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Zu spät

von cybersappho


Zu spät

Der Zug hält erst wieder in Münster, dazwischen liegen so vieleErinnerungen, dass mir der Kopf schwirrt. Ich atme ein bisschen schwer vomTreppensteigen, die Beine wollen nicht mehr so wie früher.
So ist das in meinem Alter. Gesundheit wird zum höchsten Gut erhoben. Glückist allein schon, dass man noch am Leben ist und von der Rente die Mietebezahlen kann. Jetzt sitze ich hier im ICE und das Herz klopft mir bis zumHals und ich ahne: Mit meinem Blutdruck hat das nicht das geringste zu tun.
Dafür mit Elsa. „Soll ich dir mal zeigen, wie mein Computer funktioniert?Ich kann dir eine Mailadresse einrichten, dann können wir in Kontaktbleiben, während ich in Neuseeland bin.“ MeinAch-Kind-das-ist-nichts-me hr-für-mich fegte meine Enkelin resolut vom Tisch.Elsa war geduldig mit mir, aber für mich war das alles so neu, dass es mirschnell zu viel wurde.
Manchmal stelle ich mir vor, wie das wäre, in der heutigen Zeit jung zusein. Früher war alles ganz klar und einfach: Ich bin Lehrerin geworden. Ichhabe geheiratet. Ich habe zwei Kinder bekommen. Es schien einfach keineanderen Möglichkeiten zu geben. Heute gibt es Unmengen davon und dieMenschen werden nicht glücklicher, im Gegenteil. Das ist tröstlich. In ElsasAlter hatte ich vermutlich noch nicht halb so viele Gelegenheiten verpasstwie sie.
„Vielleicht gibt es ja jemanden aus deiner Jugend, den du wiederfindenmöchtest? Ich könnte dir dabei helfen.“ Elsa wollte mir die neuen Medienweiter schmackhaft machen.
„Habe ich dir eigentlich jemals von Margot erzählt?“ fragte ich, obwohl ichdie Antwort kannte. Erwartungsgemäß schüttelte Elsa den Kopf, ließ michreden und fragte nur gelegentlich nach. Das waren ganz andere Zeitengewesen, heute gehen solche Geschichten meistens anders aus, zum Glück.
„Und dann hast du Opa geheiratet? Das war sicher ein Schock für Margot.“
„Ich würde sie schon gern nochmal wiedersehen. Wenn sie mich sehen will.Meinst du, du könntest sie finden, übers Internet?“ Wie oft hatte ichdarüber nachgedacht, sie zu suchen.
„Nun, es wäre möglich, dass auch sie geheiratet hat oder dass sie gar nichtmehr...“ Elsa unterbrach sich. „Irgendeinen Weg wird es schon geben, sie zufinden.“ befand mein Enkelkind, das im Land der unbegrenzten technischenMöglichkeiten aufgewachsen war.
Regen verschleiert die Fensterscheiben. Hinter mir Kindergeschrei. Ein Kindhat sein Fläschchen verloren. Stimmen schwirren. „Münster Hauptbahnhof -hierMünster Hauptbahnhof. Ihre nächsten Reisemöglichkeiten...“ Wehmütig blickeich auf den Bahnsteig, der heute so ganz anders aussieht mit seinen buntenWerbetafeln. Mein inneres Auge verwandelt die Bilder mühelos in einenSchwarzweißfilm mit mir als Hauptfigur. Darin trage ich Millefleurskleid undStrickjacke sowie zwei schwere Koffer. Mein Ziel ist das katholischeStudentinnenwohnhei m an der Frauenstraße. Am Abend begegne ich zum erstenMal meiner Zimmernachbarin.
Unsere erste Nacht verbringen wir natürlich erst später miteinander.Dazwischen liegen harmonische, weichgezeichnete Tage. Wir bereiten unsgemeinsam auf Klausuren vor. Margot tupft mir kichernd Puder ins Gesicht.Ein paar junge Männer, die uns zum Tanzen abholen und stets zur rechten Zeitwieder nach Hause bringen.
„Personalwechsel. Die Fahrkarten bitte.“ rattert der Schaffner herunter, alswär’s das tausendste Mal heute. Widerwillig schiebe ich die Tagträumebeiseite und krame in meiner Handtasche. Der Bahnangestelle bedankt sichhöflich und sagt weiter sein Sprüchlein auf.
Auf einmal möchte ich aussteigen und umkehren. Was tue ich hier eigentlich?Kurz vor ihrer Abreise nach Neuseeland hat mir Elsa einen Computerausdrucküberreicht. „Sie gibt ein Konzert. Nächste Woche in der Friedenskirche inKöln. Das ist doch die Gelegenheit.“
Weil mein Herz sowieso gerade vor Freude einen Satz machte, als ich sah,dass sie noch ihren Mädchennamen trug, gab ich ihr recht. Noch am selbenAbend reservierte ich telefonisch eine Karte für das Chorkonzert underkundigte mich nach einem Hotelzimmer in der Nähe. Ich kaufte mir ein neuesKostüm und einen dazu passenden Seidenschal. Die Tage bis zur Abreise kamenmir wie Jahre vor. Zeit zu verlieren habe ich langsam wirklich nicht mehr,sagte ich mir.
Die mittlerweile schon vertraute Lautsprecherstimme verkündet, dass wir inwenigen Minuten Köln Hauptbahnhof erreichen. Ich nehme ein Taxi zum Hotelund lasse mir dort den Weg zur Kirche erklären.
Zum Glück liegen überall Programmhefte herum, hinter denen ich lesend Schutzsuchen kann. „Verführung zu Brahms heißt das neue Programm des BonnerKlassikchors Kantate. Lassen Sie sich mitreißen von beschwingtenWalzerklängen und den Vier ernsten Gesängen.“ Das reimt sich ja, denke ichbelustigt. Es sind bestimmt dreißig, vierzig Sänger, trotzdem erkenne ichsie auf Anhieb. Die dunklen Locken sind ergraut, über den Rand einerLesebrille schaut sie konzentriert auf ihr Notenblatt. Vielleicht, denkeich, als ich mich während der Pause aus der Kirche schleiche, vielleichtfährt ja noch ein Nachtzug.



copyright © by cybersappho. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.



Kommentare


schön!
toller erzählstil!
gefällt mir gut!
Liebhaberstueck82 - 09.03.2005 07:26
Begeistert
KassandraMuc - 21.09.2004 14:34
Gänshaut
lostsunrose - 16.09.2004 23:13
super!
chaos23 - 13.09.2004 15:06

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