von healing_addict
Die ersten Raketen schießen bereits seit vielenMinuten in der kalten Dezembernacht vor demFenster laut und bunt in die Luft. Knaller reißenmit kleinen Donnern die Luft auseinander undbeinahe auch die Trommelfelle der Menschen, diehinter den Fenstern in den Wohnungen sitzen. Esgibt jedes Jahr Leute, die nicht geduldig seinkönnen bis Mitternacht abzuwarten. Warum sie dieswohl veranstalten, dieses vorzeitige Feuerwerk?Möchten sie gerne die Ersten sein, die den Himmelmit bunten Lichtern und silbernem Regen schmücken,bevor die Schwefelschwaden der Tausend anderenRaketen die diesige Luft zu sehr trüben? Freuensie sich nur auf Neujahr oder haben sie es garbesonders eilig, das vergangene Jahr aus ihremLeben zu schießen? Vielleicht aber gehen nur dieUhren falsch, die sie an ihrem Handgelenk um Ratfragen nach der exakten Zeit, zu der es angebrachtwäre, die Zündschnüre zu entflammen. Mitternacht.Ich nehme ihnen in Gedanken jede Schuld, denn ichweiß, Kirchenglocken sind in diesen Teilen derStadt auch dann keine zu hören, wenn wir noch soangestrengt lauschen.
Große Sektgläser mit dezent wenig Inhalt in denHänden balancierend, steigen Margit und Sabine undich die Stufen in dem großen Treppenhaus nachoben, um gleich im vierten Stock durch dasFlurfenster die Lichter zu betrachten. Auf derStraße ist es uns zu laut und ein vorzeitigerKnallkörper, der uns direkt vor die Füße geworfenwurde, hat uns Vorsichtige sofort in denHauseingang zurückgeschleudert, aus dem wir erstgetreten waren. Wir wollen daher lieber von hieroben sehen, mit welchem Aufwand heute die Zeitzwischen den Jahren zu Neujahr hinübergeknalltwird. Minutenlang spähen wir drei durch dasFenster und recken unsere Hälse, um am Himmelzwischen den hohen Gebäuden draußen die schönenaußergewöhnlichen oder bekannt silbrigniederprickelnden Leuchtkörper abzuwarten. Margitverlagert ihr Gewicht von einem Fuß auf denanderen und wieder zurück, Sabine knabbert an demRest eines Pizzarandes. Ich betrachte dasholzgeschnitzte Treppengeländer und sehe imDunkeln auf meine Uhr. Ein junger Mann betritt imErdgeschoss das Treppenhaus, schaltet das Lichtein. Die Glühbirne im vierten Stock spiegelt sichim Fenster vor uns und nimmt solange, bis siewieder ausgeht, die Sicht nach draußen. EinigeMinuten lang. Vielleicht gehen wir um zwölf dochkurz raus, meint Margit, halb fragend.
Die Stunden zuvor sitzend und essend in SabinesWohnung im Erdgeschoss verbracht, nur zu drittdieses Jahr. Wir hatten Pizza gebacken, Tomate,Mozzarella, grüne scharfe Pepperoni vomgriechischen Gemüseladen um die Ecke. Oregano,Majoran, etwas Olivenöl. Keine Pilze, Margit magkeine Pilze. Dazu den Merlot aus dem Bioladen inechten Kristallglaskelchen. Hinterher Walnuss-Eis.Joan Armatrading aus den Lautsprechern der Anlage.
Eigentlich hatten wir für nach dem EssenBrettspiele bereitgestellt, die schon längerunserer Erprobung harrten. Noch immer sporadischvon der Blechpizza naschend, inzwischen kalt undauf dem Tisch neben uns abgestellt, haben wir unsdann aber in eins solcher Gespräche hineinbegeben, die sich unbeabsichtigt ergeben und dannstundenlang geführt werden. Es drehte sich um denFlirt. Um den Flirt an und für sich. Margit kamdrauf zu sprechen, ich vergaß wie. Wir redeten undwir hörten zu, wir blieben sehr subjektiv, wennwir redeten und aufmerksam, wenn wir einer anderenzuhörten. Ich weiß nicht, ob ich wirklich etwasverstand oder ob ich mich hauptsächlich an denGeschichten und Gefühlen der anderen erfreute.
Margit möchte so gerne lernen, wie dasfunktioniert mit dem Flirten. Jetzt nach dem Endeihrer langjährigen Beziehung das endlich malerleben. Jetzt, wo sie Gelegenheiten bekomme wardeutlich zwischen den Zeilen ihres Gesagten zulesen. Sie sah mich an, in mir die Erfahrenesuchend. Konzentriert und mit verstehend-engenAugenschlitzen hörte sie mir zu, wie ich inscherzhaft gedrechselten Anekdötchen von längervergangenen Erfahrungen erzählte, die sichernsthaft anfühlen. Wie war das noch mal, wiefunktionierte das, was wollte ich eigentlich. Ichfahre ein Leben, das sich seit einigen Monatenstark wandelt und neu und überraschend für michwird. Erinnere ich mich noch, wie es war, ich zusein damals? Aber vielleicht konnte sie ein Stückmitnehmen für sich aus dem, was ich für siezusammensuchte aus meinem damaligen, nettenErfahrungskistchen. Sabine hörte zunächst einfachzu. Ich glaube, da waren für sie Dinge dabei, diesie so nicht kennt. Mit Männern Flirten seiirgendwie anders, für sie zumindest, war ihrePerspektive. Ich hab vergessen, wie sie das genaubegründete. Aber das kannte ich wiederum nicht,stützte mein Kinn in die Hand und beugte mich vor,lächelnd und mich freuend, etwas von ihr zuerfahren. Begegnungen, deren Art ich so nichtkenne. Aber sind sie nicht nachvollziehbar,übertragbar? Ich bin mir nicht sicher.
