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Stories » Detail

Sie

von Kuschelhaeschen



Am 22. März 2010 entschlief eine langjährige Freundin, wobei ich nicht weiß, ob ich darüber froh sein sollte, dass sie nicht lange litt, oder ich eher dazu neige, zu sagen, dass es noch zu früh war, und der Lauf der Krankheit noch zu beeinflussen war. Heute, nach vier Monaten, entschließe ich mich, einen Teil meiner und ihrer Geschichte niederzuschreiben, zum einen, weil ich gerne dazu neige, Dinge zu vergessen. Ohne Merkzettel geht auch bei mir nichts mehr. Zum Anderen, weil wir eine besondere und lange Beziehung zueinander hatten. Für mich war sie eher eine Großmutter, zu meinen eigenen hatte ich kaum Kontakt, die eine war früh verstorben, die andere wurde zwar sehr alt, aber sie lebte in Italien, und man sah sich nur mal in den Ferien, und wenn, dann haperte es an der Sprache. Mein Italienisch ist eher schlecht und so kam nie eine gescheite Konversation zustande.
Erst viel später entstand diese Freundschaft. Für sie war ich keine Enkelin, sondern wirklich eine Freundin. Sie teilte mir ihre Sorgen und Ängste mit, sie lebte auf, wenn wir nur mal in die Stadt fuhren und in ihrem Lieblingscafé einen Kaffee tranken und ein Stück Kuchen aßen. Dann legte sie Lippenstift auf, verteilte großzügig ihr Parfum auf ihrem Oberkörper und zog sich die Augenbrauen noch mal nach. Immer wieder betonte sie, wie gut ihr es ging, mit mir zusammen zu sein, und sie wüsste nicht, was sie ohne mich machen sollte. Natürlich dachte ich in diesen Momenten daran, dass es sicher noch andere Menschen gibt, die ein offenes Ohr für ihre Mitmenschen haben. Aber sie beharrte darauf, dass nur ich diejenige bin, der sie auch ihre geheimsten Dinge anvertrauen würde. Und so manches habe ich dann auch erzählt bekommen. Aber wie nun auch eine Freundin ist, so habe ich nie ihr Vertrauen missbraucht, auch nicht nach ihrem Tod. Ich werde mich auch hüten, irgendwelche Intimitäten hier zu erläutern. Mit der Gefahr natürlich, dass ich, wenn ich sie hier nicht aufschreibe, sie vollständig vergesse. Was dann dem Spruch gleich käme, „Geheimnisse werde ich mit ins Grab nehmen“.
Sie war ein offenes Buch, ich konnte manchmal schon an ihrem Blick erkennen, was sie dachte. Und nicht immer war ich ihrer Meinung, die ich ihr auch mitteilte. Am Ende wurde dann doch das ein oder andere von ihr ignoriert, eigenwillig war sie allemal. Zuerst war ich natürlich verärgert, musste dann aber meistens doch schmunzeln, weil sie immer wieder mit der Frage kam: Was würdest du denn machen? Und ich wusste, dass es egal war, was ich dachte, am Ende siegte ihre Meinung. Oft bekam ich Recht, sie stellte auch Überlegungen an, diskutierte noch mit mir darüber. Aber kaum war ich gegangen, ging sie wieder in ihre altgewohnte Richtung. Ich wusste, dass es so ist, aber ich liebte es auch, mit ihr reden zu können. Sie war keinesfalls weltfremd, auch wenn sie sich des Öfteren naiv verhielt, sich nicht mit den neumodischen Geräten wie Computern auskannte, sie war trotzdem immer an den Entwicklungen interessiert. Egal ob technisch, wissenschaftlich oder auch menschlich. Auch wenn sie sie nicht verstand. So hatte sie ihre Lieblingssendungen und –Serien, und schaute auch regelmäßig Nachrichten. Wie oft kam es vor, dass sie mir eine Begebenheit erzählte, und ich nichts davon wusste, weil ich nicht der große Nachrichtengucker bin. Dann schalt sie mich als Unwissende, und wir beide mussten augenblicklich darüber lachen.
