
Für einen Moment verharrte Helen in ihrer Pose und blickte zu Rosalie auf, „Rosalie Chloé Peters, möchtest du meine Frau werden?“
Der ganze Raum hielt gebannt den Atem an. Man hätte eine Stecknadel fallen lassen können und man hätte meinen können, es wäre eine Bombe gewesen.
Über Rosalies Wangen liefen plötzlich Tränen und sie wollte antworten, doch beim ersten Mal kam nur ein unverständlicher Ton heraus. Dann aber sagte sie mit tränenerstickter Stimme, „Ja! Ja ich will!“
Zu ihren Füßen starrte Helen sie nur perplex an, und murmelte ungläubig, „Sie hat ja gesagt…“ Erst im nächsten Moment realisierte sie Rosalies Antwort wirklich und brüllte freudestrahlend los, „Sie hat ja gesagt!“
Helen sprang auf und schlang die Arme so fest um Rosalie, dass man befürchtete, sie würde ihr etwas brechen. Die Beiden küssten sich und in der ganzen Wohnung brach Jubel aus. Der Drummer trommelte auf seinem Kasten, während alle anderen klatschten und begeistert pfiffen. Becky, die vor Freude auch schon Tränen in den Augen hatte, wischte sich diese weg und quiekte, „Das ist so süß!“
Auf einmal wurde Hanna von Charly durchgeschüttelt, die ebenfalls aus dem Häuschen war, „Ahh das ist so cool! Du bist das erste Mal da und dann passiert gleich sowas!“
Hanna musste lachen und sie tätschelte Charly beruhigend den Arm, den sie um ihren Hals geschlungen hatte. Sie hatte ein wenig Angst, dass der Simple-Plan Fan sie aus lauter Euphorie noch erwürgen würde. Hanna blickte umher: Immer noch jubelten alle und freuten sich mit den Beiden. Emma und Nicki, die ein paar Meter abseits standen küssten sich ebenfalls verliebt. Vielleicht dachten sie gerade daran, wie es sein würde, wenn sie mal heiraten würden. Auch Jess applaudierte lächelnd und eine der beiden Backgroundsängerinnen flüsterte ihr etwas ins Ohr. Plötzlich zuckte Hanna zusammen, als sie in der hinteren Reihe auf der linken Seite ihre tätowierte Stalkerin entdeckte. Doch diesmal hatte diese ihre Augen nicht auf sie gerichtet, sondern genauso wie alle anderen auf das zukünftige Brautpaar. Hanna fiel wieder ein, was Vanny ihr vorhin über ihre Oma erzählte hatte. Sie schaute erneut zu Rosalie und Helen, die ihrer Freundin die Tränen von den Wangen wischte. Wie konnten solche Gefühle nur falsch sein? Wie konnte man nur von der eigenen Familie verurteilt oder gar verstoßen werden, nur weil man jemanden von ganzem Herzen liebt? Hanna konnte das nicht verstehen. Helen, die immer noch die Hand von Rosalie hielt wandte sich mit einer etwas kräftigeren Stimme an die Übrigen und brüllte, „Die nächste Runde geht auf mich!“
„Ha!“, kreischte Vanny glücklich, und riss die Faust in die Luft „jetzt bekomm ich doch noch mein Freibier!“
Da der Tisch in der Ecke besetzt war, nahmen Hanna, Becky, Vanny, Charly und Pia an der Bar Platz. Hanna spähte immer wieder zu Jess hinüber, die dem verlobten Paar mittlerweile auch ihre Glückwünsche ausgesprochen hatte und nun fröhlich mit ihnen quatschte. Ihr Instrument hatte sie in eine Gitarrentasche gepackt und in eine Ecke gestellt.

