von IloveYvonne
Ich starrte auf die Leuchtziffern des kleinen, schwarzen Funkweckers am Fuß ihres Bettes. Er nervte zwar nicht durch ununterbrochenes, lautes Ticken, doch die Ziffern - sie wirkten fast bedrohlich rot. Sie zeigten 05.39, draußen begann es bereits allmählich wieder hell zu werden. Sie hatte das Rollo nicht heruntergezogen und warmes, helles Licht fiel durch die Fensterscheibe. Ich bevorzuge Rollos oder zumindest Vorhänge, denn es kann mir nie dunkel genug sein. Ich habe in jeder meiner Wohnungen Vorhänge besessen. Vorhänge, die so lang waren, dass sie über den meist ungeputzten Boden schleiften, wenn der Wind ohne Erbarmen durch die Ritzen der undichten, alten Rahmen kroch. Ich muss dazu sagen, ich wohnte immer in irgendeiner Altbauwohnung, die zu renovieren es nicht lohnte und deren Fenster ich aus Faulheit auch nie putzte, so dass es aussah als würde der Dreck der letzten Jahre das Glas von innen zerfressen. Daher mussten einfach Vorhänge her, am besten schwarze blickdichte. Vorhänge, hinter denen man sein Gesicht verbergen kann ohne darauf verzichten zu müssen selbst einen Blick auf die Welt dort draußen erhaschen zu können. Ich konnte mein Leben lang nur im Schutz der Dunkelheit schlafen und aufwachen, selbst als Kind habe ich immer stolz behaupten können mich nie vor der Nacht zu fürchten. Sie schien es dagegen zu mögen im hellen zu schlafen und ich glaubte in dem hereinbrechenden Licht die ersten Sonnenstrahlen in diesem Jahr zu erkennen. Die ersten Sonnenstrahlen nach einem so kalten und langen Winter, wie ich ihn schon seit Jahren nicht mehr erlebt habe und die ersten Sonnenstrahlen an diesem Morgen mit ihr. Ich konnte mich nur Stunde um Stunde von einer Seite auf die andere wälzen.
Es war der sechzehnte Januar 2005, ein Sonntagmorgen, um genau zu sein. Von der gegenüber liegenden Straßenseite ertönte die Kirchenglocke, um die Gläubigen der Umgebung bald in die Messe zu locken, eine Straßenbahn fuhr vorbei, man hörte Menschen miteinander plaudern – langsam wurde es unruhig auf der belebten Hauptstrasse unter ihrem Fenster. Ich warf wieder einmal einen kurzen Blick auf den Wecker: es war bereits kurz nach sieben. Ich seufzte leise. Seit Stunden lag ich mit geschlossenen Augen unter der blauen, weichen Wolldecke und sog den Duft, den sie in den vielen vergangenen Nächten in ihr hinterlassen hatte in mich auf - ohne auch nur eine Minute wohlverdienten Schlaf zu finden. Sie war bereits wenige Minuten nach dem Zubettgehen eingeschlafen - ganz nah bei mir.
Sie hatte mir das Gesicht zugewandt, ihre rechte Hand griff in das unter ihrem Kopf liegende Kissen als suche sie selbst im Schlaf nach Halt, Haarsträhnen umspielten ihren Mund. Sie hatte volle, rote Lippen, das war mir bereits aufgefallen, als sie mir das erste Mal begegnete.
Wir gern würde ich sie berühren, doch alles was ich tat war ihrem Atem zu lauschen.
