von rosaliechen
Zu späte Erkenntnis
Jetzt, da ich hier in Scherben liege und sehe, wie du dich ganz langsam Schritt für Schritt immer weiter von mir entfernst, ohne dich nur ein einziges Mal umzudrehen, ja jetzt erst wird mir klar, dass ich die ganze Zeit nicht mehr für dich war, als ein willkommener Zeitvertreib.
Du bist damals über mich gestolpert, hast mich dann ganz behutsam aufgehoben und mit deinem Ärmel den Staub von meiner Oberfläche gewischt. Seit langem drang nun zum ersten Mal wieder das Sonnenlicht bis zu meinem Innersten und anstatt kalter Dunkelheit, die mich davor erfüllte, spiegelte sich ein Teil der Welt in mir wider und den größten Teil davon nahmst du ein. Ganz fest, aber dennoch ungewohnt sanft umschlossen mich deine Hände und wärmten mich auf eine Art, die ich noch nie zuvor erfahren hatte. Ich wünschte du hättest mich ewig so gehalten.
Doch plötzlich, ohne jegliche Warnung, hast du mich in die Luft geworfen, nicht sehr hoch, aber dennoch durchfuhr mich ein Gefühl von Angst, doch du hast mich sicher wieder aufgefangen. Von diesem Augenblick an warfst du mich unzählige Male in die Luft, jedes Mal ein bisschen höher. Ich gewöhnte mich daran, ja es gefiel mir sogar, denn ich wusste, dass ich am Ende wieder sicher in deinen Händen landen würde. Dann schienst du all deine Kraft zu nehmen, um mich besonders hoch zu werfen. Es kam mir so vor, als würde ich ewig fliegen. Ich genoss dieses unbeschreibliche Gefühl von Freiheit. Noch nie war ich dem Himmel so nah.
Als ich den höchsten Punkt meines Fluges erreicht hatte, durchfuhr mich plötzlich wieder dieser kalte Schauer der Angst. Nein, es war eigentlich nicht die Angst, die dieses Gefühl in mir auslöste, es war vielmehr die Erkenntnis, dass ich mich völlig jemand anderem ausgeliefert hatte. Ich hatte keine Kontrolle mehr über mich. Ich hatte mich dir anvertraut und war dir nun schutzlos ausgeliefert.
Ich bemerkte, wie die Sonne unterging. Es wurde kühl. Kein einziges Mal hatte ich mich so sehr nach deinen wärmenden Händen gesehnt wie zu diesem Zeitpunkt, doch mit Erschrecken musste ich mit ansehen, wie du deine Hände, die mich doch sonst immer so sicher auffingen, in deinen Manteltaschen vergrubst. Es folgten quälende Sekunden, in denen ich den Boden näher und näher kommen sah, immer hoffend, dass deine Hände mich im letzten Moment fangen würden. Vergebens. Klirrend schlug ich auf dem harten Asphalt auf und zerbrach vor deinen Füßen. Einen kurzen Augenblick hast du regungslos dagestanden, um dann mit einem Schritt über meinen Scherbenhaufen zu steigen und mich allein zurückzulassen.
Noch immer spiegelst du dich in jeder einzelnen Scherbe wider. Ach, wenn sich doch bloß schon der Schmutz des Alltags über mich gelegt hätte.
copyright © by
rosaliechen. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.