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WARUM?

von SunandSea2


Meine Gedanken und Erfahrungen zu einem meinem Meinung nach schwierigem und ernst zu nehmenden Thema...

Wir betreten das Gebäude. Ich fühle mich nicht wohl, meine Hände sind feucht und schwitzig. Kaum sind wir drin, werde ich von diesem mir sehr vertrauten Geruch umhüllt. Es riecht nach Krankenhaus, ungepflegten Menschen und die Luft ist so Sauerstoff arm, dass ich automatisch beginne, schneller zu atmen.

Wir kommen am Zimmer an und meine Mutter klopft leise, bevor sie die tür öffnet. es ist ein Vierbettzimmer. Drei Patienten schlafen, meine Oma eingeschlossen. Nur um ein Bett steht eine kleine Menschengruppe, deren leises Französisch, mit dem sie auf die Frau im Bett einreden, die abwesend an die Decke starrt, das einzige Geräusch im Zimmer ist.

"Hallo, wir sinds.", sagt meine Mutter leise, während sie meiner Oma sanft übers Haar streicht. Diese wacht auf und sieht sich verängstigt um.
"Nein, bitte nicht festschnallen.", fleht sie.
"Hey, wir sinds. Es ist Weihnachten und die ganze Familie ist gekommen, um dich zu besuchen.", sagt meine Mutter sanft aber trotzdem bestimmt. Sie hebt die Decke hoch, um die Hand meiner Oma zu nehmen. Im nächsten Moment zuckt sie erschrocken zurück.
"Schnell.", wendet sie sich an meinen Onkel, der gleichzeitig ihr Bruder und der Sohn meiner Oma ist. "Geh und hol eine Schwester, sie hat sich schon wieder die Kanüle aus dem arm gerissen, hier ist alles voller Blut!"
So schnell er kann rauscht mein Onkel an mir vorbei und nach draußen. Es dauert lange, bis er mit einer Schwester wieder zurück kommt.
"Ich muss Sie bitten, den Raum zu verlassen.", sagt diese knapp, während sie mit einem Stapel frischer Bettwäsche in den Armen auf uns zugelaufen kommt.

Wortlos leisten wir ihrem Befehl Folge. Wir setzen uns auf ein paar Stühle im gang, schräg gegenüber vom Zimmer.
Als ich den Schrei wenig später höre, bleibt mein Herz für einen Augenblick stehen. Sie schreit als würde man ihr schreckliche Qualen zufügen. Und das nur, weil sie vom Bett in einen Stuhl gesetzt wird.
"Nein! Hilfe! Hilfe! Nein!" Ich halte es nicht mehr aus. Ich stehe auf und gehe den Gang entlang bis in den Aufenthaltsraum. Dort lasse ich mich auf den nächstbesten Stuhl fallen und vergrabe meinen Kopf in den Händen. Obwohl ich weit vom Zimmer weg bin, höre ich meine Oma noch deutlich schreien. Es mischt sich mit dem bitterlichen Weinen eines Mannes vom Tisch neben an.
"Bitte bitte, ich will doch einfach nur sterben. Bitte. Bitte!" Erneut gefriert mir das Blut in den Adern. Noch nie in meinem Leben habe ich jemanden so bitterlich weinen hören. Ich versuche mir vorzustellen wie es sein muss, schlimme Qualen zu leiden und dabei zu wissen dass es nie mehr besser werden wird.
Ich selbst habe eine lange Krankheitsgeschichte und schon einige harte Operationen hinter mir. Ich hatte Schmerzen, warnsinnige Schmerzen, doch ich habe mich immer damit motiviert, dass es jeden Tag besser wird. Ich habe jede Besserung mit Freude und Erleichterung empfangen und habe mir wieder und wieder gesagt, dass es immer besser wird, Stück für Stück. "In einigen Wochen wirst du mit deinen Freunden einkaufen gehen. Und während es für alle das Normalste der welt ist, wird es für dich etwas ganz besonderes sein. Und das für immer." So habe ich gedacht. die Vorstellung, dass es nie mehr besser wird, kann ich unmöglich verarbeiten.
Der Mann weint nun noch bitterlicher. "Diese Schmerzen, sie sollen aufhören. Bitte bitte, sie sollen nur aufhören!". Meine Oma schreit nun auch wieder. Sie fahren sie mit dem Stuhl den Gang lang, in Richtung Aufenthaltsraum. In meine Richtung.
"Hilfe! Nein!", fleht sie. "Alles ist gut, ich bin doch da.", versucht meine Mutter zu beruhigen. Ich höre das sie weint. Und nun habe auch ich Tränen in den augen. Ich vergrabe den Kopf tief in meinen Händen und versuche mich zu beruhigen, versuche zu lächeln, nur um meiner Oma eine freude zu machen.