Es kam natürlich auch vor, dass ich eher unwillig den Gang zu ihr antrat, in dem Wissen, mir immer die gleichen Dinge anhören zu müssen. Aber was konnte ich von einer älteren Dame auch erwarten, die kaum aus ihrem Haus herauskam, die in ihren letzten Monaten noch selten unter Menschen kam. Wo der Rollator hinter der Tür stand und auf eine Fahrt wartete. Früher war das anders. Als ich sie kennenlernte, war ich fünfzehn, ging noch in die letzte Klasse der Realschule. Meine Eltern konnten sich kein regelmäßiges Taschengeld für die drei Kinder leisten. Sie standen mitten im Hausbau, und es war undenkbar, noch weitere Kosten zu haben. Also gingen wir Kinder einer Nebenbeschäftigung nach, um unser Taschengeld aufzubessern. Meine Schwestern trugen Zeitungen aus, und ich bewarb mich bei einer Reinigungsfirma. Viele, damals schon ältere Frauen aus unserem Dorf arbeiteten bei dieser Firma und so kam ich mit reichlich Vitamin B zu einer Beschäftigung. Das Aufstehen morgens um vier Uhr tat mir unsagbar weh, allerdings war es aber auch ungeheuer spannend, am 7. eines jeden Monats eine damals für mich beträchtliche Geldsumme zu bekommen. Da war das Aufstehen dann doch wieder nebensächlich, zumal ich anschließend noch zur Schule musste, und damit dann natürlich auch ein wenig vor meinen Mitschülern angeben konnte, wie selbständig ich zu Geld kommen konnte.
Dort lernte ich dann auch sie kennen. Sie wies mich in die Arbeiten ein, und langsam kamen wir uns auch privat näher. An Einzelheiten kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Mittlerweile habe ich den 44. Geburtstag hinter mir und ich bin mir sicher, dass irgendwann nichts mehr ohne Aufschreiben klappt. Ich kann mich daran erinnern, dass meine Eltern oft verärgert waren, dass ich viel Zeit mit meiner weitaus älteren neuen Freundin verbracht hatte. Mein Vater legte mir nahe, vorsichtig zu sein, was ich ihr anvertrauen würde. Ich sollte mich in acht nehmen, sollte keine Familiengeheimnisse ausplaudern. Natürlich war ich über die Reaktionen meiner Eltern bestürzt, manchmal einfach nur sauer. Wie konnten sie über einen fremden Menschen so urteilen? Sie kannten sie doch gar nicht. Ich war schon etwas naiv zu dieser Zeit, das muss ich zugeben. Meine Eltern wussten das, und nicht selten zeigte ich mich bockig. Aber irgendwie hatte ich es doch geschafft, das Vertrauen aller Seiten zu bekommen. Und so kam es durchaus vor, dass sie von meinen Eltern eingeladen wurde. Ich denke da an eine Radtour, für die sie sich ein Fahrrad kaufte, und das Fahren erst mal wieder neu erlernen musste. Oft saßen wir im Bikini auf dem Balkon, damals konnten wir uns das figurmäßig noch leisten, ließen uns die Sonne auf den Bauch scheinen. Ab und an rauchte sie dann auch mal eine Zigarette von mir. Dann lachte sie und meinte, sie wäre eigentlich Nichtraucherin. Es war eine schöne Zeit, unbeschwert, nichtsahnend, was noch kommen könnte.
Sie wurde in ihrer Kindheit ängstlich erzogen, keinen einzigen Gang erfolgte ohne ihren Vater. Ich denke, es ist kein Geheimnis. So konnte sie auch in späteren Jahren nicht alleine sein. Ob ich nun dafür auserwählt wurde, einen dauerhaften Platz in ihrem Leben einzunehmen, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst. Heute glaube ich daran. Einige Monate zuvor hatte sie ihren stark kriegsversehrten Mann verloren, neun Monate nachdem sie zusammen mit ihrem erwachsenen Sohn ein neues Haus bezog. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob wir damals darüber sprachen, aber dafür in den letzten Jahren umso mehr. Vielleicht sprachen wir auch nicht darüber, weil sie es nicht wollte. Vielleicht war ich aus ihrer Sicht damals zu jung, um auch nur das Geringste davon zu begreifen. Die ängstliche Erziehung war der ausschlaggebende Punkt, dass ich bei ihr übernachtete, wenn der Sohn mit seiner Familie in Urlaub war. In diesem großen Haus konnte sie unmöglich alleine schlafen. Tagsüber machte es ihr nichts aus, da ging sie ihren Beschäftigungen nach. Ich hatte es mir in dem Gästezimmer bequem gemacht, abends saßen wir vorm Fernseher oder unterhielten uns. Morgens ging ich zur Schule, später dann in meiner Ausbildungszeit zur Arbeit. Noch heute werfe im Vorbeifahren einen Blick auf das Anwesen. Vielleicht warte ich darauf, dass sie in der Haustür steht. Aber da steht niemand, stattdessen sehe ich, dass die Gardinen in der Küche nicht ordentlich hängen.
