von healing_addict
Donnerstag Nachmittag, die Weihnachtsfeiertagerücken deutlich näher. Es ist erst Zehn nach undich überdenke, dieses Jahr endlich mal nicht zumeiner Familie zu fahren. Das wird nicht leicht,meine Mutter wird enttäuscht sein, aber ich willnicht hin. Und ich werde mich dieses Jahr danachrichten, was ich will und mit Freundinnen feiern.Wir wollen vielleicht nach Österreich rüber auf neHütte, auch wenn das bedeutet, vier volle Tagenicht in der Stadt zu sein. Auch schade irgendwie.
Die Stunde beginnt, ich sitze mit ausgestrecktenBeinen, wippe mit den Fußspitzen und kritzelescheinbar bedeutungsvolle Notizen auf das Handoutvor mir auf der Tischplatte. Große undschwungvolle Schriftzüge. Auf dem Platz neben mirwären sie bei Interesse sicherlich gut zu lesen.
Ich nippe einen Schluck aus meiner Wasserflasche.
Dieses wöchentliche Seminar voll von schlechtenBeiträgen wird wohl nicht in meinemstudienzeitlichen Gedächtnis bleiben, auch wenndie Präsentationsgruppe heute fähig ist, mich zuinteressieren. Thema ist die Strukturierungsozialer Interaktion. Genaugenommen wird von deraktuellen Referentin argumentiert, dass einGespräch nicht von einer Person auf ein geplantesZiel hin beeinflusst werden könne, und es dennochvon sozialen Bedingungen unterschwelligstrukturiert werde. Ich höre einigermaßenaufmerksam zu, was die Gruppe uns klarzumachenversucht und steige nicht richtig drauf ein.
Wesentlich scheint zu sein, welches Bild bei denGesprächsparterInnen voneinander vorliege. Diesesforme sich in den Begegnungen, die vor diesemindividuellen Gespräch zwischen denselben Leutenstattgefunden hätten, aber auch durch dietypischen Rollen, die diese Personen im sozialenZusammenleben einnehmen würden. Geld und Machtspielen offenbar eine wesentliche Rolle. DieStellung der Familie. Soziales Ansehen überverdientes Prestige, wie über ein angesehenes Amt.
Und natürlich Klischees, Stereotypen, Labels wieVorurteile.
Hm, ich mach eine Notiz. Jemand meldet sich. Aberwas ist, wenn ich gar nicht weiß, was der oder diefür eine soziale Rolle einnimmt? Kann es nichtsein, dass es kein Vorwissen gibt? Ich glaubenicht, dass ich mich so verhalte. Wir diskutieren,ich finde nicht, dass die Theorie überzeugt, biseine Frau, ganz hinten rechts im Raum sitzend,sagt, kuck doch mal. Wenn ein Mann auf eine Frautrifft, dann sind bestimmte Sachen bereitsvorstrukturiert. Egal, was für ein Mann? Ja, zumTeil schon. Er wird nicht so mit ihr reden, wiemit einem Mann, den er nicht kennt. Zumindestnicht zuerst. Später vielleicht, wenn sie sichbesser kennen. Er wird eine typisch männlicheHaltung einnehmen und von ihr eine typischweibliche erwarten. In gewissem Ausmaß. Unbewusst.
Ihr vielleicht die Tür aufhalten. Zwei Frauenstöhnen genervt. Die Frau verteidigt sich. Ja,aber das ist doch so. Auch wenn es euch nervt,würde er sich vielleicht so verhalten und es würdeseinem Geschlechterstereotyp entsprechen. UndGenervtsein strukturiert die Situation zwischeneuch doch eben auch, anhand eurergeschlechtertypischen Reaktion auf seinunsympatisches aber typisch männliches Verhalteneuch gegenüber. Wenn er euch ne Kippe anbietenwürde, fändet ihrs wahrscheinlich auch typischmännlich und gleichzeitig nett. Die beiden kuckenauf den Tisch vor ihnen. Ich kucke auf dieRednerin. Und so ist es auch mit anderen Faktoren,die Kleidung oder die Frisur oder was weiß ichsagt etwas aus über die soziale Stellung, wie vielGeld ihr habt oder so. Das findest du dann soforteher angenehm oder halt eben nicht. Wenn ihr euchmitteilt, was ihr studiert zum Beispiel. Oder hastdu schon mal nen sympathischen BWL-Studentengetroffen? Alle Lachen. Ich verstehe, was siemeint. Der eine Wirtschaftswissenschaftler im Raumlacht nicht mit. Ich weiß nicht, aber es hat was.