Später im Auto sagt keiner ein Wort. Mein Vater tritt mächtig aufs Gas und ich drehe mich noch einmal zum riesigen Gebäude der Psychiatrie um, dass nun schnell in der Dunkelheit verschwindet.
Ich lege mein Gesicht gegen die kühle Fensterscheibe. Draußen ziehen geschmückte Weihnachtsbäume vorbei. Eine Frau betritt mit einem Stapel Geschenke in den Armen ein Haus.
Auf meinem Bein spüre ich die kalte Hand meiner Mutter. Sie tut das um mir Halt zu geben. Das sagt sie. Aber in Wirklichkeit braucht sie selber Halt. Sie hält sich an mir, an meinem warmen Bein.
Ich weiß was sie denkt, dasselbe wie ich. Sie sieht die Bilder von meiner Oma, wie sie im Stuhl sitzt, mit den Füßen dauerhaft dagegen tritt und schreit und uns anfleht, dass sie nicht mehr am Bett festgeschnallt werden will. Dass das Geländer zu hoch ist um darüber zu klettern und das man sie nicht einsperren soll.
"Wir müssen es, sonst stehst du auf und das darfst du nicht, weil du dich sonst verletzen kannst. Mehrmals ist das nun schon passiert.", erwidert meine Mutter sanft, aber das versteht meine Oma nicht mehr.
Ich spüre die Hand nun kaum noch, ich sehe auch keine Weihnachtsbäume mehr. Meine Augen fallen zu und ich gleite in einen unruhigen Schlaf.

Ich laufe wieder den Gang in der Psychiatrie entlang. Es riecht genauso wie immer nach Krankenhaus und ungepflegten Menschen. Doch diesmal fühle ich mich nicht unwohl, diesmal habe ich keine schwitzigen Hände. Ich bin entschlossen. Ich halte etwas in meiner Hand. Ein kleines Döschen. Mit der freien Hand klopfe ich nun und öffne dann die Zimmertür meiner Oma. Die anderen Patienten schlafen, die Französin starrt abwesend an die Decke.
"Hey, ich bins." Ich streiche meiner Oma sanft übers Haar, um sie zu wecken. Sie sieht sich ängstlich um und fleht mich an: "Nein, bitte nicht festschnallen."
Ich habe Tränen in den Augen. Ich nehme ihre Hand.
"Nein, ich werde dir nichts tun. Ich werde dich erlösen. Jetzt wird alles gut."
Ich setze mich zu ihr aufs Bett. Vor meinem inneren Auge sehe ich meine Oma vor mir. Sie hält meine Hand, ihr Gesicht ist Tränen überströmt.
"Alina, mein Schatz?", fragt sie, wobei ihr das Sprechen viel Mühe bereitet. "Ja.", antworte ich und drücke ihre Hand. "Ich habe es dir schon so oft gesagt. Ich will sterben. Ich leide nur noch, es wird nie mehr besser. Bitte fahr mich nun zu dem Fenster und mache es auf, damit ich endlich erlöst werde." Ich antworte, nun ebenfalls Tränen in den Augen. "Nein, das kann ich leider nicht. Ich würde so gerne, aber ich kann es nicht, ich darf es nicht."

