von helden-echolot
Ich bin durchsichtig. Kein Spiegel kann mich mehr entdecken. Mit meinen Armen kann ich Dinge greifen, die hinter dicken Wänden stehen. Meine Beine brauche ich nicht mehr. Ich kann den Boden unter den Füßen verlieren, ohne dass mir jemand deshalb einen Vorwurf machen könnte. Ich bin ein Geist, ein verirrtes Gespenst. Was sollte ich sonst tun, als durch Wände zu gehen, durch Decken und Böden zu schauen und über den Dingen des Lebens zu stehen.
Wenn du morgens aufstehst sitze ich auf der Gardinenstange und lasse die Dübel in der Wand knirschen. Oder ich verstecke mich hinter dem Vorhang. Und spiele den Wind, der ihn in der warmen Sicherheit der Morgensonne hin und her wiegt. Wenn ich mutig bin, setze ich mich sogar auf die Bettkante und zähle die kleinen Sonnenflecken rund um deine Nase, während du aufwachst. Aber das traue ich mich nicht oft. Ich habe Angst, du könntest mich entdecken und dann würdest du dich sicher erschrecken. Wir beide hatten noch nicht genug Zeit dazu, uns wieder aneinander zu gewöhnen. Die Rollen sind neu verteilt. Du die Prinzessin im Turmzimmer mit den Tränen im Anschlag. Ich das Gespenst.
Du gehst ins Bad und ich schwebe hinterher. Du machst die Tür vor mir zu, weil du nicht mehr daran glaubst, dass ich noch da sein könnte. Ich nehm dir das nicht übel. Wer glaubt heute schon noch an Gespenster. Ich kann ja einfach hindurch gehen. An den Fotos vorbei von uns zwei, die da in einem kleinen zerbrechlichen Rahmen hängen. Du hast sie noch nicht abgenommen. Zum Glück haben Gespenster keine Tränen, sonst würdest du dich sicher über den Fleck vor deiner Badtür wundern müssen. Ich schaue dir zu, wie du dich wäschst. Und erinnere mich, wie wir morgens gemeinsam im Bad standen und uns den Schlaf aus den Augen gerieben haben. Zähne putzen, Grimassen mit dem Rasierer schnitteen. So hielt das Lächeln auf unseren Gesichtern einen ganzen Tag lang. Ich sehe deine weiße Haut und erinnere mich, wie gut sie gerochen hat. Nach Creme und Sonnenschein, vor allem im Sommer. Und wie gern ich meine Haut auf deine gelegt habe. Und dabei manchmal an zwei Galaxien denken musste, die ineinander krachten.
Dann gehst du in die Küche und kochst Kaffee. Schade, dass Gespenster nichts riechen können. Allein für den Kaffeeduft in deiner Küche würde ich noch einmal eine Runde auf der Erde drehen wollen. Ich klettere dir auf die Schultern mit der Leichtigkeit einer Julibrise. Ich sehe über deiner Schulter den Dampf aus der Maschine steigen. Scheinbar bist du zu nah ran gegangen, denn plötzlich hast du Kaffeewasser in deinen Augen. Du lehnst dich an den kaputten Schrank mit den vielen Töpfen ohne Deckel und schaust dem Kaffee zu, wie er mit brauner Farbe die Kanne füllt. Als er fertig ist, gibst du ein wenig Salz hinzu, das dir aus dem Gesicht fällt. Ich leg dir meine Hand auf die Schulter, die nun nur noch halb so schwer wie ein flüchtiger Augenblick ist. Gespenster sind keine guten Tröster. Und trotzdem drehst du dich um und schaust in meine Richtung. Und auch wenn du durch mich hindurch schaust, kann ich noch das Blau in deinen Augen sehen, das so oft das Grau in meinen vertrieben hat.
