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Stories » Detail

mir fremd sein

von maweka


Ich kann mich noch genau erinnern, wie deine Schuhe unter den Kleiderhaken, auf dem deine Windjacke hing, standen, wie dein Paar Handschuhe einsam aus einer Jackentasche lugten, wie dein Geruch aus deinem Kleiderschrank wich, als ich dessen Tür öffnete, um deine gewaschenen Klamotten dort zu verstauen. Du warst seit einigen Tagen nicht mehr aufgetaucht, nichts besonderes für dich, aber normalerweise hast du immer einen kleinen Zettel hinterlassen, auf dem eine Nummer stand, bei der ich dich erreichen konnte. Ich wusste auch immer, dass es dir gut geht, aber dieses Mal war dein Verschwinden untypisch, sehr untypisch. Als ich nach Hause kam, war dein Bett nicht gemacht, deine schmutzige Wäsche lag noch im Wäschekorb, dein Büro war unaufgeräumt, eine nicht ganz leere Kaffeetasse stand noch auf dem fast vollständig gedecktem Küchentisch. Eigentlich hätte ich schon in diesem Moment bemerken sollen, dass etwas nicht stimmt, jedoch nahm ich es als plötzlichen Aufbruch hin. Manchmal, hast du gesagt, packt es dich eben und du musst weg, hier und jetzt, ohne zu überlegen. Wie es dazu komme, dass trotzdem alles aufgeräumt sein, wenn ich nach Hause käme, fragte ich daraufhin. Weil ich eben ein sehr ordentlicher Mensch bin und ungern Chaos hinterlasse. Genau das hast du geantwortet, sehr ordentlich... In der Tat, so intensiv du auch gearbeitet hast, bei dir ist nie so eine Unordnung ausgebrochen wie bei mir. Das habe ich auch immer an dir bewundert, so unfassbar die Situation auch war, du bist immer diejenige gewesen, die wusste, was zu sagen war, die wusste, wie zu handeln war. Manchmal hast du mir gesagt, du nehmest mir die Möglichkeit eigene Fehler zu machen und daraus zu lernen, aber ich habe es immer sehr geschätzt vor Katastrophen gerettet zu werden. Ein Leben ohne dich konnte ich mir am Tag deines Verschwindens gar nicht vorstellen, es schien mir unmöglich. Allein was es bedeutete ohne deinen Sinn für Harmonie zu sein, ohne deine ruhige aber durchdringende Präsenz in dieser Wohnung zu sitzen, selbst wenn du gelesen hast, also vollkommen still und vertieft warst, habe ich schon beim Aufschließen der Tür gewusst, dass du da warst. Wie soll ich das beschreiben, es war einfach schön. Letztendlich war es aber nicht mal dieses Gefühl, was mir dein Fehlen wirklich schwer zu schaffen gemacht hat, es waren kleinere Dinge, wie das einsame Aufwachen, die leere Wohnung, deine langsam verstaubenden Kosmetika, deine verwaisten Stifte auf dem Schreibtisch. Ich merkte, dass ein Leben aus der Wohnung wich, dass viele Objekte nur deinetwegen hier waren, nur in dir ihre Bestimmung fanden, ihre richtige Verwendung, ich habe mich ungeschickt gefühlt, als ich versucht habe mit ihnen umzugehen, wie du mit ihnen umgingst. Wenn ich abends heim kam, hat mich deine Präsenz nicht mehr empfangen, aus der Wohnung wich die wärme, die Wände verstummten, kein leises Schnaufen mehr neben mir, wenn ich einschlief, nur noch das surren der Klimaanlage des Nachbarn, deren Ausknopf er scheinbar nicht mehr fand und das laute Rumpeln der wöchentlichen Müllabfuhr. Nach einer Woche wurde mir bewusst, dass ich dich vielleicht vermisst melden sollte, da du noch nie so lang ohne Nachricht verschunden warst. Ich ging also zum Revier, der nette Herr nahm meine Anzeige auf, wenn auch ein wenig murrend und auch nicht unbedingt freundlich, als er merkte, dass ich meine weibliche Partnerin vermisse. Er sagte die ganze Zeit Mitbewohnerin und nicht