Nun hier auf dem Bett meiner Oma, in dem übelriechenden Zimmer, drücke ich auch fest ihre Hand. "Erinnerst du dich noch an meinen letzten Besuch im Altenheim?" Meine Stimme ist leise und brüchig. Ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. "Du wolltest das ich dir das Fenster öffne, damit du dich selbst erlösen kannst. Das habe ich nicht getan. Das kann ich auch hier nicht tun. Aber ich habe etwas, dass dich sicher erlösen wird."
Ich zeige ihr das Döschen und öffne es dann langsam. Auf dem Boden liegen zwei kleine runde Pillen. Meine Oma wird ganz ruhig. Ich weine nun bitterlich.
"Ich werde dich immer lieben, Oma. Ich werde dich immer lieben und vermissen. Ich liebe dich so sehr, dass ich es nicht aushalte, wie du leidest. Ich möchte das du glücklich bist."
Noch bevor ich ihre andere Hand nehmen kann, um die Tabletten hinein zu legen, hat sie sie schon entschlossen ausgestreckt und hält sie mir erwartungsvoll entgegen. "Danke, mein schatz. Ich werde dich auch immer lieben." Und mit den Worten legt sie sich die Pillen in den Mund. Sie greift nach dem fast vollen Glas mit Wasser auf dem Nachttisch und leert es in einem Zug. Dann legt sie sich zurück in die Kissen. Auf ihrem Gesicht breitet sich ein glückliches, dankbares Lächeln auf. Sie drückt meine Hand und wird ganz still. Ich sitze neben ihr, schaue sie nur an. "Ich werde dich immer lieben.", presst sie noch einmal hervor, bevor sie in sich zusammensackt. Ihre Hand wird schlaff, ihr Blick wird leer.
"Ruhe in Frieden, Oma.", sage ich unter Tränen, während ich ein letztes mal ihre Hand drücke. Und obwohl ich vor Trauer nicht mehr denken kann, obwohl mein Herz so sehr schmerzt, habe ich ein breites Lächeln auf dem Gesicht. Endlich hat sie aufgehört zu leiden. Endlich kann sie glücklich sein, wo auch immer sie ist.

Von einer zuschlagenden Tür werde ich abrupt aus meinen Träumen gerissen. Mein Onkel ist nun ausgestiegen und mein Vater steuert den Wagen entschlossen in Richtung Heimat.
Ich erinnere mich an meinen Traum und mir laufen tränen die Wangen herunter. Wirklichkeit sind die Bilder, die ich heute in der Psychiatrie gesehen habe. Wirklichkeit ist die Bitte meiner Oma, ihr das Fenster zu öffnen, damit sie springen kann. Das ist Wirklichkeit. Aber warum?
Warum lässt man Menschen so unendlich leiden, auch wenn sie einen anflehen, dass man sie erlöst?
Warum wird jedes Tier eingeschläfert, dass ein Paar Schmerzen hat, während Menschen am Leben gehalten werden, obwohl sie nicht mehr denken können sondern nur noch Schmerzen ertragen?
Warum nennt man so was Leben, wenn jemand bloß noch vegetiert und leidet?
Warum können wir Menschen uns so etwas anschauen und es einfach geschehen lassen?
WARUM???
Während ich mich das alles frage, sehe ich verschwommen weitere Weihnachtsbäume vor mir. Eine Familie läuft Hand in Hand in Richtung Kirche, eine Frau schiebt lächelnd einen Rollstuhl mit einer alten Frau. Wieder laufen mir die Tränen die Wangen herunter. Oma, ich wünschte du wärst hier bei mir. Und zwar glücklich. Aber egal was passiert, du wirst immer in meinem Herzen sein.



copyright © by SunandSea2. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.



Kommentare


danke
danke fuer deine story, hat mich beruehrt und auch wieder zum nachdenken angeregt
afterdark - 05.04.2013 05:52

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