Sie sah so wunderschön aus, ich konnte es nicht lassen sie andauernd anzuschauen. Sie musste morgens eine Ewigkeit an Zeit aufwenden, um ihre Augenbrauen mit einer solchen Perfektion zu zupfen, ihre Haut schimmerte trotz der Stunden, die sie in einer verqualmten Disco verbracht hatte rosig, einige Sommersprossen amüsierten sich rund um ihre Nasenpartie. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass sie sich abgeschminkte hatte. Mich schüttelte es - und dann war es wieder da, dieses Kribbeln in der Magengegend. Ich erinnere mich noch gut daran, als ich als Kind, ich muss etwas sechs oder sieben Jahre gewesen sein, mein komplettes Taschengeld in zuckersüße, bunte Brause in Röhrchen umgesetzt hatte und meine Mutter deswegen fürchterlich mit mir schimpfte. „Die Erwachsenen sagen immer, wenn man jemanden sehr lieb hat und mit ihm kuscheln mag, dann hat man ein ganz dolles Kribbeln im Bauch.“ hatte mir meine beste Freundin Laura verraten. So glaubte ich, dass wenn ich nur ganz viel Brause essen würde mich so fühlen würde wie einmal Mama und Papa – als ich noch nicht da war. Ich fühlte mich schrecklich schlau und erwachsen, doch am Ende lag ich mit Bauchweh im Bett und durfte Kamillentee trinken. Und es war Oma Elli, die ehemalige Arbeitskollegin und langjährige Freundin meiner Mutter mit den weißen Locken und dem herzlichsten Lachen, das ich kannte die mir zärtlich übers Haar fuhr und mir versicherte, dass ich so lange Kind bleiben dürfte wie ich wollte. Sie konnte ihr Versprechen nicht halten.
Ich weiß nicht, ob ich es hassen soll – dieses Magenkribbeln. Ich kenne es gut, ich habe es in den letzten Jahren oft in der Gegenwart eines Mannes verspürt und es gab nie den geringsten Anlass zur Sorge, dass es ihm nicht genauso geht. Gegangen bin ich trotzdem. Ich bin immer gegangen. Ob nun nach drei Monaten Beziehung oder nach zwei Jahren – was blieb war dieser Kloß, der unaufhaltsam meinen Hals hinauf kroch, bis ich ihn herunterschluckte und glaubte mich damit der Vergangenheit entledigt zu haben. Es ist wie nach bestimmten Filmen, die man sich angesehen hat und nach denen man sich weder besonders gut noch besonders schlecht fühlt – man hat nach ihnen nur den Drang sein Leben zu ändern - wenn die Nacht vorüber ist. Es kommt einem dann vor, wie das Einfachste der Welt.
08:30 Uhr: Der erste ihrer drei Wecker begann zu schellen Schlaftrunken schälte sie sich aus ihrer Decke, blinzelte wenige Sekunden in Richtung Fenster - ihre Haaren versperrten ihr die Sicht - drückte dann auf die Schlummertaste von Wecker Nr. 1, um ihr Gesicht sofort wieder in ihrem Kissen zu vergraben.
„Kannst noch ein bisschen weiterschlafen“ murmelte sie noch mit leicht heiserer Stimme, so dass ich ihre Worte eher erriet als sie wirklich verstand. Ich drehte mich auf den Bauch. Auf diese Weise konnte ich direkt in die Spiegeltür ihres Kleiderschrankes schauen. Man sah mir unweigerlich an, wie wenig ich geschlafen hatte und überhaupt: w i e lange ich nicht geschlafen hatte. Unter meinen Augen hatten sich tiefschwarze Ränder gebildet und ich war blass Mein Lieblingskajal hatte sich durch das stundenlange Tanzen mit Schweiß vermischt und abgesetzt. Ich rieb mir die Augen – in dem Glauben dadurch besser sehen zu können. Stattdessen beförderte ich durch mein ungeschicktes Tun immer mehr Kajal in meine Augen, was sie so sehr reizte, dass mir die Tränen kamen. Da gab sich Wecker Nr. 1 plötzlich wieder mit Begeisterung seiner Aufgabe hin. Ich hätte das Teil in diesem Augenblick gegen die Wand schmeißen können. Ich hätte m i c h gegen die Wand schmeißen wollen – dafür dass sie meine Tränen sah und dass die Zeit so schnell verging.