Ich kann dem Thema was abgewinnen und macheschnell eine Notiz.
Die Diskussion beflügelt mich nun, ich binaufmerksam, als das Referat weiter und mehr in dieTiefe geht. Mit der Zeit bringe ich sogarThemenblöcke in Zusammenhang, obwohl dieGliederung der Referatsgruppe nicht sehreinleuchtend ist. Lächelnd blicke ich auf dasPapier in meiner einen Hand und hebe die andere.
Interessanter Ansatz, potentiell. Dann istnatürlich ein Verhalten auch an der Achsesexueller Orientierung vorstrukturiert. So meinein den Raum gestellte gewagte These. Von der Frauhinten rechts wird sie fast sofort weiterausgeführt. Ein Mann, von dem ich als Frauannehme, dass er hetero ist, strukturiert meinGespräch anders als einer, von dem ich weiß, dasser schwul ist. Und noch einmal anders, wenn ichals Mann mit diesem Schwulen spreche. Gelächter,natürlich. Besonders laut lacht derWirtschaftswissenschaftler. Trotzdem freue ichmich über die Überlegung, die ich angestoßen habe.
Eine Kommilitonin meinerseits greift sie auf,biegt sie allerdings in eine andere Richtung ab.Es sind auch andere Handlungen anhand dieserFaktoren strukturiert. Z.B. wer im Treppenhauszuerst grüßen soll, der Mann zuerst die Frau, dieJüngeren zuerst die Älteren. Diejenigenniedrigeren Berufsstatus die höheren usw. Nur soals Beispiel, das mit dem Grüßen. Ich registriereteilweise Zustimmung während ich einen Schluck trinke.
Ich lausche und mache wieder eine Notiz. Es wirdganz gut. Die Diskussion scheint fruchtbar zusein, in Grenzen, aber doch. Meine Fußspitzenwippen. Auch wenn ich mit anderen im Raum glaube,dass das heutzutage alles weniger zwingend ist undmehr Möglichkeiten da sind, weniger starkeStrukturen. Nee, da sei dir mal nicht so sicher,das wirkt ja alles nicht bewusst sondernautomatisch, das sitzt tief in uns drinnen. Dieletzte Bemerkung von der Frau hinten rechts. MeinBlatt ist vollgekritzelt, sogar auf der Rückseite.
Mit fällt kein Argument mehr ein, ich lege denStift hin und nehme einen Schluck aus meinerbereits leeren Wasserflasche.
Die Zeit ist schon um und alle erheben sich. Ichbleibe noch auf meinem Stuhl und empfindeGenugtuung, dass diese Sitzung keineZeitverschwendung gewesen. Andrea neben mir stehtauf, sagt, sie gehe jetzt rüber in die Stuve.Müsse noch was tun. Ich erhebe mich, als sie ihrenRucksack greift, eine Hand in der Hosentasche undschon etwas der Tür zugewandt. Sie erscheint mirweniger seltsam heute. Andrea zögert, bevor sielosgeht, lächelt vage beim Tschüss blickt michkurz an dabei. Dreht sich dann um und geht weg.
Ich halte noch immer meine leere Plastikflascheund lächle ihm ein wenig nach, ihrem sichentfernenden Rücken.