Sie hatte einen Putzfimmel, ja, so konnte man es ausdrücken! Alles in ihrer Wohnung hatte einen Platz und selten wurde etwas verrückt. Sobald ich nach einer Übernachtung im Bad fertig war, wischte sie hinter mir her. Es nervte mich, das muss ich zugeben. Also wischte ich selbst! Und so kam es, dass ich ein paar Jahre später regelmäßig einmal die Woche, meistens freitags, das Bad und die Fußböden saubermachte. Was aber eher unnütz war, denn man musste den angeblichen Dreck schon suchen. Dennoch, sie war der Meinung, dass jetzt alles wieder frisch sei. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und roch die frische saubere Luft. Mit viel Fantasie habe ich sie vielleicht auch gerochen.
Der Grund dafür war jedoch, dass sie sich mehrere Wirbel bei einem Sturz gebrochen hatte, und der Arzt ihr verboten hatte, rückenbelastende Arbeiten zu verrichten. Ab diesem Zeitpunkt war es offensichtlich, dass nichts mehr war, wie es einmal war. Zu oft fuhr ich sie zu Arztterminen, und viel zu selten gingen wir noch in ihr Lieblingscafé. Und der Lippenstift wurde gar nicht mehr aus dem Kulturbeutel geholt. Sogar die kleine Reise zu ihrer Geburtsstadt verschoben wir immer wieder wegen öfter auftretendem Unwohlsein. Natürlich kam auch bei mir die Familie und der Beruf dazwischen. Ich selbst ließ es schleifen, wohl in der Annahme, man könnte es auch an einem anderen Termin schaffen. Und nun ist es zu spät. Ich habe nie gesehen, wo sie geboren wurde, wo sie in ihrer Jugend gelebt hat, wie ihre Schwestern wohnen.
Auch in meinem Leben tat sich einiges. Ich lernte einen lieben Mann kennen. Sie lehnte ihn ab, ohne ihn gesehen zu haben, als ich von ihm erzählte. Heute weiß ich, dass es Eifersucht war. Jemand, der ihr das wegnehmen wollte, an das sie sich all die Jahre so geklammert hatte. Etwas, das sie nicht alleine lassen würde. Später aber erkannte sie in ihm die gleiche Gutmütigkeit, die sie an mir so schätzte. Es ergaben sich aus der neuen Situation heraus auch Veränderungen, mit denen ich besser zurecht kam als sie. Dass ich nicht mehr bei ihr übernachten konnte, zumal ich mit meinem Mann eine Familie gegründet hatte, traf sie sehr. Dass auch meine Kinder bei einer fremden Frau, die sie nur ab und an mal sahen, nicht bei ihr übernachten wollten, war schon fast natürlich. Ich schaffte es, sie wenigstens ein oder zwei Mal zu uns zu holen. Auch wir haben ein Gästezimmer.
Die Umstände, die uns eine Zeit lang trennten, waren bei mir die Familiengründung, der Hausbau und die Arbeitszeiten. Zu dieser Zeit war ich sehr eingespannt. Aber auch bei ihr gab es unerfreuliche Wendungen, die ich hier aber als Grabgeheimnisse bezeichnen möchte. So kam es durchaus vor, dass ich bei ihr nur noch Zeit zum Putzen hatte. Ich war nicht sehr glücklich über diese Lage, stand ich doch ständig unter Zeitdruck, alles und jedem gerecht zu werden. Ich war mit mir selbst unzufrieden. Aber auch diese Lebensphase hatte ihr Ende gefunden, sodass wir doch eine gewisse Zeit an Freizeit miteinander teilen konnten.
Und dann kam er, der Brustkrebs. Mit 86 Jahren musste sie eine Operation, Chemotherapie und Bestrahlungen über sich ergehen lassen. Wobei sich die Frage stellt, ob die OP nicht ausreichend gewesen wäre, denn der Knoten konnte vollständig entfernt werden. Ich behaupte, dass erst die Nachbehandlungen ihren Körper und ihr Immunsystem zerstörten. Warum muss man einer alten Frau so etwas noch antun? Sicher, man lässt nichts unversucht, um noch etwas Zeit zu schinden. Aber in diesem Alter ist die Zeit von sich aus schon begrenzt, oder?