Partnerin, aber was soll’s, im Protokoll stand es richtig. Ihre Mitbewohnerin ist also verschwunden, sagte er, haben sie schon mit ihrer Familie Kontakt aufgenommen, vielleicht ist sie dort. Nein, ich hatte keinen Kontakt mir deiner Familie aufgenommen, wie auch, schließlich lebte diese schon lang im Ausland und war schier unerreichbar. Das werden wir dann wohl für sie tun. Wir werden versuchen sie auf dem laufenden zu halten, er ließ mich unterschreiben und setze auch noch seine persönliche Unterschrift unter die Vermisstenanzeige. Ich verließ das Polizeipräsidium mit einem stechen im Magen. In den nächsten Tagen hatte ich frei, ich räumte also deine persönlichen Gegenstände zusammen und legte sie alle zusammen in dein Zimmer, diese verschloss ich und deponierte den Schlüssel im Schuhschrank. Deine Abwesenheit ging mir an die Nieren, auch wenn ich die erste Woche nicht gemerkt hatte, aber jetzt war da dieses Loch, diese Einsamkeit, die mich umhüllte und von mir Besitz ergriff. Am liebsten hätte ich meine Koffer gepackt und wäre ganz weit weg in den Urlaub geflogen, aber das war nicht drin. Ich schleppte mich also nach meinen freien Tagen jeden Tag auf die Arbeit, brachte schlaflose Nächte mit Unmengen von Baldrian forte hinter mich. Mein Magen rebellierte, es war so schlimm, dass ich fast nichts mehr aß, sondern nur noch trank und das reichte eindeutig nicht. Wenn ich nachts nicht schlafen konnte, schrieb ich dir Briefe oder telefonierte mit Freunden, manches Mal lief ich auch einfach mitten in der Nacht durch das Viertel und ging zu Nachbarn, die bekanntermaßen bis früh in den morgen wach waren. Einer dieser Nachbarn hatte mich vor langer Zeit auf einen Kaffee eingeladen und da ich wusste dass er Frühschicht arbeitete und auf Arbeit ging, wenn ich nicht schlafen konnte, lud ich ihn einfach kurzerhand zu mir auf ein Frühstück für ihn und ein Nachtmahl für mich ein.
Es war ein schöner Samstag morgen, die Sonne stieg gemächlich in den Himmel und die Vögel machten soviel Krach, dass ich meinen Gast bei offnem Fenster kaum verstand. Er fragte mich, wo du seiest. Ich kann es Ihnen leider nicht sagen, ich weiss genauso viel wie Sie, na ja, ich kenne das Datum ihres Verschwindens, aber sonst bin ich ebenso ahnungslos wie Sie, Herr Nachbar. Ich erzählte ihm von dem Besuch bei der Polizei und deinem plötzlichen Verschwinden. Er schaute ein wenig beunruhigt, wünschte mir alles gute und verabschiedete sich von mir. Solche Morgen sollte es jetzt öfter geben. Ich kam von meiner Trauer nicht los. Ich war mittlerweile überzeugt davon, dass du irgendwo ermordet im Sumpf liegst. Die Polizei meldete sich nicht, du hast kein Lebenszeichen von dir gegeben und ich versank immer weiter in meinem eigenen Leid. Selbstmitleid trieb mich tagelang durch die Wohnung von einem Heulkrampf zum nächsten und ich wusste bei Gott nicht, wie ich die Zeit ohne dich aushalten sollte. Ich suchte mir Beschäftigung, vom Briefschreiben sah ich mittlerweile wieder ab, weil ich es satt hatte mich jede Nacht mit deinem verschwinden zu beschäftigen und immer wieder zum selben Resultat zu gelangen: einem Glas Wodka und einer Schlaftablette. Mein Nachbar gab mir die Adresse einer Psychologin, zu der ich seiner Meinung mal gehen sollte. Aber ich habe es nie getan, ich bin nie die Strasse runtergelaufen, die Treppe in Nummer 15 zwei Etagen hochgestiegen und habe geklingelt, nie... Ich bin in mir selbst ertrunken.