„Hey, was ist los?“
Ich schaffte es gerade mir mit dem Ärmel des T-Shirts, das sie mir geborgt hatte die Tränen wegzuwischen, die dieser dumme Kajal provoziert hatte.
„Nichts“
Ich blickte sie kurz an. Sie lächelte und strich sich dabei eine Haarsträhne hinters Ohr – wie Frauen es nun mal so tun.
Zwei Wecker und zehn Minuten später saßen wir uns schweigend gegenüber. Ihre Wohnung war riesig, sie hatte ein von der Küche abgetrenntes Esszimmer auf einer Empore – beinah wäre ich über die Stufe gestolpert -, dazu einen Esstisch, an dem Platz für eine sechsköpfige Familie zu sein schien.
Mitten auf dem Tisch stand ein Strauß roter Rosen. Wer ihr die wohl geschenkt hatte?
Vor mir stand eine dampfende Tasse Kaffee. Langsam ließ sie einen Würfel weißen Zucker in die schwarze Flüssigkeit gleiten. Ich achtete lediglich auf ihre Nägel. Was sie der Besuch im Nagelstudio wohl regelmäßig kostete?
Mein zerknautschtes Gesicht begann sich im Kaffee zu spiegeln, schnell begann ich umzurühren. Ich wollte es nicht länger als nötig betrachten.
„Wo soll ich Dich denn gleich hinfahren?“ fragte sie plötzlich in die Stille hinein.
„Du brauchst mich nicht fahren, ich nehm’ die Bahn. Mach Dir bitte meinetwegen keine Umstände“ erwiderte ich leise. Ich muss dabei ausgesehen haben wie ein Hund, der etwas angestellt hat und nun mit eingezogenem Schwanz vor seinem Frauchen hockte und seine Strafe erwartet.
„So ein Unsinn. Ich bestehe darauf. Das ist doch selbstverständlich“.
Sie lächelte wieder – nun beinahe mütterlich. Sie trug noch immer den metallic blauen Satinschlafanzug. Ich kann mich erinnern, dass ich auch mal so einen besaß. Mittlerweile war ich aber dazu übergegangen in T-Shirts zu schlafen.
Ohne jeglichen Zusammenhang begann sie mir von einem Typen zu erzählen, den sie in ihrer Stammkneipe kennen gelernt und mit nach Hause genommen hatte.
„Er hat gesagt, ich sei lieb und nett, alles sei super, aber ich sollte erstmal 30 Kilo abnehmen, dann könne man ja weitersehen. Und das bei meiner Eßproblematik..“
Sie verdrehte die Augen. Der Stoff spannte über ihren Hüften, unter ihrem Pyjamaoberteil wölbte sich eine beachtenswerte Oberweite - sie war ohne Zweifel ein wenig mollig. Ich hatte es nie für möglich gehalten, dass ich eine mollige Frau einmal derart anziehend und begehrenswert finden würde.
„So ein Spinner“ erwiderte ich und zuckte mit den Schultern. Meine wahren Gedanken behielt ich für mich – sicher, dass sie eh nichts mit ihnen anzufangen wissen würde. Sie wirkte wie ein kleines Mädchen: unsicher, verletzlich und voller Minderwertigkeitskomplexe. Ich hatte das Bedürfnis sie in den Arm zu nehmen, ihr mit der rechten Hand über das Haar zu streichen und mit der linken sanft über ihren Rücken zu gleiten, um dann auf ihre Hüfte zu ruhen, doch ich zupfte nur nervös an meinem T-Shirt und sah die Zeit verstreichen. Sie war niedlich, auf eine gewisse Art war sie das, da bestand kein Zweifel – und vermutlich ist es auch das, was mir von ihr immer in Erinnerung bleiben wird.