Sie verlor alle Haare. Ich glaube, dass sie das sehr mitgenommen hat. Ich drehte sie jede Woche auf, gab noch dunkelbraunen Haarfestiger darauf. Sie machte daraus immer ein kleines Fest. Alle Wickler wurden auf dem Tisch ausgebreitet. Sie ließ sie auch immer nachfärben. Sie liebte ihre Haare, ging regelmäßig zum Friseur. Auch wenn sie im Alter immer weniger wurden, als die Chemotherapie die Haare ausfallen ließ, weigerte ich mich, die spärlichen Stellen noch aufzudrehen. Ich hatte Angst, ihr die letzten Haare vom Kopf zu reißen. Mir zerriss es das Herz. Ich kann es gar nicht ausdrücken, wie mir zumute war. Die Friseurin beschaffte ihr eine Perücke, doch aufgesetzt hat sie sie selten. Stattdessen kam sie mir immer mit einer Wollmütze entgegen, wenn sie mir die Tür öffnete.
Die letzten Monate ihres Lebens verbrachte sie abwechselnd in einem Pflegeheim und im Krankenhaus. Ihren letzten Geburtstag feierten wir im Heim, aber so richtig bewusst war es ihr damals schon nicht mehr, was um sie herum geschah. Es gab Momente, da war sie geistig voll da, redete klar. Keinen Tag später brabbelte sie unverständliche Worte, und es schien, als wäre sie der Welt völlig entrückt. Auch für mich war es verstörend, diesem Wandel zu folgen.
Die Trauergäste, die sich mit der Familie am 26.März um 14 Uhr in der Trauerhalle des Friedhofes versammelten, waren alle der Tradition folgend in schwarz gekleidet. Sie wussten, dass die heute zu Beerdigende gerne in leuchtenden Farben ging. In ihrem Schrank waren Röcke, Pullis und Jacken in rot, blau, grün und gelb. Selten sah man dunklere Farben an ihr. Nachdem sie nach dem Wirbelbruch eine Stütze tragen musste, fand sie sich fett und stieg auf graue oder schwarze Leggings um. Aber die Oberteile behielten ihre lebensbejahende Farbenfreude. Die Schränke waren vollgestopft mit einzeln verpackten Pullovern und Shirts. Und doch trug sie nur ihre Lieblingsstücke.
Niemand hat an diesem Tag mehr Taschentücher verbraucht als ich. Ich saß in einer der letzten Reihen, neben mir noch ein Paar aus ihrer Nachbarschaft. Vor mir saßen weitläufige Verwandten, Nachbarn, Freunde, Bekannte und Schaulustige. Ganz vorne die Familie. Der Pfarrer hielt eine wunderschöne Rede, in der es auch hieß, dass sie in ihrem Leben mehr an andere als an sich selbst dachte.
Der Sarg stand in einem Meer von Buketts, das in orange gehaltene ist von meinem Mann bestellt worden. Seidenbänder schmücken es aus, Danke für die tolle Freundschaft. Ich ging als Letzte an das Grab, die Friedhofswärter fingen schon an, die Grube mit der ausgehobenen Erde zuzuschütten. Ich weiß noch, dass ich in das Loch schaute, aber mein Kopf war leer. In diesem Moment konnte ich einfach nicht denken. Was hätte ich auch denken sollen?
Vielleicht hätte ich mich daran erinnern sollen, dass ich ihr am Sterbebett sagte, dass ich sie am nächsten Tag wieder besuchen komme. Es war schon fast ein Versprechen, ich hielt es aber nicht ein. Im Nachhinein war ich über den raschen Tod meiner Freundin entsetzt, entsetzt aber auch von mir, dass ich es vorzog, faul auf dem Sofa zu liegen, anstatt im Krankenhaus zu sein. Vielleicht war es auch einfach nur der Anblick einer alten Frau, die langsam dahin siecht. Die sich der Welt lossagt, um in eine bessere einzutreten. Vielleicht, weil ich auch kein großer Geschichtenerzähler bin, und endlose Monologe halten kann, und die Frau, die da in diesem Bett liegt, gibt dir keine Antwort. Sie bemerkte meine Anwesenheit, schien sich sogar zu freuen. Ich legte ihre Hand in die meine, und ich spürte einen kleinen schwachen Händedruck. Trotzdem bin ich nicht sicher, ob sie mich erkannte. Welche Gründe es auch immer geben mag, ich war nicht da. Und das war nicht gut, ich hatte ein schlechtes Gewissen. Eine Geschichte von ihrem Sohn machte die Lage noch unerträglicher. Er erzählte von einer Krankenschwester, die ihn darauf aufmerksam machte, ob denn nun jeder die Sterbende schon besucht hätte. Denn sie möchte jetzt aus dem Leben scheiden, kann es aber nicht. Womöglich fehlt noch jemand, von dem sie sich noch nicht verabschiedet hat. Daraufhin hat der Sohn nochmals die Schwestern an das Sterbebett geholt. Trotzdem wartete sie noch diesen besagten Tag ab, an dem ich es nicht schaffte, mich von meinem Sofa zu erheben, und verstarb am nächsten Morgen.