Und jetzt liege ich hier, nach einem Glas Wodka und einer Schlaftablette zu viel, nach einem Tag zuviel ohne dich... Ich bin liebeskrank, sage ich der Ärztin immer wieder. Sie schaut mich an, schüttelt den Kopf und notiert sich irgendwas auf ihrem kleinen Block mit ihrem roten Kugelschreiber. Liebeskrank... kennst du das? An Liebe zu erkranken ist manchmal tödlich und an meiner Liebe zu dir zu erkranken endet in weißen Räumen mit strengen Essenszeiten, Tabletten tagein tagaus, mit grellem Licht, dummen Fragen und in der Einsamkeit. Ich bin in einem Einzelzimmer, ich darf nicht lesen, ich könnte es sowieso nicht ohne Brille, ich sehe vieles verschwommen und schlafe viel. Ich werde verfolgt von Albträumen, aber danach fragt mich hier niemand. Es ist dunkel, mir folgt ein Mensch und aufeinmal liege ich auf kaltem Kies, spüre ein Knie in meinem Kreuz und ein unglaubliches Gewicht auf meinem Brustkorb. Einmal in der Woche steht etwas auf dem Tisch neben dem Fenster, ich erkenne immer nur einen wilden Farbenmix aus rot und gelb, manchmal ist auch weiss und blau dabei, aber ich erkenne nicht, was es ist. Wenn die Schwester hereinkommt, sagt sie immer, mir habe wieder jemand einen Blumenstrauß mitgebracht. Ich habe das Gefühl, ich verschlafe meinen Besuch jedes Mal, aber es macht sich scheinbar auch niemand die Mühe mich zu wecken.
Ich habe mein Zeitgefühl verloren, ich werde geweckt, wenn die Ärztin kommt, wenn die Schwester kommt, um mich zum Waschraum zu begleiten und wenn ich Tabletten schlucken soll. Essen? Ich weiss nicht, vielleicht verschlafe ich auch davon die Hälfte. Ich merke nur, dass ich abnehme. Irgendwie nehme ich ab, auch wenn nahezu meine einzige körperlich Betätigung der Gang zum WC und der zum Waschraum ist. Meine Fettpölsterchen schmelzen, mein Hirnschmalz dem Gesicht der Ärztin nach zu urteilen auch. Ich weiss nicht welcher Tag heute ist, Doktor, ich weiss auch nicht welcher Monat und welches Jahr ist. Tag oder Nacht? Sie fragen mich Dinge. Es dämmert, also ist es entweder früh am Morgen oder spät abends. Welche Jahreszeit? Am letzten Tag zu hause war es recht warm, ich denke, es war Sommer. Was ich fühle? Nichts. Ich bin nur müde und mein Hirn liegt lahm, vielleicht liegt es an ihren Pillen. Dann schreibt sie wieder etwas auf, vermutlich in der Richtung Patientin ungewillt mit Außenwelt zu kommunizieren.
Als ich das letzte Mal in den Spiegel geschaut habe, habe ich eine fremde Frau gesehen, tiefliegende Augen, heruntergezogene Mundwinkel, eingefallene Wangen, spitze Nase, blass, zerzauste, stumpfe Haare. Ich hatte das Verlangen auf diese Frau einzuschlagen, das Spiegelbild zu zertrümmern, denn das war ich nicht, ich bin nicht so: meine Augen strahlen und beobachten aufmerksam die Umwelt, ich lache gern, meine Wangen haben immer eine gesunde Farbe und sind ein bisschen rundlich, meine Nase fügt sich in das ganze meines Gesichtes, mein Teint ist immer ein wenig heller als der Durchschnitt, allerdings nicht kränklich hell, und meine Haare sind schön gepflegt. Das, was mich da anblickte, das war ich nicht, das war eine kranke Frau, die verlassen und einsam war. Und leider bin ich genau das, einsam und verlassen. Ich schlug mit voller Wucht auf den Spiegel ein, zerstörte mein fremdes Ich, sah das Blut meiner Hand den Arm heruntersickern und gab ein schreckliches Lachen von mir. Ich erschrak, so hässlich war es. Es klang richtig verrückt. Ich griff in die Scherben warf sie um mich herum, sah wie mein Spiegelbild in Fetzen an mir vorbeiflog, wie die Splitter das Licht wild reflektierten und einen Farbenzauber aus dem sterilen Waschraum machen. Ich schnitt mir die Handinnenseiten mit den Scherben auf, merkte es aber