Es ist kurz nach Semesterbeginn. Montag Mittag,ich sitze in der viel zu vollen Mensa und sehe zumFenster hinaus. Regen fällt und es herrschtherbstliches trübes Licht. Ständig regnet esderzeit, von einem goldenen Oktober ist nichts zusehen und ich glaube nicht, dass dieses Jahr nocheiner kommt. Dazu sind die Temperaturen zu niedrigund morgens bereits Novembernebel in den Straßen.Wenn ich unterwegs bin in meine frühenVorlesungen. Die Tage werden schon kürzer, es istdüster wenn ich morgens aufstehe und an manchenTagen schon dunkel, wenn ich nach Hause radle.
Auch sonst kaum ein Lichtblick derzeit für mich.
Ich wende mich meinem Essen zu, kein Sternemenu.
Vor mir ein überbackener Gemüseauflauf mitTomatensoße, als Beilage Salat und Erbsen.Säuberlich dargereicht in Unterabteilen desTabletts und weißen Schälchen aus unkaputtbaremPlastik. Standardgericht zwei, der Mensch nebenmir hat dasselbe gewählt. Er löffelt zugig,stetig, redet dabei mit seinem Gegenüber. Ihmscheint es zu schmecken, aber ich kriege heutenichts runter. Steche mit der Gabel von demAuflauf ab, spieße das Stück dann auf und schiebees mir in den Mund, was auch sonst tun damit. Esseden Bissen runter, schiebe mit der Gabel in derSchale mit den Erbsen herum. Esse keine. Der Salatbleibt unberührt, er könnte quietschen beim Kauen,besonders der rote. Heute mag ich kein Quietschenim Mund haben. Ich streife zwei Erbsen von denZinken der Gabel und lege sie wieder in dieVertiefung auf dem Tablett. Dort, wo das Besteckliegen soll. Die Hauptspeise rühre ich nichtweiter an, mein Bauch hat offenbar geschlossen.
Mit halber Aufmerksamkeit unterhalte ich mich mitdieser Andrea K., mit der ich zusammen esse. Wirsprechen über unser freiwilliges Engagement in derUni, die Studierendenvertretung, ich möchte nichtwirklich über die Dinge zu sprechen, die ich inder Fachschaft meines Studiengangs, mit meinenLeuten dort plane und durchführe. Dennoch erzähleich ihr davon. Oberflächlich reden wir über unsereMotive, keine Sache, einfach wichtig, so was zutun, ich will das auch machen, natürlich auch ausegoistischen Gründen. Da lerne ich ne Menge Dinge,die ich mal brauchen kann, ja, auch schon jetzt.
Natürlich. Organisation, Umgang miteinander ineiner Arbeitsgruppe. Ja, klar. Nette Leute sinddort übrigens auch. Schönes Armband hat sie da an,Schlangensilber, mit feiner Gravur am Verschluss.Es steht ihr, hat Stil. Andrea sagt irgendwas undlächelt. Meine Schultern sind müde, mir tut derRücken weh. Mein Bauch ist auch unruhig, dasMensa-Essen. Mein Gegenüber sieht mich an.
Offenbar wartet sie auf eine Antwort, was hat siewohl gefragt? Ich muss noch mal nachhaken, aber eswar wohl nicht wichtig. Ich sehe aus dem Fensterauf den Hof, Menschen eilen RichtungMensa-Eingang. Hier kommen immer viele zum Essenher. Andrea isst noch immer, wir reden aber nichtmehr. Mein Blick ist bei an Andreas Händengelandet, die am Platz gegenüber dem meinen Reismit Gemüse langsam, stetig, ruhig zum Mund führen.
Das tut sie noch einige Minuten lang, sie isstlangsam und ordentlich. Schließlich hat sie ihrMahl beendet. Wir stehen also auf und bringenunsere Tabletts zusammen zum Rückgabeschalter,steigen nebeneinander die Treppe ins Erdgeschosshinunter. Sollten wieder an die – ausnahmsweisegemeinsame – Arbeit, die Vorbereitung für einStudierendenfest, das im Dezember stattfindenwird. Auf dem kurzen Weg in die Räume derStudierendenvertretung erzählt Andrea von ihremCousin, der Inhalt der Anekdote entfällt mir imAugenblick, als sie spricht. Sie lacht danndarüber, ich lächele kurz mit. Andrea hat eineangenehm ruhige Art zu gehen, geordnet. Aberirgendetwas ist mit ihrer Stimme. Überhaupt,seltsame Frau. Ich reibe meinen Nacken undbeschließe, bald zu gehen, ist hoffentlich nichtmehr viel zu tun heute. Das, was noch zu erledigenist, könnten die machen, die vor der Mittagspauseerst gekommen sind. Warum ich? Ich werde michabsetzen, mein Stundenplan ist voll.
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healing_addict. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.