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Stories » Detail

Wie abendländisch ist Spinoza

von QueenOfHades


Wie abendländisch ist Spinoza oder Sehnsucht nach demMeeresgrund - Eine Uni-Geschichte ohne Abschluss

Ich habe mich an der Universität eingeschrieben. Ander großen. Der allgemeinen. In Philosophie. Ich habeinen Kurs in Hermeneutik besuchen wollen, das ist,glaube ich, die Lehre davon, warum der Mensch etwasauf eine bestimmte Weise versteht und der anderedasselbe auf eine andere Weise. Ich bin auch wirklichzwei, drei Male in die Vorlesung gegangen, und insProseminar auch. Das einzige, was ich verstanden habe,ist der Name Hans-Georg Gadamer.
Also das war nichts, natürlich, die reden ja alle vonDingen, die sie nicht verstehen, ich gebe wenigstenszu, dass ich nichts verstehe, nicht im Seminar, daswäre zu peinlich, aber überall sonst, immerhinverstehe ich etwas von Hermeneutik. Also so wie ichsie verstehe. Nur, meine Theorie ist in fünf Minutenerzählt, ich kann darüber kein Buch schreiben, ichhabs versucht, irgendwas stimmt da nicht, wenn ichmeine Theorie erzähle, gucken mich die Leute groß an,oder sie lachen amüsiert, oder sie lächeln und sagen:Ja, das ist ein guter Ansatz, aber das Problem istkomplexer.
Die, die was sagen, arbeiten alle an der Uni. Also habich mich eingeschrieben, weil, ich wollte was über dieKomplexität lernen, vielleicht gucken die Leute dannnicht mehr so komisch.
Aber irgendwie klappt das nicht so, wie ich mirvorgestellt habe. Ich lerne fast nichts Neues. Was mirüber Hermeneutik erzählt wird, hab ich vorher schongewusst, und wenns komplex wird, versteh ich nichtsmehr.

Seit zwei Wochen arbeite ich als Hiwi in derFachbereichsbibliothek. Mit den Studenten hab ichwenig zu tun, ich bin dafür verantwortlich, dass jedersein Buch an der Stelle findet, zu der ihn der Katalogsuchen geschickt hat, und falls es nicht da ist, binich dafür zuständig, ihm zu sagen, warum nicht, undwann er es bekommen kann.
Mittags zwischen halb zwei und drei kommt immer dieLeiterin des Instituts für MittelalterlichePhilosophie. Die wird immer ein bisschen arrogantbehandelt, weil, seit Frege und besonders seitWittgenstein braucht man für die Philosophie desMittelalters eigentlich kein Institut mehr. Undaußerdem sagt man, sie kann gar nicht richtig Latein.Dafür kann sie Arabisch, und richtig gut. Trotzdem hatsie mehr Kurse über Thomas von Aquin als über Avicennaoder Averroes. Ibn Sina heißt er, glaub ich. Schade.Sie sitzt immer an unserem großen Arbeitstisch undunterhält sich mit der Bibliothekarin über die anderenProfessoren der Fakultät. In meiner ersten Woche habich zu der Zeit noch Bücher einsortiert. Inzwischenmache ich zwischen halb zwei und drei immerirgendwelchen Schreibkram. Die zwei gucken manchmalkomisch zu mir rüber, und ich gucke konzentriert aufmeine Arbeit. Ich glaube, sie ist selbst ein bisschenarrogant, sie wendet sich einem nur zu, wenn man eineTutorenstelle hat oder wenigstens eine Zwischenprüfungmit Sehr Gut. Ich würde mit ihr so gern mal über dieAcht Kapitel von Maimonides reden, obwohl ich dieehrlich gesagt gar nicht so genau kenne. Aber ich habsie nicht mal fragen können, ob sie mal einMaimonides-Seminar macht.
Heute warte ich wieder einmal auf meine Chance. Ichverstehe kein Wort vom Gespräch, außer dass sie gemeinbehandelt wird. Plötzlich sagt sie etwas über diedeutsche Sprache, in der kenne man sich ja gar nichtaus, dasselbe Wort könne vollkommen unzusammenhängendeBedeutungen haben, das Wort Dichtung zum Beispiel,welchen Zusammenhang gibt es bitte zwischen Goethe undihrem Wasserhahn? Ich sage, Ein Sinn wird mitmöglichst wenig Worten so verdichtet, dass keine Lügemehr durchkommt. Sie wird steif, ganz kurz, dannlächelt sie erst auf den Tisch, dann dreht sie denKopf zu mir, und für einen Augenblick lächelt einblaugrüngrau schimmernder Meeresgrund in meine Seelehinein. Dann senkt sich der Meeresgrund wieder auf denTisch, und mit einem Ruck verabschiedet sie sich vonder Bibliothekarin bis übermorgen, morgen ist dererste Mai.
Sie hat immer so eine wunderschöne Art, ihre Haare ausdem Gesicht zu streichen, bei anderen geht mir das aufdie Nerven, aber ihre Haare legen sich wie Fächer umihre Ohren, sie hat einen großen runden Kopf undstarke blonde Haare, eigentlich ist es ja ein dummesVorurteil, aber ich glaube diesmal bestimmt, dieKopfform und die Haare deuten auf eine besondersstarke Intelligenz hin. Ich hab auch einen großenrunden Kopf und starke Haare. Aber meine legen sichnicht wie Fächer um die Ohren und sind auch nicht soblond. Vielleicht hellt sie ihre Haare auf? Sie sehenein bisschen so aus.
Ich konzentriere mich auf das Buch auf dem Tisch vormir, das heißt, ich konzentriere meinen Blick darauf,aber ich verstehe nicht mal den Titel. Gerade stehtsie auf und nimmt ihre Tasche und dreht sich dann ebendoch noch mal kurz zu mir hin und sieht mich an. Ichsuche den Meeresgrund. Es ist ein Tor davor.
Jetzt bin ich seit 25 Jahren in Deutschland und habwirklich viel gesucht, immer weiter weg von den 25Jahren in Deutschland, und plötzlich schnurrt genauhier in der Bibliothek der Fakultät für Philosophieund Geisteswissenschaften das Leben zusammen, das michwieder atmen lässt, und es ist ein Tor davor und ichmuss fast 48 Stunden warten, bis ich sie wiedersehe,und dann öffnet sie sich zu einer Bibliothekarin undderen Meinung zu Fakultätsintrigen.