„Wohin soll ich Dich denn gleich fahren?“ fragte sie nun mit etwas Nachdruck in der Stimme. Sie schaute auf die Uhr und trank im Anschluss den letzten Schluck Kaffee.
„Bist Du noch verabredet?“ fragte ich, ohne die Antwort wirklich wissen zu wollen.
„Ja, ich treffe mich in einer halben Stunde mit einer Freundin. Wir reiten aus“ erwidert sie hastig und machte sich auf den Weg ins Bad. Während ich auf sie wartete, zog ich die Beine an, stützte mein Kinn auf meine Knie ab und lies meinen Blick schweifen – ohne an etwas Konkretes zu denken. Das habe ich die letzten Jahre oft gemacht: da hocken, nur umherschauen und jeglichen Gedanken wegschieben – ob positiv oder negativ.
„Hast Du alle Deine Sachen?“ fragte sie und riss mich aus meiner Lethargie.
Es war wohl an der Zeit zu gehen.
Sie nahm ihre Jacke von der versilberten Garderobe im Flur, warf noch einmal einen sehr Blick in den Badezimmerspiegel und setzte eine Käppi auf.
„Haare waschen brauche ich jetzt nicht, die stinken gleich eh wieder nach Pferd.“ sagte sie beinah rechtfertigend eher zu sich selbst als in meine Richtung.
Sie brauchte danach mindestens drei Minuten, um ihre Stiefel über die kräftigen Waden zu ziehen und den Reißverschluss zu schließen. Die Tatsache, dass ich sie bei diesem schwierigen Unterfangen beobachtete, schien sie peinlich zu berühren.
„Hast Du nun alle Deine Sachen?“ wiederholte sie.
Ich blickte an mir herunter. Ich trug dasselbe Outfit, dass ich den Abend zuvor getragen hatte – mit dem Unterschied, dass das Shirt nach stundenlangem Tanzen durchgeschwitzt war, die Hose von einem Wodka – Kirsch - Fleck geziert wurde, den wohl kein Waschpulver jemals rausbekommen würde und überhaupt beides ganz extrem nach Zigarettenqualm stank.
„Ich hatte doch keine Sachen.“ erwiderte ich leise, aber wahrheitsgetreu.
„Ach ja, richtig. Tschuldigung, ich bin morgens geistig noch nicht so ganz auf der Höhe.“ erwiderte sie, während wir durch das Treppenhaus gingen und ich ihr wie selbstverständlich die Tür aufhielt.
Hier wohnte sie also. Eine riesige, schicke Wohnung in einem wirklich unscheinbar aussehenden Mehrfamilien - Haus am Fuße einer Hauptstrasse. Bei diesem Gedanken muss ich unbemerkt einen Seufzer ausgestoßen haben, denn sie wandte mir wie aus einem Reflex heraus ihr Gesicht zu und lächelte. Sie wirkte etwas müde, aber sie lächelte. Sie lächelte eigentlich immer, egal über welches noch so ernste Thema man mit ihr redete. Warum sind mir Menschen, die andauernd lächeln irgendwie suspekt?
Ich stieg wieder in den dunkelblauen Golf, dessen Tür ich heute Morgen gegen vier zugeschlagen habe, um bei ihr zu übernachten. Wenige Minuten später hielt sie vor dem Haus, in dem ich seit einigen Monaten eine kleine und immer noch nicht fertig eingerichtete Wohnung bewohnte. Ich musste ihr den Weg nicht zeigen, sie wusste wo ich wohne.
„Sehen wir uns noch mal wieder?“ fragte ich sie zögerlich. Die Hoffnung klettere aus meiner Magengrube empor in mein Gesicht und hat es sicherlich tomatenähnlich rot eingefärbt.
„Du, sei mir nicht böse, aber ich möchte Dir nicht weh tun…“ erwiderte sie, als sei es das Einzige, was sie je zu sagen gehabt hätte. Das Einzige, was es auch zu sagen gäbe, nachdem man mit jemandem in einem Bett geschlafen hatte, um dessen Gefühle man wusste. Zumindest in ihrer Vorstellung.