An dem Wochenende, an dem die Beerdigung stattfand, stand ich auf der Kosmetikmesse in Düsseldorf für eine befreundete Firma an der Kasse. Für die Beerdigung bin ich selbstverständlich freigestellt worden. Die Chefin dieses Unternehmens ist eine gute Bekannte, bei der ich auch in Behandlung bin. Sie hat einige Schicksalsschläge durchleben müssen und ist dadurch eine sehr bodenständige Frau geworden. Dennoch schmückt sie gerne ihre Geschichten aus, deshalb betrachte ich ihre Aussagen oftmals mit einem Augenzwinkern. Dass sie ein Medium sein soll, übertrifft allerdings alles.
Vor einigen Wochen saß ich in ihrem Studio, das sie im Keller ihres Einfamilienhauses betreibt. Der Tisch, an dem ich saß, steht im Eingangsbereich, sodass ich die Eingangstür im Rücken hatte. Wir hatten an diesem Tag viel Spaß und es wurde viel gelacht. Ihre deutsche Dogge kam ab und an vorbei, um sich ein paar Streicheleinheiten abzuholen. Doch plötzlich flog hinter mir die Tür auf. Ein Frischeduft, der auf einer Vitrine stand, reagierte auf eine Bewegung. Die Dogge wanderte unruhig im Raum umher und stellte einen Kamm auf, der bei dieser kurzhaarigen Rasse eine Kunst ist. Mein Gegenüber verstummte und setzte ein blasses steiniges Gesicht auf. Daraufhin wurde auch ich unruhig. Ich selbst nahm nichts Ungewöhnliches wahr, dennoch war ich angespannt. Im Raum herrschte eine seltsame Stille. Zuerst war ich ungläubig, als man mir mitteilte, ein Geist befände sich im Raum. Es wäre eine Frau, in Verbindung mit der Farbe Grün und es riecht nach einem blumigen Parfum. Die Frau möchte mich warnen, denn mit meinen Reifen am Auto sei etwas nicht in Ordnung.
Immer noch ungläubig, aber doch etwas irritiert, machte ich mich auf den Heimweg. Ich parkte mein Auto in der Garage, und mein Blick fiel unwillkürlich auf den linken Hinterreifen. Nicht, dass ich noch an den Hokuspokus im Studio dachte, das versuchte ich sofort zu verdrängen. Aber jetzt ragte tatsächlich ein kleiner Nagel aus dem Profil! Allerdings viel zu klein, um einem Reifen etwas anhaben zu können. Ich musste daran denken, dass sie aus einer kleinen Sache oftmals eine große Geschichte machte. Alles deutete darauf hin, dass sie es war, die in diesem Studio eine unheimliche Atmosphäre verbreitete. Sie trug das blumige Parfum irgendeiner französischen Firma und zog sich gerne einen hellgrünen Pulli an. Alles passte. Erst jetzt wurde es mir mulmig. Trotzallem, auch wenn man mir einen Bären aufgebunden hätte, es ist schön, wenn man einen Schutzengel hat. Und ich glaube daran. Der kleine Nagel liegt heute noch aufbewahrt in einer kleinen Schatulle und wird in Ehren gehalten.
Ich versuche, mindestens zweimal in der Woche walken zu gehen. Eine festgelegte Strecke, die ich immer laufe, führt am Friedhof vorbei. Natürlich mache ich dann auch einen Stopp und besuche ihr Grab. Nach vier Monaten sieht das Grab immer noch recht neu aus. Aufgeschichtete Erde, notwendig bepflanzt und ein hölzernes Kreuz mit ihrem Namen und ihren Daten. Ich setze mich in das Gras daneben, und wenn niemand in der Nähe ist, dann rauche ich eine Zigarette, zwinkere dem Holzkreuz zu und denke an die Zeiten auf dem Balkon. Und ich versuche, mir ihr Gesicht immer wieder in Erinnerung zu rufen, weil ich Angst habe, dass es irgendwann verblasst und ich es vergessen könnte.


Juli 2010




copyright © by Kuschelhaeschen. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.





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