Ein Seminar, der Begriff der Zeit bei Spinoza. Da binich schon etwas näher am Mittelalter als im Proseminarüber Hermeneutik. Ich sollte einen Aufsatz über denZeitbegriff in der abendländischen Philosophie inZusammenhang mit der Infinitesimalrechnungzusammenf assen und hab das auch gemacht und bin auchgelobt worden, weil, ich hab den Text verstanden unddarum die anderen auch. Aber was dann kam, hat mirnicht gefallen. Es hat dann ein anderer einen Textzusammengefasst über die arabische Mathematik inAbgrenzung zur abendländischen und ihren Einfluss aufSpinozas Denken. Den haben auch alle verstanden.Spinoza war großartig, und er hat einen großenEinfluss gehabt auf Goethe und auf mich und auf eineMenge anderer abendländischer Leute. Aber darübersteht kein Text zum Zusammenfassen im Handapparat, undwenn ich den schreiben würde, hätte ja doch keinerLust dazu.

Ich sollte das Graecum nachmachen. Wirklich. Man weißnie, wozu man es noch braucht. Ich bin mir zwareigentlich sicher, dass ich es nicht brauchen werde,seit ich eine Doktorandin getroffen habe, die überSokrates promoviert und trotzdem kein Griechisch kann.Aber wenn ich dann mal meinen Abschluss gemacht habeund mich jemand fragt, was ich gelernt habe, kann ichimmerhin sagen, Griechisch.

Plötzlich finde ich die Bibliothekarin interessant.Das ist eigentlich ein Kunststück, weil, sie hatlangweilige graue kinnlange Haare, und ihre Mundwinkelsind immer nach unten gezogen, und ihre Kostüme sindfürchterlich, und wenn sie mir nichts über dieBibliothek beibringen will, und das ist häufig, gibtsie irgendwelchen Studenten mit Mathematik- oderPhysikdiplom und Karos auf dem Pullover guteRatschläge für ihre Seminararbeiten. Sie variiert ihreRatschläge je nach Professor. Und deswegeninteressiert sie mich, ich bewundere sie sogar, obwohlsie mir keine Ratschläge gibt, aber ich hab ja auchnoch kein Diplom. Aber weil sie die Professoren so gutkennt, senkt sich der Meeresgrund auf sie.