Ich schwieg. Was sollte ich auch antworten?
Solche Situationen schienen sich wie ein roter Faden durch mein Leben zu ziehen, seit ich denken kann. In dem Glauben zu gewinnen, verlor ich stets, mit der Gewissheit, alles würde sich zum Guten wenden, wenn man nur fest daran glaubte stand ich zum Schluss immer da wie ein begossener Pudel vor – allein.
Sie umarmte mich als seien wir alte Bekannte, die sich nach langer Zeit wieder gesehen hätten. Ich krallte mich im Stoff ihres Pullovers fest, unter meinen Finger spürte ich den Verschluss ihres BHs und der Duft ihres Shampoos stieg mir in die Nase, als ich mich nach einigen Sekunden von ihr löste und einige Haarsträhnen mein Gesicht streiften. Ich schloss die Augen.
„Sie war unter Zeitdruck, sie war sehr beschäftigt, sie war im Stress, sie hatte eine Verabredung.“ versuchte ich mir zwanghaft in Erinnerung zu rufen.
Sie war die, die sie immer war: eine Frau, die keine Zeit zu haben schien. Zumindest betonte sie das bei jeder sich ergebenden Gelegenheit, zumindest hatte sie keine Zeit für mich übrig. Wahrscheinlich lag ihr auch jetzt daran mich schnellstmöglich los zu werden.
„Ich geh’ dann mal. Danke für Deine Hilfe. Das war keine Selbstverständlichkeit. Ich hoffe, Du hattest keine Angst vor mir.“ Den letzten Satz wollte ich mir an sich sparen, aber nun war er gesagt. Meine Worte wirkten ohnehin gequält genug, das wusste ich - was spielte es dann noch für eine Rolle?
„Warum sollte ich denn Angst vor Dir haben? So ein Quatsch. Und klar, für mich war es schon selbstverständlich, dass Du mit zu mir gekommen bist. Ich wünsch’ Dir noch nen schönen Tag, ja?“
Eine Sekunde lang wirkte sie irritiert und verunsichert, dann folgte wieder dieses obligatorische Lächeln. Ich nickte, wandte mich dann schnell ab und stieg aus. Ich fühlte mich, als würden zwei gegensätzliche Kräfte an mir reißen. Die eine wollte, dass ich blieb wo ich war und aussprach, was ich dachte, die andere zerrte mich schweigend aus dem Wagen.
Sie ließ keine Sekunde vergehen, startete den Motor und war schon bald in der nächsten Seitenstraße verschwunden, während ich noch mindestens eine viertel Stunde einfach nur am Straßenrand stand und ihr hinterher starrte, als könnte ich sie damit noch einen Moment länger bei mir halten.
Vermutlich war das der Moment, in dem ich beschloss zu verschwinden, ganz genau weiß ich es nicht mehr. Einige sagen, dass ich schon Jahre vorher verschwunden sei, im Dezember 1999, einen Monat vor meinem sechzehnten Geburtstag, aber ich glaube so wirklich bewusst traf ich diese Entscheidung erst an diesem Sonntagmorgen, als ich dort stand, ihr nachschaute und dabei mit einem Stoß einen Stein mit der Spitze meines Turnschuhs auf die Straße beförderte. Ihr Parfum klebte an meinem Shirt und schien den Zigarettenqualm völlig übertüncht zu haben, ihre letzten Worte hämmerten in meinem Kopf – und erst jetzt bemerkte ich, wie Tränen über meine Wangen rannten und auf meine Oberlippe tropften. Ich fuhr mit der Zunge darüber und schluckte sie herunter – sie waren heiß und salzig und voller Erinnerungen. Ich wusste es schon seit Monaten, aber nun war der Gedanke so klar, so unverfälscht und so unmissverständlich, wie er nur sein konnte: Ich liebte diese Frau. Ich liebte sie so sehr, dass es richtig schmerzte. Ich liebe sie aufgrund all der Bruchstücken, die ich in den letzten Monaten von ihr aufsammelte, zusammensetzte und in mich einsog.