Als du aus dem Haus gehst, schwebe ich über dir. Es ist warm, vermutlich ist es das. Du hast dein gelbes Lieblingsshirt an und ich schaue dir von oben in den Ausschnitt. Der Blick fürs wesentliche ist der einzige Sinn, den sie mir gelassen haben. Und deshalb koste ich ihn voll aus. Über mir scheint die Sonne. Doch sie bemerkt mich nicht. Du strahlst an mir vorbei in den blauen Himmel. Ich werfe mit ein paar welken Ästen vom letzten Herbst auf dich. Und rupfe den grünen Bäumen ein paar frische Blüten aus, die ich über dir regnen lasse. Du gibst dem Wind die Schuld und kommst nicht auf die Idee, dass ich es sein könnte, der den Baum über dir so sehr schüttelt, dass er vor Wonne mit den Blättern raschelt. Und als der Mann mit dem Fahrrad an dir vorbei fährt, wundert er sich, warum seine Klingel plötzlich in deine Richtung klingelt. Du lächelst ihn an. Kein Gedanke an mich. Aber das ist okay. Niemand mag Gespenster.
Als du in der Bahn sitzt, hauche ich dir meinen Namen in den Nacken. Zur Erinnerung. Deine Haare stellen sich auf. Ich mach dir Gänsehaut, während die Frau vor dir was vom schönen Wetter schnattert. Du streichst dir eine Strähne aus dem Gesicht und ich kann mich erinnern, wie ich manchmal deine Haare im Mund hatte, wenn ich dich geküsst habe. Vielleicht eine der schönsten Erinnerungen, die man haben kann von Nähe. Du setzt deine Kopfhörer auf und hörst Musik. Den Player hab ich dir geschenkt. Die Musik hab ich dir drauf gespielt. Die Töne haben ihren Halt in den Melodien verloren und irren durch den vollen Fahrgastraum. Gespenster können keine Lieder hören, die von früher erzählen. Das tut ihnen weh. Als deine Haltestelle kommt und du aussteigst, bleibe ich kurz sitzen. Nur um das Gefühl eines kleinen Abschieds wieder zu beleben, den man früher nie zu schätzen wusste. Seltsam, dass man erst als Gespenst versteht, dass selbst im kleinsten Unglück der Sinn des großen Ganzen versteckt ist. Du drehst dich kurz um. Alte Gewohnheit. Dein Blick scheint jemanden hinter den getönten Scheiben der Tram zu suchen. Und findet nichts als die Gespenster der Vergangenheit hinter der eigenen Stirn.
Ich bleibe bei dir den ganzen Tag. Und auch den nächsten und den darauf. Sie haben mir eine Woche gegeben, um mich von dir zu verabschieden. Selbst Gespenster wissen, dass das nicht reicht. Trotzdem. Ich folge dir in den Supermarkt und erinnere mich daran, wie gern du Pflaumenmus gegessen hast. Ich gehe mit dir und deinen Kollegen Mittag Essen und erinner mich daran, wie weh es manchmal getan hat, wenn du andere angelacht hast. Nur weil ein Augenblick nicht mir gehört hat. Und wie ich mich selbst lächerlich fand, wenn ich dir das gestanden habe. Ich gehe mit dir Duschen und lasse mich mit dem Wasser an dir herabfallen. Mein Gespenster kleid bleibt trocken. Meine Hände greifen nach dir ins Leere. Ich verfluche mich und meine unsichtbaren Gefühle. Und als die Woche dann um ist, verabschiede ich mich von dir. Du stehst vor dem Spiegel und schaust dich an. Ich stehe hinter dir und schaue uns an. Wie wir zusammen passen. Und wie wir auseinander gerissen wurden. Man sieht die frischen Bruchstellen noch. Du schaust dir in die Augen und suchst irgendwas darin. Ich schau dir in die Augen und lasse dort einen Gruß für dich da. Er soll dich erinnern an mich, wenn du es mal gebrauchen kannst. Aber mehr lasse ich nicht da. Denn nichts soll dich schwer machen. Nichts soll dich daran hindern, dich von dem Gespenst zu befreien, das jeden Tag auf deinen Schultern sitzt und dir mit schiefer Stimme Sachen ins Ohr flüstert, die dich traurig machen.
Ich bin durchsichtig. Ich bin ein Gespenst. Ich wünschte, ich wäre ein wenig lebendiger gewesen zu Lebzeiten. Dann wäre ich vielleicht nicht für dich gestorben.
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helden-echolot. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.