Gegen neun Uhr packte Pia ihre Sachen und machte sich auf den Heimweg. Da sie noch minderjährig war, bestanden ihre Eltern darauf, dass sie unter der Woche spätestens um halb zehn zu Hause war. Hanna wäre am liebsten bis in die frühen Morgenstunden geblieben, doch als die Uhr auf die Zehn zu ging, erinnerte sie ihr Gewissen daran, dass sie morgen wieder um sechs aufstehen musste und die Bücher für ihre Hausaufgaben noch nicht einmal angerührt hatte. Zu ihrer Freude beschlossen auch Charly, Vanny und Becky den Heimweg an zu treten.
In der Wohnung war es deutlich leerer geworden. Auf dem Weg zur Tür blickte sich Hanna um, doch diese eine besondere Capträgerin konnte sie nirgends sehen. Auch ihre Gitarrentasche stand nicht mehr in der Ecke. Vermutlich hatte sie auch schon die Düse gemacht.
Draußen war es noch einen Ticken kälter geworden und leichter Nieselregen dämmerte das Licht der Straßenlaternen. Die vier Mädchen traten gemeinsam zu der Stelle, an der Charly vorhin auf die Neue gewartet hatte.
„Also dann. Ich muss da lang!“, sagte Hanna, die sich in ihren Parka eingemummelt hatte und deutete mit dem Kopf hinter sich.
„Wo genau musst du hin?“, fragte Vanny.
„Zur U4 Richtung Stadtauswärts.“
„Dann kannst du auch mit uns mitkommen!“, antwortete Charly, die ihren Regenschirm ausgepackt hatte, für den Fall, dass der Niesel sich wie vorhin zu einem Platzregen entwickeln würde, „Wir gehen zu einer anderen Station, da fährt die U4 aber auch. Der Weg ist nur zehn Minuten länger!“
Hanna überlegte einen Moment ehe Vanny grinsend hinzu fügte, „Das heißt, zehn Minuten länger mit uns!“
„Haha okay, überredet!“, sagte Hanna und die vier Mädchen schlenderten gemeinsam los in die andere Richtung. Nachdem der Trupp um ein paar Ecken gebogen und ein paar Straßen weiter gelaufen war, kannte sich Hanna schon nicht mehr aus. In diesem Stadtviertel war sie noch nie gewesen, zumindest nicht bewusst. Während die anderen sich angeregt über die bevorstehende Hochzeit unterhielten, versuchte Hanna herauszufinden, wo genau sie sich hier befanden. Sie gingen durch eine Passage mit vielen kleinen, auffälligen Cafés und Restaurants, in denen es sich schick und vor allem individuell gekleidete Leute gut gehen ließen. Hier und dort kamen sie an einem Friseur, einem Lebensmittelgeschäft oder einem kleinen Stadthotel vorbei und auch das ein oder andere Spielcasino passierten sie. Die verschieden farbigen Reklamen und Schilder der einzelnen Geschäfte erleuchtete die Straße und den Gehweg und Hanna erinnerte dieses bunte Wirrwarr ein ganz klein wenig an Las Vegas. Als sie an einem kleinen Café vorbei kamen, fiel ihr an der linken unteren Ecke der eleganten Eingangstür eine Regenbogenflagge auf und in ihrem Gehirn machte es Klick.
„Warst du schon einmal hier im Szeneviertel?“, fragte Charly genau im selben Moment.
Hanna schüttelte den Kopf, „Nein.“
„Wir müssen dich unbedingt mal mit ins King’s n‘ Queens nehmen! Das ist die beste Bar die es hier gibt!“, sagte Becky begeistert.
„Okay ich komme gerne mit!“, stimmte Hanna zu.
Becky nickte zufrieden und wechselte dann das Thema, „Also noch mal zu vorhin!
Glaubt ihr wir sind zu Helen und Rosalies Hochzeit eingeladen?“
„So ein Quatsch, so gut kennen wir die zwei ja auch nicht!“, erklärte Charly.
Vanny legte einen Arm auf Becky’s Schulter und sagte in fiesem Ton, „Außerdem, dich würde eh niemand auf seiner Hochzeit wollen!“
Becky haute Vanny eine runter und brüllte, „Jetzt hör auf immer so gemein zu mir zu sein!“
Die freche Butch streckte ihr die Zunge raus, doch schon im nächsten Moment lief sie davon, denn Becky ging schreiend mit ihrem schwarzen Wischmopp auf sie los. Die beiden Anderen konnten bei dem Anblick nur lachen und auch ein paar der Café Besucher blickten aus den Fenster raus auf das Geschehen. „Die zwei sind so peinlich!“, flüsterte Charly nur beschämt.