Zu Hause angekommen warf ich mich auf mein Bett, meine Schuhe plumpsten laut auf den hellen Parkett und ich blickte an die Decke, an der seit Jahren ein Poster von <i>Kurt Cobain</i> hang. Mit strähnigen, schulterlangen blonden Haaren, im Schlabberlook und der Gitarre in der Hand zog er genüsslich an seiner Zigarette und blinzelte in die Rauchschwaden, die er ausstieß. Ja, ich bewunderte ihn, ich habe ihn immer bewundert. Nicht weil er mit seiner Band so große Erfolge feiern konnte, sondern weil er den Sprung in die Freiheit schaffte. Er hat sich mit einer Schrothflinte und Unmengen an Heroin im Blut erschossen, hinterließ Frau und eine kleine Tochter. Man fand seine Leiche am 8.April 1994 auf dem Dachboden seines Gewächshauses in Seattle, als ich gerade die Grundschule hinter mir ließ. Was würde ich tun, würde man mir eine Waffe geben? Jetzt. In diesem Moment. Nach dieser Nacht. An diesem Sonntagmorgen. Nach 5 Jahren Therapie, die sich endlos zogen müsste ich eigentlich in der Lage sein dankend abzulehnen, doch ich befürchte ich hätte mir das Gehirn weggeblasen – das Gehirn und die Erinnerung an die letzte Nacht. Mein Therapeut wäre enttäuscht von mir, würde seine Aussage über den Therapieerfolg zurücknehmen und mich vermutlich in die Klinik einweisen lassen, würde er mich jetzt so sehen und meine Gedanken lesen können. Doch was spielte das für eine Rolle? Das einzige, was eine Rolle zu schienen spiel war sie. Du kleines, dummes Mädchen. Wieso hast Du es nicht versucht? Wieso hast Du diese vermutlich einmalige Chance verstreichen lassen? Du hättest mit ihr schlafen können. Wieso ich es nicht versucht habe? Plötzlich begannen sich all diese Zweifel in meinem Kopf zu regen. Weil ich sie liebte. Weil es alles noch viel schlimmer gemacht hätte, meinen Schmerz noch mehr gesteigert hätte. Und nicht zuletzt, weil ich mich nicht genauso verhalten wollte, wie sie es erwartete. So sehr ich auch versuchte mich vor mir selbst zu rechtfertigen und daran zu glauben, das einzig vernünftige und richtige in dieser Situation getan zu haben, so schmerzhaft war es erkennen zu müssen, dass ich ihr wohl nie wieder so nah sein werde. Ich wollte sie anrufen, ihr eine SMS schreiben, sie treffen, sie in meine Arme schließen, ihr noch einmal meine Liebe gestehen – stattdessen löschte ich ihre Nummer aus meinem Handyverzeichnis und heulte mein Lieblingskissen voll. So war es nun mal. Ich hatte mich wieder einmal unglücklich in eine Frau verliebt. Nichts ungewöhnliches, nichts Besorgniserregendes und etwas, das vorbeigehen würde. Mein Therapeut behauptete, dass es statistisch gesehen ein Jahr dauerte, bis man eine unerfüllte Liebe überwunden hat. Ich glaubte nicht daran, dass ich es in drei Monaten überstanden haben würde. Ich glaubte an nichts mehr.