nicht. Ich schrie, rutschte auf meinem eigenen Blut aus und landete auf meinem Gesäß mitten in den Scherben. Ich begann leise zu wimmern, denn aus jedem Winkel blickte mich diese verrückte, verlebte Frau an, die ich nicht sein wollte, aber doch bin. Ich rutschte mit meinem Hintern bis an die gekachelte wand, kauerte mich in eine Ecke und schaute mich ängstlich um. Die Ärztin kam mit zwei männlichen Helfern angerannt, die mich unsanft hochhievten und wieder in mein Zimmer brachten. Dort wurde ich verarztet, das jedoch von einer Person, die ich noch nie gesehen hatte.
Sie können froh sein, dass wir nichts nähen müssen. Ich antwortete nicht, sondern starrte nur abwesend an die Decke. Man gab mir noch eine Spritze und verschwand, dann kam meine Ärztin. Ich wurde schläfrig, vermutlich lag das an der Spritze. Die Ärztin schaute mich an, nickte stumm und schrieb sich wieder irgendetwas auf. Hatten Sie das Gefühl nicht die Frau im Spiegel zu sein? Ich wackelte mit dem Kopf so gut ich konnte. War sie Ihnen fremd? Ich nickte. Was haben sie gedacht, als Sie sie gesehen haben? Ich hasse sie, wer kann sich nur so herunterkommen lassen, antwortete ich.
Heute ist die Ärztin wieder da gewesen. Sie hat gesagt, die Polizei habe dich gefunden, du seiest wohl auf und ich solle mir keine Sorgen machen. Wer bringt mir immer die Blumen? Oh, ein netter Herr, ihr Nachbar, er hat auch den Notruf benachrichtigt, als sie die Tür nicht mehr aufgemacht haben, obwohl sie offensichtlich zu hause waren. Er hat uns berichtet, ihre Lebensgefährtin sei verschunden und Ihnen ginge es seitdem nicht gut, Sie seien tablettenabhängig, äßen nicht genug, fänden keinen Schlaf, lebten in lethargischer Abwesenheit und warteten auf ein Zeichen ihrer Freundin. Er hat gesagt, Sie nähmen sein Hilfeangebot nicht an, obwohl Sie wirklich Hilfe benötigen würden. Nachdem das Krankenhaus das Nötigste erledigt hatte, wurden sie auf die psychiatrische Station verwiesen. Von all dem haben Sie vermutlich nichts mitbekommen, hätten Sie, wäre ein Ausbruch, wie der, als Sie sich im Spiegel gesehen haben, viel früher passiert.
Wir haben Sie ruhig gestellt und da Sie offenbar nicht mit mir reden wollten, haben wir gewartet. Wann kommt meine Freundin hier vorbei? Wenn Sie mit mir geredet haben, sie wartet draußen. Was wollen Sie hören? Nein, das sollten Sie mich nicht fragen. Ich sollte Sie vielmehr fragen: Was wollen Sie mir erzählen. Ich habe also alles erzählt, woran ich mich erinnern kann. Sie hat sich die ganze Zeit irgendwas notiert, hat aber ihre Augen nie von mir gelassen. Als sie dann gegangen ist, hat die den Vorhang zu einem Fenster geöffnet, dass auf den Flur geht.
Und da stehst du jetzt, du darfst nicht zu mir, ich darf nicht zu dir, wir können uns nur stumm beobachten und abwarten, bis eine Schwester den Vorhang wieder zuzieht.



copyright © by maweka. Die Autorin gab mit der Veröffentlichung auf lesarion kund, dass dieses Werk Ihre eigene Kreation ist.



Kommentare


wow
san19 - 22.07.2005 13:50
Ich bin..
Magicmaus - 02.07.2005 10:28
Wie krass!!!
Ich bin überwältigt, mit welcher Genauigkeit du Tatsachen, Gefühle, Situationen beschreibst und wie detailhaft du erzählen kannst. Gleichzeitig läuft mir ein riesiger Schauer über den Rücken. Die Geschichte ist irgendwie erschreckend - erschreckend wahr wahrscheinlich. Und ich muss sagen, ich danke dir, dass du die Welt daran teilhaben lässt, um vielleicht selbst besser klar zu kommen...
Auf jeden Fall alles Gute!!!
Ecstasy - 29.06.2005 17:48

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