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Wahrnehmungsstörung

von AzulBlauBleu


Ich starre auf die Heizungsrippe. Beobachte meine Hand, die wie ferngesteuert, das Schleifpapier umklammernd, hoch und runter fährt. Feiner Lackstaub rieselt auf den Boden. Du bist im Raum nebenan. Ich höre deine Bohrmaschine surren. Dann ist es wieder ruhig und mein Ritsch-Ratsch an der Heizung wieder zu vernehmen. Meine Gedanken schweifen ab. Die Heizungsrippe verwandelt sich vor meinen Augen in deinen Schenkel. Ich sehe ungläubig darauf und meine Hand bewegt sich plötzlich anders. Nicht mehr mechanisch. Langsamer. Die Bohrmaschine dröhnt wieder in meinen Ohren. Ich schüttle den Kopf und schleife weiter. Im Rhythmus der Auf- und Abbewegung sage ich stumm vor mich hin: was - verdammt - mache - ich - eigentlich - hier? Ritsch-Ratsch. Ich ziehe um, hattest du gesagt. In eine Traumwohnung. Eine Lackträne kommt mir vor die Finger und ich konzentriere mich darauf sie dem Untergrund gleich zu machen. Als du mich vor anderthalb Stunden zur Begrüßung in den Arm genommen hast, habe ich deinen Duft eingesogen. Deinen Geruch habe ich immer noch in der Nase, obwohl du weit weg bist von mir. Du hast geschwitzt. Ich habe dich viele Male schwitzen sehen. Eine Schweißperle rinnt dir die Wirbelsäule entlang und ich fahre mit dem Schleifpapier darüber. Ich will sie mit der Zunge aufnehmen, sie schmecken. Nebenan machst du gerade das fies plärrende Fahrradradio an. Dieses kleine Radio hatten wir dabei, als wir mit dem geliehenen Cabriolet unterwegs waren. Meine Aufgabe war es dir den Nacken zu kraueln und den Sender immer wieder nachzustellen. Eine Boy-Group quält sich durch einen alten Disko-Klassiker und ich höre, wie du mitpfeiffest. Ich stelle mir deine Lippen vor. Nicht den zu einem schmalen Strich gemeißelten, sondern den weichen Mund. Die Lippen, die über meinen Körper geglitten sind und an manchen Stellen verweilten. Ich merke, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht breit macht. Ich denke an den Nachmittag am Fluss. Die Sonne wärmt mich noch einmal, ich spüre dich an meiner Seite und habe sogar den leicht salzigen Geschmack des Schafskäse auf der Zunge. Er mischt sich mit dem Geschmack deiner Küsse. Dann unser eilige Aufbruch, mit 100 km/h durch die Stadt. Mit quietschenden Reifen kommen wir im Hafen an und scheuchen ein spazierendes Pärchen auseinander. Wir liegen uns in den Armen und sehen der Sonne beim Untergehen zu. Ich lächle noch immer, nur inzwischen mit einem dicken Klos im Hals. Ich stehe schnell auf und mein Kreislauf lässt mich kurz im Stich. Ich suche mir ein neues Blatt Schleifpapier, als du um die Ecke guckst. Ich meide deinen Blick, denn ich befürchte, dass du mich noch immer durchschauen kannst wie einen Glasbaustein. Sorgfältig falte ich das Blatt und fahre fort, die Heizung zu bearbeiten. Meine Hände sind mit grünlich-weißem Staub bedeckt, der die ausklingende leichte Sommerbräune meiner Finger überlagert. Ich war viel draußen in diesem Sommer. Mit dir. Ich schrecke aus meinen Gedanken als ich aus diesem unsäglichen Radio die ersten Klänge von "Bring me back to life" wahrnehme. Ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Dieses Lied ist eng mit dir und unserer Beziehung verbunden. Es lief im Radio, als wir uns das erste mal geliebt haben und für mich war es nichts anderes: du hattest mich ins Leben zurückgeholt. Ich glaube, dass du weißt, was der Song für mich bedeutet, denn du arbeitest mit einem mal viel hektischer und lauter, als es eigentlich nötig gewesen wäre. Die aufsteigenden Tränen schlucke ich mit viel Mühe herunter und mit großer Intensität widme ich mich dem alten Lack. Ich verlasse dich nicht. Diese Worte hallen in meinem Kopf. Du hast sie gesagt. Ich habe es nicht geglaubt und es ist nicht immer schön recht zu behalten. Du hast mich verlassen - auf den Tag genau vor zwei Monaten. Meine Finger schmerzen. Seit drei Tagen schleife ich Deine Heizungen und ich habe mir Pflaster über die aufgeplatzte Haut geklebt. Aber Pflaster halten nicht ewig und die Haut darunter ist dünn. Ich sollte mich melden, wenn ich bereit dazu bin. Du hast es nicht abgewartet und mich angerufen. Es war schön deine Stimme zu hören. Du warst immer sehr spontan und ich habe es geliebt. Mir fällt ein, wie du eines Abends plötzlich vor meiner Tür gestanden hast. Wir wollten uns eigentlich an diesem Tag nicht sehen, aber du hast mich angelächelt, geküsst und in die nächste Kneipe entführt. Ich lausche deinem Werkeln im Nebenraum. Der Frau, die ich seit ein paar Wochen wieder sehe - aber doch nicht wiedererkenne. Ich beobachte dich durch die geöffnete Tür. Du drehst mir den Rücken zu und ich erinnere mich daran, wie ich auf deinem nackten Körper gehockt und dich massiert habe. Mir ist warm. Ich gehe durch den Raum in dem du bist. Du lächelst mir zu. Ich hole mir eine Wasserflasche, setze mich ans Fenster und zünde mir eine Zigarette an. Du kommst dazu und rauchst mit mir. Ich sehe wie sich dein Mund bewegt, doch ich bin nicht in der Lage dir zuzuhören. Ich bemerke nur deinen Tonfall. Er ist so kalkuliert unerheblich. Es pocht in meinen Schläfen und mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Eilig stehe ich wieder auf und schleife die letzten Rippen der Heizung. Du begleitest mich zur Tür. Ich stehe vor dir und weiß, ich werde nicht mehr wiederkommen. Und ich glaube in deinen Augen zu erkennen, du weißt es auch.



copyright © by AzulBlauBleu. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.



Kommentare


gut geschrieben
nur wie schon gesagt , happy end wäre noch schöner gewesen , aber im Leben gibt es das ja auch meistens nicht (
Sprotte - 03.03.2004 23:01
alles hat ein ende
nudeline - 31.12.2003 19:44
beeindruckend
DasEkel - 19.11.2003 08:01

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