Der Meeresgrund heißt bürgerlich PD Dr. SolveigBrenner. Sie ist in England geboren und alsJugendliche nach Deutschland gekommen. Obwohl ihrInstitut eigentlich überflüssig ist, reden alle übersie, aber nicht über ihr Institut. Warum darf sie einInstitut leiten, obwohl sie gar keine ordentlicheProfessorin ist? Der Rektor oder der Dekan hatteMitleid mit ihr, sie muss sich ja das Forum erstschaffen, auf dem sie in die Öffentlichkeit tretenkann, und die arabische Philosophie des Mittelaltersist ihr Lebensinhalt, und sie leistet ja auch ganzordentliches, sie vertritt die deutsche Stimme derarabischen Philosophie innerhalb derwissenschaftlichen Welt alleine. Natürlichinteressiert sich die wissenschaftliche Welt kaum nochfür die arabische Philosophie des Mittelalters. Aberdie ist eben ihr Lebensinhalt.
Frau Brenner, ich nenne sie S., den ganzen Vornamentraue ich mich nicht auszusprechen und "Frau Brenner"klingt mir viel zu distanziert, S. also streitet immernoch um die ordentliche Professur. Das tut sie seitungefähr zehn Jahren. Sie hatte schon Angebote nachPrinceton, na schön, "Angebote" ist übertrieben, alsoein Angebot, und das hat sie ausgeschlagen. Vor siebenJahren. Weil, da hat sie gerade dieses Institut hieraufgebaut.
Ich stelle mir vor, wie sie auf Englisch eineVorlesung hält. Ich hab so ein Gefühl, wenn sie aufEnglisch lesen könnte, wäre sie viel mehr in ihremElement als jetzt. In Princeton würde man ihren Akzentbestimmt bewundern als ein Echo der versunkeneneuropäischen Gelehrsamkeit. Aber welchen Akzenteigentlich, auf Deutsch hat sie keinen. Wie sprichtsie, wenn sie Englich spricht, mit Oxford-, Bristol-,Cockney-, Yorkshire-Akzent? Oder mit einem deutschen?Aber das kann ich mir nicht vorstellen. Ihr Nameklingt nach einer Mischung aus Burschenschaft Teutoniaund deutschjüdischer Emigration. Sie wird es damitnicht leicht gehabt haben in England, und inDeutschland auch nicht. Ich sehe sie inmitten einesHaufens 15jähriger Kinder, und sie heben alle denrechten Arm und machen gemeine Witze. Und dann kommtsie nach Deutschland, und wieder heben alle vor ihrden rechten Arm und machen gemeine Witze, diesmal auchErwachsene.
Außer mir hört niemand die Untertöne, die aus ihremNamen dringen. Und dieselben Untertöne dringen ausjeder Pore ihrer Haut. Und weil so beharrlich keinerwas hört, denke ich, vielleicht höre ich nur dasRauschen meiner eigenen Geschichte.

Sie guckt nicht mehr komisch, wenn ich mit ihr amgroßen Tisch sitze. Die Bibliothekarin auch nicht. Dieguckt gar nicht mehr. Und ich suche mir immer einmöglichst dichtbedrucktes Blatt zum Draufstarren.

Das mit dem Starren weitet sich aus und wird mirunerträglich. Bei jedem Wort, das mich irgendwie anPhilosophie erinnert, lächelt mir der Meeresgrundentgegen, und er wird immer mehr zu einem Grinsen. Ichertrage ihren Anblick nicht mehr, wenn ich sie nurhöre, reißt jede meiner Zellen in eine andereRichtung. Ich kündige meine Stelle in der Bibliothekund will nie mehr irgendwas von Philosophie hörenmüssen. Ich kanns aber nicht lassen und verabschiedemich von S. persönlich. Und da rieselt wieder dasMeerwasser in mich hinein, also nicht dass das jetztjemand falsch versteht, sie sagt nichts weiter als"Also dann wünsche ich Ihnen, dass Sie etwas finden,das Ihnen mehr entspricht."

Ich habs gefunden. Seit zwei Jahren arbeite ich alsKellnerin in einem Theater. Eines Abends kommt einedurchreisende Kabarettistin, und das Theater wird fürvier Tage ein Sog für alle, die hören können. S. hatjetzt einen anderen Namen, der auch mit S anfängt,aber ich hab ihn noch nie gehört. Das meiste von dem,was sie deklamiert, verstehe ich nicht. Aber vomGitter merke ich nichts mehr.

(Für C.)



copyright © by QueenOfHades. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.



Kommentare


Spinoza
Moege Dir alles gelingen welches Dir gelegen ist.

Meine Goettin, Du sprichst mir aus der Seele

Sappho
sapphoo - 23.06.2004 22:11
für C.?
katzengold - 07.04.2004 02:11
wow
mehndi3000 - 07.04.2004 00:17

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