Als Vanny zu den beiden zurückkam, rieb sie sich mit einem schmerzverzerrten Lachen den Hintern und Becky zog sich immer noch verärgert die Frisur zu Recht.
„Hast du Vanny genug vermöbelt?”, fragte Charly sie.
Becky pustete sich leicht erschöpfte eine Strähnen aus dem Gesicht, „Fürs Erste!”
Knapp zehn Minuten später erreichten die vier die U-Bahn Station. Als sie auf der Rolltreppe standen, kam ihnen der typische U-Bahn Geruch entgegen. Für das, das es schon so spät war, tummelten sich auf dem Bahnsteig noch halbwegs viele Menschen. Hanna blickte auf die Anzeige, ihre U-Bahn kam in zwei Minuten.
„Muss irgendwer von euch auch mit der U4 fahren?“, fragte Hanna in die Runde.
Alle schüttelten den Kopf.
„Schade. Naja dann verabschiede ich mich schon mal!“
Sie trat auf die anderen zu und umarmte sie der Reihe nach.
„War schön dich kennenzulernen!“, sagte Becky.
Charly erdrückte sie fast vor Freude, „Ich fand es so cool, dass du da warst! Sei ehrlich, hat es dir gefallen?“
„Ja! Sehr sogar!“, antwortete Hanna glücklich.
Charly nickte zufrieden, „Wusste ich es doch!“
„Aber zum Sushi Essen kannst du mich trotzdem noch einladen!“, sagte Hanna mit einem Augenzwinkern.
Die Brillenträgerin boxte ihr freundlich eine rein. Plötzlich spürten die Vier einen Windschwall und die U-Bahn fuhr ein.
„Du musst bitte öfter kommen! Du kannst mich nicht mit diesen ganzen Verrückten alleine lassen!“, flehte Vanny Hanna an und diese musste lachen.
„Ja, ich denke ich komme wieder!“, sagte sie und umarmte das bedrohlich aussehende Mädchen, das sie mittlerweile mehr als cool fand. Danach machte sie sich auf den Weg zur U-Bahn Tür.
„Bis nächste Woche!“, riefen die Drei ihr nach und Hanna winkte ein letztes Mal. Dann huschte sie in den Waggon und ließ sich neben der Tür sinken. Sie beobachtete die Drei so lange, bis die U-Bahn anfuhr und sie sie nicht mehr sehen konnte. Hanna atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. Als sie sich vor ein paar Stunden auf den Weg gemacht hatte, hätte sie wohl nicht gedacht, dass sie es schade finden würde, schon heim fahren zu müssen. Der Mann im grauen Mantel, der ihr gegenüber stand, blickte sie ein wenig verwundert an, als sie für sich auflachen musste, doch ihr war das egal. Er hatte ja keine Ahnung, von was für einem tollen Ort sie gerade gekommen war. Sie kramte ihre Kopfhörer aus ihrer Jackentasche, entknotete diese und stecke sie sich ins Ohr. Nachdem sie auf den Play Knopf gedrückt hatte, schaute sie wieder auf. Der Mann im Mantel las mittlerweile seine Zeitung weiter, die er in der Hand hielt. Auf einmal fiel Hannas Blick auf die nächste Tür hinter ihm. Ihr Herz blieb für einen kurzen Moment stehen, als sie dort eine grau-weiße Cap gegen die Glasscheibe gelehnt stehen sah. Offenbar bekam Hanna vor Schreck große Augen, denn wieder guckte der Mann sie seltsam an. Er hob die Augenbrauen, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte um besser sehen zu können. War das Jess? Das konnte doch gar nicht sein! Sie hätten sie doch gesehen, wenn sie auch am Bahnsteig gestanden hätte, oder? Natürlich hätte Hanna auch einfach zur nächsten Tür gehen können, der neugierige Zeitungsleser war ihr mittlerweile eh suspekt geworden, doch sie traute sich nicht. An der nächsten Station drehte sich die Capträgerin zum Aussteigen zur Tür. Hannas Puls normalisierte sich wieder, als sie ein blasses mit Schminke tapeziertes Gesicht zu sehen bekam. Es war schwer zu sagen, was die tatsächliche Haarfarbe dieser Dame war, denn den Mop den sie gerade trug, glänzte in einem künstlichen Platinblond mit schwarzen Spitzen. Hanna atmete schwer aus. Wieder musterte der Mann sie interessiert durch seine Brille und sie wandte ihren Kopf Richtung Tür. Das wäre es jetzt ja noch gewesen. Sie drehte die Lautstärke ihrer Kopfhörer auf und blickte dann erneut lächelnd und ein bisschen belustigt in die Dunkelheit des U-Bahn Tunnels.

