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Vom kleinen Buchladen dem Obdachlosen un

von rabenkinder


Kann nicht bitte mal jemand die Zeit anhalten?
Alles vergeht so schnell. Kaum hat man sich einmal gedreht, schon sind wieder zwei Wochen um. Die Leute sagen, die Zeit würde alle Wunden heilen. Ich finde nicht, dass das so ist. Ich finde, sie macht die Wunden noch tiefer, noch schlimmer, eben weil sie so wahnsinnig schnell vergeht. Dadurch fühlt man sich schuldig, wenn man nach ein oder zwei Jahren immer noch an irgendwelche Traumata, Schicksalsschläge oder weiß der Hugo was denkt.
Und eben dieses Schuldig-fühlen zieht dich noch mehr rein.Ich hätte gerne mal etwas Zeit für mich. Zeit um Alles zu verarbeiten, was das ganze Leben auf mich zuströmt. In jeder Sekunde wird man mit einer solch gewaltigen Menge von Reizen überschüttet, dass man manchmal richtig Angst davor bekommt.
Gehe ich auf der Straße entlang, begegnen mir Menschen, die nicht zurückschauen, wenn ich ihnen ins Gesichts blicke, denn sie haben es zu eilig. Neben mir blinkt eine Neonwerbung für Whiskey und ich frage mich zum Tausendstenmal, warum der Staat nicht endlich Hanf legalisiert, um die hohe Alkoholabhängigkeit zu verringern. Aber vermutlich würde der Staat dabei wichtige Gelder verlieren.
Während ich um die Ecke biege, um im Buchladen meine wohlverdiente Ruhe zu finden, stolpere ich über einen Obdachlosen, der stockbesoffen am Boden liegt, woraufhin sich wieder die Frage mit dem Hanf aufwirft.

*

Dann setze ich mich in den Buchladen, greife wahllos ins Regal und fange an zu lesen.
"Es war einmal..." Ich habe ein Märchenbuch erwischt. Letztes Mal hatte ich einen Krimi. Und davor eine Romanze. Ich komme noch nicht lange hier in den Buchladen, aber ich bin gern hier. Ich finde hier ein bisschen von der Zeit, die ich so sehr brauche. Diese Zeit nutze ich, mich in andere Welten zu träumen. Das mag vielleicht komisch klingen, denn es erscheint Vielen als unsinnig, in andere Welten zu reisen. Doch es ist die schönste Art und Weise, mich zu entspannen, die ich kenne.
Vielleicht liegt das aber auch an der Atmosphäre in diesem Buchladen. Es ist ein sehr kleiner Laden, mit einer schweren Eichentür und sehr dreckigen, winzigen Fenstern. Auf der Tür ist in schnörkeligem Sütterlin ein Name geschrieben, den ich nicht entziffern kann. Die Wände sind hoch und die Bücherregale biegen sich unter der Last des Wissens und der Phantasie. Vielleicht liegt es aber auch an der Stimmung, die mich befällt, bevor ich den Laden betrete. Ich beobachte dann die Menschen um mich herum sehr genau, versuche alle Reize genau zu betrachten.
Vielleicht liegt es aber auch an meiner Mama und meinem Papa, welche mich mit Büchern großgezogen haben. Mama hat mir Bücher geschenkt, Papa hat sie mir vorgelesen. Immer wenn ich nun zu einem Buch greife, höre ich seine warme, weiche Stimme in meinem Ohr, welche die Figuren aus den Geschichten lebendig werden lässt. Ich war kein Fernsehkind.

Das Schöne an diesem Laden ist der Besitzer. Wenn er mich jetzt sieht, lächelt er mich schon von Weitem an.
Vorgestern, als es so kalt war, hat er mir sogar eine heiße Schokolade gekocht. Und er lässt mich in Ruhe lesen. Ich denke, er will gar nicht, dass seine Bücher verkauft werden. Er scheint nur zu wollen, dass sie gelesen werden.
Und das tue ich ja.
Immer, wenn ich aus dem Buchladen heraustrete, habe ich das Gefühl, mir wurde ein kleines Stück der im Alltag verschwindenden Zeit zurückgeschenkt. So auch dieses Mal.