Auf dem Weg ins Bad zog ich mein dreckiges Top über den Kopf und ließ es einfach auf den Boden fallen, meine Hose landete neben dem Schirmständer im Flur, den ich neben dem großen, ovalen Spiegel platziert hatte. Der Spiegel war ein Geschenk meiner Tante mütterlicherseits. Es war lediglich dieser Umstand, der mich dazu veranlasste ihn aufzuhängen - dass ich mich im Vorbeigehen andauernd daran betrachten musste, entsprach dagegen einem inneren Zwang. Ich starrte in den Spiegel und begann mit dem Finger die Konturen meines Gesichts nachzuziehen. Meine Mutter würde sofort hysterisch aufspringen und mit Glasreiniger und Tuch zurückkehren, um die schrecklichen Abdrücke zu beseitigen, doch sie war nicht hier und würde es auch nie sein. Was ich sah, waren tiefbraune Augen und ein makelloses Gesicht, das einem Model gehören könnte, nur etwas müde wirkend. Du bist schön, der Traum eines jeden Mannes. Ich konnte mich dennoch zu keinem Lächeln durchringen. Ich stieg unter die Dusche und drehte die Brause auf. Heiße Wasserperlen überfluteten mich, ich schloss die Augen und fuhr mit der Zunge über die nahezu ausgetrockneten Lippen. Ich schmeckte salzige Tränen.
Wie in Trance zog ich nach Wochen wieder meine alte, verrostete Blechdose unter meinem Bett hervor. An den Rasierklingen, die sich in ihr befanden klebte noch geronnenes Blut. Mein Herz begann zu klopfen, als ich mit meinen Zeigefinger vorsichtig über die Klinge strich. In meinem Kopf formierten sich Buchstaben: Y – v – o – n – n – e. Eine Sekunde lang überlegte ich, was wäre wenn diese sechs Buchstaben meinen Unterarm zieren würden, doch ich ließ schnell davon ab. Dummes Mädchen. Stattdessen setzte ich die Klinge wie immer an, bewegte sie immer von oben nach unten, hin und her, hin und her – und ein bisschen tiefer. Mir fiel ein, dass ich vergessen hatte die Haut zu desinfizieren und wollte aufhören, doch es war zu spät. Das Blut trat durch die Wunde und tropfte auf die hellblau karierten Boxershorts, die ich soeben frisch angezogen hatte. Am ehesten kann ich es mit dem Orgasmus vergleichen: man arbeitet minutenlang auf etwas hin, reizt es wahrhaft bis aufs Blut und dann ist es plötzlich soweit: Ein Kribbeln durchfährt den Körper, man beginnt zu schwitzen, die Anspannung erreicht ihren absoluten Höhepunkt, man hält es kaum aus und dann löst sie sich binnen weniger Sekunden. Nun trat eine völlige Ruhe ein. Ich bildete mir ein, dass dieses Gefühl der Ruhe, das ich nach dem Ritzen empfinde eine Vorstufe des Gefühls der Ruhe ist, das man im Moment seines Todes empfinden muss. Klirrend ließ ich die blutverschmierte Klinge zu Boden fallen, rollte mich zusammen wie ein Embryo im Mutterleib und drückte meinen Unterarm in mein noch feuchtes Lieblingskissen, um die Blutung zu stoppen. Es dauert nicht lange und ich schlief ein: total erschöpft, aber von einer unheimlichen Last befreit.
Als ich gegen Nachmittag aufwachte und nach meinem Handy griff, stellte ich enttäuscht fest dass das Display keinen blinkenden Briefumschlag zeigte. Keine neuen Nachrichten, sie hatte mir nicht geschrieben. Warum sollte sie sich auch bei mir melden? Sie hatte mir lediglich in einer Notsituation geholfen. Ich sollte ihr dankbar sein, dass sie mich nicht hat in der Kälte stehen lassen und keine Erwartungen stellen, auf deren Erfüllung ich ewig warten könnte. Yvonne war ein Traum, der für mich nur in dieser einen Nacht greifbar gewesen war und ich hatte es vermasselt. Ich hatte überhaupt nicht das Recht mich zu beschweren. Ich hatte nur das Recht weiterzumachen….
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IloveYvonne. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.