Es war fast viertel nach Elf, als Hanna nach Hause kam. Ein Lichtstrahl vom Wohnzimmer erleuchtete den Gang und sie wusste, dass ihre Eltern noch wach waren. Sie hing ihren Schlüssel an einen Haken neben der Tür und schlüpfte aus ihren Schuhen, „Bin wieder da!“ brüllte Hanna und zog sich den Parka aus. Sie trat in das Wohnzimmer und lehnte sich an den Türrahmen. Ihre Eltern saßen wie gewöhnlich auf dem roten Sofa und schauten Fern. Ihre Eltern wollten wissen, wie es denn so war und Hanna gab Auskunft über den angeblichen Kinobesuch. Nach kurzem Geplauder sagte ihr Mutter schließlich, „Jetzt aber ins Bett mir dir, es ist schon nach elf! Und sei nicht so laut, Luisa schläft schon!“
„Ja, ich wollte jetzt sowieso gehen! Gute Nacht!“
„Gute Nacht!“, riefen ihre Eltern im Duett als Hanna schon auf dem Weg in ihr Zimmer war. Auf dem Schreibtisch lag der unberührte Stapel an Hausaufgaben. Sie würde diese einfach morgen von Miri abschreiben. Binnen weniger Minuten machte sie sich bettfertig und merkte, wie müde sie eigentlich war. Nachdem sie sich ihr Kissen gerichtet und sich in ihre Decke eingekuschelt hatte, ließ sie die vergangenen Stunden noch einmal Revue passieren. Die ulkige Charly. Die taffe Vanny. Die knuffige Becky. Die freche Pia. Das Pärchen Emma und Nicki. Der Antrag. Ja doch, Hanna war froh, dass sie ihren inneren Schweinehund überwunden hatte und dorthin gegangen war. Sie hatte das Gefühl, dass sie heute den Schritt in eine neue Welt gewagt hatte und sie war sehr gespannt darauf, was sie dort alles erleben würde. Mit einem Lächeln im Gesicht drehte sie sich auf die Seite und das Letzte, das sie vor dem Einschlafen in ihren Gedanken sah, waren zwei saphirblaue Augen.

Ende Folge 1








copyright © by cappuccino007. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.



Kommentare


Wowowow!
Kuschwusch - 04.01.2019 23:31
-
cappuccino007 - 14.08.2015 17:49
Mega!
Dani0712 - 06.08.2015 16:14
echt cool :)
ju_ki - 14.07.2015 01:41

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