Inzwischen knallt es so richtig, es ist kurz nachzwölf, Dutzende Menschen stehen mit ihrenhalbgefüllten Gläsern vor den Häusern und trinkenSekt, manche davon sind ziemlich betrunken. Aufder Fahrbahn stehen auch Leute, meist Männer, undfeuern hektisch Raketen ab, die sie in die Hälseleerer Flaschen gesteckt haben. Sie knien geduckt,mit Feuerzeug in der Faust, eine Rakete zischtschreiend in die Höhe, schnell die Flamme an dienächste Schnur gehalten, dann einen Knallerwerfen, dann wieder eine Rakete in die Flaschefummeln und anbrennen. Dort auf die Straße schauendie meisten Menschen nicht, die sichzusammenkuscheln und die Hände in den Handschuhenaneinander reiben. Schauen tun sie nach oben, woes bunt leuchtet und knallt und wo sich Silvesterabspielt. Schauen in den Himmel, der diesig heuteist und mäßig kalt, dort sehen sie und wir dieroten, grünen, silbrigen, goldenen Farbspuren vordem dunklen Nachthintergrund. Manche halten mitklammen Fingern Wunderkerzen. Ihr Licht istvergleichsweise ruhig und fahl. Die Luft riechtnach Schwefel. Dunkelgrüne Sektflaschen klirrenlaut aneinander. Wollmützen und Schals undDaunenjacken bekleiden die stehende Menge. Manchelaufen auch geduckt über die Straße. Atemwolkenerscheinen regelmäßig vor den Gesichtern, die demHimmel zugewandt sind. Zu hören ausschließlichlautstarkes Schwirren und Krachen und Brizzeln undKnistern der Feuerwerkskörper. Niemand will heuteNacht Taxifahrer sein. Und morgen ist also dasneue Jahr da. Oder eigentlich heute, also dasheißt schon jetzt? Aber irgendwie doch erst, wennwir morgen Früh aufwachen. Wenn es ruhig ist hierdraußen und die Nebelschwaden weggezogen sind,heller Tag und klare Luft. Man hört dann nichtsund niemanden in den Straßen und sieht dafür einegroße Menge unnütz gewordener Raketen. Ich denke,ich werde müde sein aber zumindest keinen Katerhaben, ich halte mich zurück mit dem Sekt heuteAbend, es ist auch so Silvester genug. Sabinestößt noch mal an mit uns und trinkt ihr Glas aus.
Margit und sie leeren die Flasche. Allmählich wirdes etwas ruhiger und die Menschen ziehen sich nachund nach in die Wohnungen zurück. Sie machen dortBleigießen oder legen sich die Karten, wer weiß.
Die Sektgläser nehmen sie mit, ihre leerenFlaschen lassen sie auf der Straße zurück. VolleMülleimer überall.
Sabine, Margit und ich gehen auch wieder inSabines Wohnung hinein, wir jedenfalls planen Bleizu gießen. Margit besonders, wie denn das halt fürsie werden würde im Neuen Jahr. Wir wissen schon,so ganz allgemein. Teilt sie uns mit, während sieden kalten Wollmantel an den Garderobehaken hängt.
Ich muss heftig gähnen und gehe erst mal aufs Klo.
Als ich zurückkomme öffnet Sabine noch eineFlasche Wein, während Margit den Tisch schonvorbereitet hat. Kerzen, eine Wasserschale. Einwenig ungeduldig fingert sie das eingeschweißteSet aus dem Baumarkt auf und nimmt drei kleineBleiherzchen und flache Löffel heraus. Sie hältden ihren über ihre Kerzenflamme, die nicht sorichtig hell brennt. Das dauere ganz schön lange,bis so Blei schmilzt, meint Margit. Meins gehtganz gut, das graue Stückchen Metall zerfließt wieder Typ aus Terminator II in eine Pfütze. Ichhalte auch Sabines Löffel während sie noch etwasvon der Pizza isst. Margit kippt schließlich dochals erste von uns schwungvoll ihre Bleiflüssigkeitin die mit Wasser gefüllte Schale und blättert aufSeite 132 der Anleitung. Also sie sucht lange indem Buch und hat dann ein Bild gefunden, daspasst. Zu dem Stück Blei, das sie vor unser allerAugen dreht und wendet. Sieht aus wie ein Stiefel,irgendwie. Findet ihr nicht? Doch, ja. Dasbedeutet laut Erläuterung gutes beruflichesVorankommen im ersten Halbjahr. Mehr steht danicht dabei. Ich kann bei meinem eigenen Klumpennichts erkennen und lege ihn gleich weg. Ist dochUmweltverschmutzung, diese Sache. Ja stimmt schon,aber es ist doch Silvester. Ich weiß ja, es istetwas albern, aber ich stelle mir eben gerne vor,dass es ein Zeichen dafür sein könnte, was dieZukunft mir bringt. Berufliches Vorankommen, hm.Ich zucke mit den Schultern und schenke mir vondem Wein nach. Ich halte nicht viel vonBleigießen. Ich trage rote Unterwäsche.
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