*

Ich trete aus dem Laden heraus und stolpere wieder über den Obdachlosen. Inzwischen hat er sich aufgesetzt. Er guckt mich sehr merkwürdig an, so als könnte ich ihm Etwas geben, was er seit langem vermisst. Ich setze mich zu ihm.
"Waaas wwwillsu von mmir?" lallt er mich an. Ich lächle. "Nichts will ich. Hast du Zeit?"
"A...Aba sischa hab isch Sei...seith. Iiisch habbe imma Seith. Jaja, der Erwin der had imma Seith. Aba es...es schtümmt ni..nicht, waas die... die Leute sagen. Die sagen nämlich, Seith sei Geld. Aba das, dass schtümmt nicht, neinnein. Der E... Der Erwin hat nämlich kein Geld, neinnein, aba viel...viel Seith hat er, der Erwin, jaja."
"Siehst du, bei mir ist es genau andersrum. Ich habe genug Geld, aber viel zu wenig Zeit."
"Waas, waas machsu denn mid, mid deiner, mid deiner Seith?"
Das ist eine gute Frage. Was mache ich eigentlich mit meiner Zeit?
"Hmmm, nunja, ich gehe zur Schule. 38 Stunden die Woche sitze ich in der Schule. Und wenn ich nach Hause komme, mache ich noch mehr Schule. Hausaufgaben und lernen."
"U...und waas hassu davon?"
Jetzt muss ich grinsen. Dieser Erwin hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Was habe ich eigentlich davon?
"Tja, ich kann jedes Kreuzworträtsel ohne Lücken und ohne lange nachdenken zu müssen ausfüllen. Ich spreche Latein, als würde es die Sprache noch geben und Englisch als wäre es meine Muttersprache. In zwei Jahren habe ich mein Abitur und dann kann ich studieren."
"U...und dann hassu noch weniger Seith, dann sitzt der arme Erwin wieder allein hier, jaja."
Mit diesen Worten steht Erwin auf und schlurft davon.
Ich bleibe noch ein wenig sitzen um die Zeit aufzusammeln, die Erwin hier ließ. Dann erhebe auch ich mich und gehe.

*

Ich gehe an der Neon-Licht-Whiskey-Werbung vorbei und an Menschen, die nicht zurückblicken, wenn ich sie ansehe. Inzwischen ist es dämmrig geworden, dass orange Licht aus den Straßenlaternen macht mich müde. Der Weg nach Hause ist viel weiter, als der von der Schule bis zum Buchladen. In solchen Situationen, wünscht man sich dann, dass die Zeit doch schneller vergehen möge.
Ich laufe und denke weiter über die Zeit nach. Alle Wortfetzen, welche ich aus andrerleuts Gesprächen auffange, drehen sich um die Zeit.
"Lass mich in Ruhe, ich habe keine Zeit!"
"Meine Zeit ist mir zu kostbar um mich mit solchen Kleinigkeiten zu beschäftigen."
"Lass gut sein, bis du verheiratet bist, ist Alles wieder gut."
"Die Zeit ist ganz schön kaputt."
"Ach, bis dahin ist noch viel Wasser die Spree herabgeflossen."
"Hast du wirklich nicht eher wieder Zeit?"

*

Ich habe nicht aufgepasst. Ich stehe mitten auf der Straße, die Ampel ist rot. Ein Auto.
Die Zeit steht still.



copyright © by rabenkinder. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.



Kommentare


Hat mich
...diese Geschichte doch tatsächlich gefesselt und ich hab sie bis zum Ende gelesen. Die erste an diesem Abend!!! PS: Dies war ein Kompliment. *g*
Megagenie - 22.09.2003 01:07
Wie aus dem Alltag...
gigi - 17.04.2003 22:06
Vertraut
Nefret - 10.04.2003 18:18

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